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Filmriss

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Gleichmäßig tropfte die blasse Flüssigkeit in den Schlauch, der zum Bett führte und schließlich, verborgen unter einem Pflaster, mit einer Nadel in Sarahs sommerlich gebräunten Arm endete. Rena streichelte ihrer Kollegin sanft die Hand, die auf der weißen Bettdecke zart und zerbrechlich aussah. Es roch nach Desinfektionsmittel.

Langsam schien wieder etwas Leben in den schmalen Körper zurückzukehren, Sarah stöhnte leise und verzog das Gesicht. Dann öffnete sie ein von verschmiertem Kajal umgebenes Auge, strich sich mit der freien Hand die wirren Haare aus der Stirn und stöhnte erneut. „Da bist du ja wieder“, lächelte Rena, „herzlich willkommen.“

Sarah blinzelte jetzt mit beiden Augen, blickte ratlos auf die Krankenhauswand, die Kanüle, die Kollegin und nuschelte etwas Undeutliches mit „wo … warum … wie?“

„Naja, ich wusste, dass du dich gestern mit deinem Ex treffen wolltest und dass dir das ein bisschen bevorstand. Als du heute Morgen nicht zur Arbeit erschienen bist, machte ich mir Sorgen, und weil du nicht ans Telefon und auch nicht ans Handy gingst, fing ich an Krankenhäuser anzurufen.“ Rena grinste. „Und da wurde ich schnell fündig. Jetzt erzähl mal, was eigentlich passiert ist.“

Oh Gott, das Treffen mit Marc. Sarah sah sich suchend um, entdeckte die dafür vorgesehene Schüssel und erbrach sich. „Entschuldige“, sagte sie mit leichtem Erröten. Sie konnte sich an das Wiedersehen erinnern. Zum ersten Mal seit 15 Jahren war sie ihrem einstigen Freund begegnet, dem Mann, den sie Jahre lang im Gespräch mit guten Freunden nur „Marc den Schrecklichen“ genannt hatte. Der sie entjungfert hatte, der ihr mit seiner Eifersucht das Leben schwer gemacht und gedroht hatte sich umzubringen, sollte sie ihn verlassen. Der ihr Männerbild auf Jahre geprägt und ihr die Lust auf Beziehungen gründlich verdorben hatte.

Gestern also hatte sie ihn in einem Hotel in Altona abgeholt, sie waren essen gegangen und dann in eine Bar, wo sie sich an großen Gläsern mit Cuba libre festgehalten hatte. Offenbar an zu vielen Gläsern, denn vom Rest des Abends wusste sie nichts mehr.

„Die Krankenschwester sagt, dass du an der Ampel einfach vom Fahrrad auf den Boden gerutscht bist. Der Autofahrer hinter dir hat den Notdienst gerufen, und hier haben sie dir dann erst mal den Magen ausgepumpt.“ Rena sah jetzt besorgt aus. „Das ist ja normalerweise nicht so deine Art. Ist was Schlimmes passiert? Hast du Sorgen? Ich dachte eigentlich, in deinem Leben laufe alles ganz gut.“

Sarah schloss die Augen. Sie sah Marc vor sich, den 39-jährigen, etwas dicklichen Marc von gestern Abend, der sie zur Begrüßung umarmt und sofort erklärt hatte, sie habe sich überhaupt nicht verändert. Eigentlich hätte sie das Treffen schon da beenden können. Natürlich hatte sie sich verändert, und wie. Zum Beispiel konnte sie inzwischen Nein sagen. Sie wusste meistens, was sie wollte, und versuchte sich auch entsprechend zu verhalten. Sie ließ sich von niemandem mehr so kontrollieren wie von ihm einst – und sie war glücklich, sie hatte sich mit Mitte 30 zum ersten Mal richtig verliebt.

Im Laufe des Abends hatte er viel erzählt und sie viel zugehört. Sie versuchte, ihn unvoreingenommen zu betrachten, wie einen Fremden. Er war nett, keine Frage, eloquent und auch aufmerksam. Attraktiv fand sie ihn nicht, er war einfach überhaupt nicht ihr Typ.

„Du hast völlig Recht, an meinem Leben ist nichts wirklich schlecht.“ Sie wandte den Blick ab und zögerte einen Moment. Schließlich sah sie Rena wieder an und fügte leise hinzu: „Aber es ist auch nichts wirklich meins.“

Dann begann sie zu erzählen. Wie Marc damals unbedingt mit ihr zusammen sein wollte, wie er hunderte Kilometer fuhr, um sie zu sehen, nachdem sie sich bei einem Konzert in Köln kennengelernt hatten. Wie sie schließlich seinem Drängen nachgab, weil ihn ihre Ablehnung nicht scherte und er einfach nicht lockerließ. Mehr als zwei Jahre war sie seine Freundin.

Anfangs hoffte sie, ihre Eltern würden eingreifen. Ab und zu log sie Marc an und sagte, sie hätten ihr verboten, die Schulferien bei ihm zu verbringen. Dabei sagten sie nie etwas, sondern sahen mit Sorgenfalten auf der Stirn schweigend an ihrer Tochter vorbei.

„Aber deine Eltern haben es doch gut gemeint.“ Schon während sie ihn aussprach, merkte Rena, wie abgedroschen der Satz klang. Doch Sarah nickte und sagte lebhaft, „Ja, natürlich, das war auch völlig okay. Sie haben alles so gut gemacht, wie sie eben konnten.“ Sie stockte. „Alle haben alles so gut gemacht, wie sie konnten, meine Eltern, auch Marc. Auch ich.“ Ihre Stimme wurde immer leiser. „Niemand hat etwas falsch gemacht.“ Sie wandte sich ab.

Genau dieser Gedanke hatte sie gestern immer verzweifelter trinken lassen. Sie hatte damals mit aller Kraft Erwartungen erfüllt und dafür ihre eigenen Wünsche bewusst aufgegeben. Niemand hatte etwas gemerkt, ihre Eltern nicht und, dessen war sie sich jetzt sicher, Marc auch nicht. Sie hatte ihm erfolgreich die Freundin gespielt.

Rena war gegangen. Auf dem Nachttisch sah Sarah ihr Handy liegen, „neue Nachricht“, blinkte es auf dem Bildschirm. Sie nahm es in die Hand und las: „Das war ein schöner Abend mit dir, vielen Dank! Sollten wir unbedingt bald wiederholen. Hoffe, du bist noch gut nach Hause gekommen. Liebe Grüße, Marc.“ Sarah zog sich die Decke über den Kopf.

Richtung Süden

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