Читать книгу Richtung Süden - AnSo Fröhlich - Страница 9
Abgefahren
ОглавлениеFast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden.
Ihm war, als würde mit dem Zug auch sein bisheriges Leben in der Dunkelheit verschwinden. „Pass auf dich auf, Vater!“, hatte Martin noch aus dem Zugfenster heraus zu ihm gesagt und ihn besorgt angesehen.
Er zog an seiner Zigarette. Ilona hatte es nicht gemocht, wenn er rauchte, aber er war nie ganz davon losgekommen. Noch vor einer Woche hatte sie missbilligend die Nase gerümpft, wenn er nach einer Runde im Park wieder in ihr Krankenhauszimmer kam und nach Rauch roch. Dann war sie gestorben.
Er vermisste sie. Fast 30 Jahre waren sie verheiratet gewesen, und auch wenn sie, seit Martin ausgezogen war, ziemlich sprachlos nebeneinander her gelebt hatten, war sie doch immer da gewesen. Verlässlich, beruhigend, selbstverständlich.
Es kam ihm vor, als wäre seitdem eine Ewigkeit vergangen. Als hätten all die Menschen heute auf der Beerdigung, die Freunde, Nachbarn und Verwandten, von einer fremden Frau gesprochen.
Eigentlich hatte er Martin das Foto zeigen und mit ihm darüber sprechen wollen. Aber die Gelegenheit ergab sich nicht. Martin war erst morgens angekommen, und dann hatten alle ständig gefragt, wie es seinem gerade geborenen Sohn und seiner Frau ginge. Wie schade, dass Ilona nicht mehr erlebt hat, wie ihr erster Enkel zur Welt kam! Er hatte das Bild in der Tasche gelassen.
Er hatte seine Frau geliebt. Hatte sie jung kennengelernt, sie hatten schnell geheiratet, sofort ein Kind bekommen. Er hatte gearbeitet, war auch viel unterwegs gewesen, sie hatte Martin und den Haushalt versorgt.
Wieder nahm er einen tiefen Zug.
Als Ilona letzten Donnerstag gestorben war, fühlte er sich plötzlich verloren so allein in der Wohnung. Er ging von einem Zimmer ins andere, guckte in Schränke und Schubladen, zog Bücher aus dem Regal und Jacken aus dem Schrank, nur um sie gleich wieder zurück zu räumen. Manche Winkel im Haushalt kannte er gar nicht, das war immer ihr Reich gewesen.
In einer Schublade fand er alte Postkarten und Fotos. Es waren Karten an Ilona von vor seiner Zeit. Die Bilder waren auch alt, Ilona mochte so um die zwanzig sein, das musste gewesen sein, kurz bevor er sie kennenlernte. Er sah sie gleichgültig durch.
Bis zu diesem einen Bild: eine strahlende Ilona im geblümten Sommerkleid, an ihrer Seite ein fescher junger Mann, der den Arm um sie gelegt hatte und gerade in die Kamera lachte. Er wusste nicht, wer der Mann war – aber er sah ganz genau so aus wie Martin heute. Nicht nur ähnlich, sondern wie reingeschnitten. Als wäre es eine Sinnestäuschung.
Seine Schwester und sein bester Freund hatten gelegentlich gewitzelt, weil Martin ihm so gar nicht ähnlich sah. Ilona hatte nie etwas dazu gesagt, und er selbst hatte sich nichts daraus gemacht. Hier und da hatte er sich in Martins Ernsthaftigkeit oder seiner Lust am Tüfteln wiedererkannt. Nie hatte er auch nur den geringsten Zweifel gehabt.
Ein letzter Zug, die Glut erreichte jetzt fast seine Finger. Was hätte er getan, wenn Ilona nicht tot wäre? Sie zur Rede gestellt, sie mit dem Bild konfrontiert. Und dann?
So oder so hatte er seine Familie verloren. Seine Frau, die ihn all die Jahre belogen, betrogen oder hintergangen hatte. Er wusste noch nicht einmal, wie er es überhaupt nennen sollte. Seine Frau, die obendrein tot war.
Und Martin. Da fuhr er in die Nacht, fort aus der Stadt, aus seinem Leben. Er hatte keinen Sohn mehr – und das kam überraschend, während Ilonas Tod ja absehbar gewesen war. Nein, er war nicht Großvater geworden, denn er war nie Vater gewesen.
„Du musst uns unbedingt bald besuchen und deinen Enkel kennenlernen, Vater“, hatte Martin zum Schluss seine Einladung wiederholt und ihn umarmt. „Bitte versuch, bald zu kommen.“
Er hatte nicht geantwortet. Wie konnte er? Es war alles Lüge. Er hatte keinen Enkel, er hatte keinen Sohn.
Er trat seine Zigarette aus. Die Lichter des Zugs waren nicht mehr zu sehen.