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6. Kapitel

Als es dunkel wurde und Scheinwerfer den Tanzplatz beleuchteten, hörte ich auf zu zeichnen und suchte nach meinem Vater. Dabei stellte ich mit Schrecken fest, dass sich auch Tante Charlene auf dem Powwow eingefunden hatte, und mit ihr mein Cousin. Marlin war nicht zu übersehen: Er trug weite Hosen, die ihm bis über die Knie reichten, und ein weißes XXL T-Shirt mit dem bunten Collegelogo. Seine fettigen Haare fielen ihm in Strähnen auf die Schulter. Kaum hatte Marlin mich entdeckt, verfolgte er mich mit seinem boshaften Blick wie ein Jäger seine Beute. Ich merkte sofort, dass er drauf aus war mich zu ärgern. Deshalb brachte ich schnell meine Zeichnungen in Sicherheit, damit er sie nicht zum Anlass nehmen konnte, sich über mich lustig zu machen. Noch war Tante Charlene an seiner Seite, aber dann traf sie eine Bekannte und ging mit ihr in Richtung Tacobude.

Marlin, der sich endlich unbeobachtet fühlte, bewegte sich auf mich zu und ich versuchte, ihm zu entkommen. Ich schlüpfte durch die Menschenmenge und versteckte mich zwischen den geparkten Autos, die den Platz einkreisten. Marlin war schnell und beweglich trotz seiner Leibesfülle. Er fand mich und zog so derb an meinem geflochtenen Zopf, dass ich aufschrie. Vor Schmerz schossen mir Tränen in die Augen und die blechernen Schellen an meinem Kleid schepperten wütend.

»Verschwinde, Marlin«, rief ich. »Verschwinde und lass mich in Ruhe.« Die Angst in meinem Nacken stach wie Nesseln.

Marlin grinste boshaft. »Darfst du denn überhaupt auf dem Powwow tanzen?«, fragte er hämisch. »Du bist doch eigentlich gar keine richtige Indianerin. Nur Indianer dürfen eine Wettkampfnummer tragen.« Er wies auf mein Kleid, an dem mit Sicherheitsnadeln die Wettkampfnummer befestigt war, die ich vor dem Tanz bekommen hatte. Es gab Wettkämpfe in verschiedenen Altersklassen und Kategorien, und durch die Nummern konnten die Juroren die Tänzer besser auseinander halten.

Ich spürte eine Bewegung hinter meinem Rücken und drehte mich um. Meine Wangen brannten vor Scham, als ich sah, dass Neil Thunderhawk in unserer Nähe gestanden und alles mit angehört hatte. »Ich bin eine richtige Indianerin«, sagte ich. Meine Stimme zitterte.

»Bist du nicht. Du bist ein Halbblut.« Er lachte. »Halbblut, Halbblut«, rief er, mit seiner blechernen Stimme, die der Stimmbruch ihm zurzeit bescherte.

Neil kam herüber und baute sich vor Marlin auf. Er war zwar nur halb so breit wie meine Cousin, aber genauso groß. »Lass sie in Ruhe«, sagte er, betont gelassen.

»Was mischst du dich ein, Blödmann?« Marlin kam in Fahrt. »Du bist auch nicht besser als die da. Du bist ein verdammter Red Cloud und alle Red Clouds sind Schmarotzer.«

Neil zuckte zusammen. Wut blitzte in seinen schwarzen Augen auf. Jetzt fangen sie an, sich zu prügeln, dachte ich, gleich hier, mitten auf dem Powwow-Gelände. Unglücklich rang ich die Hände.

»Sag das noch mal!« Neils Stimme klang jetzt sehr entschlossen und überhaupt nicht mehr gelassen. Das musste Marlin gemerkt haben, denn er sagte gar nichts. Ich wusste, dass er feige war, und dachte schon erleichtert, die Sache hätte sich erledigt.

»Feigling«, zischte Neil, drehte sich um und ging.

Aber kaum wiegte Marlin sich in Sicherheit, da sang er leise: »Blanket* Indians, Hang around the Forts**.«

Neil warf sich herum und mit einem wilden Aufschrei stürzte er sich auf Marlin. Sie rauften im Dreck zwischen den parkenden Autos und Neil teilte kräftig aus mit seinen harten Fäusten. Er schäumte vor Zorn und war auch durch mein Bitten nicht zu besänftigen – bis Tante Charlene und Dad dazukamen und die beiden trennten. Marlin heulte, was mir ungeheure Genugtuung verschaffte. Sein dickes hochrotes Gesicht war dreckverschmiert.

»Was war denn los?«, fragte mein Vater, als er Neil auf die Beine half. Neil gab keine Antwort. Er blutete aus der Nase und die Federn an seiner Tanzkleidung waren beschädigt, was ihn wahrscheinlich am meisten schmerzte. Aber er schwieg. Sein Blick war voller Verachtung.

Ich gab ihm ein Kleenex, und er nahm es, um sein Nasenbluten zu stillen.

»Das nächste Mal sorge ich dafür, dass du von den Tanzwettkämpfen ausgeschlossen wirst, Neil Thunderhawk«, zeterte Tante Charlene. Sie tastete ihren Sohn ab, ob er sich auch nichts gebrochen hatte. Aber Marlin hatte genügend Speck auf den Rippen, so schnell konnte ihm wohl nichts passieren. Bloß seine Shorts und das T-Shirt waren dreckig geworden.

»Geht euch aus dem Weg, wenn ihr euch nicht leiden könnt«, sagte mein Vater.

Neil wandte sich um und lief mit erhobenen Kopf davon. Ich eilte ihm hinterher. »Neil«, rief ich, »warte doch!« Aber er wartete nicht und drehte sich auch nicht um. Marlins Worte mussten ihn tief getroffen haben. Aber der Auslöser für die Prügelei war ich gewesen, und nun fühlte ich mich schuldig.

»Verschwinde und lass mich in Ruhe«, sagte er, als ich ihn schließlich eingeholt hatte.

»Aber warum denn? Ich könnte dir helfen, deine Kleidung in Ordnung zu bringen. Ich weiß, wie man zerzauste Federn wieder hinkriegt.«

»Das bringt nichts«, sagte er niedergeschlagen. »So kann ich nicht tanzen. Alle würden mich auslachen. Geh einfach weg, Tally, und lass mich in Ruhe!« Der schroffe Ton in seiner Stimme nahm mir den Mut.

»Du blutest immer noch«, wagte ich einen letzten Versuch.

»Na und. Ich werd schon nicht dran sterben.« Damit ließ er mich stehen.

Mir kamen die Tränen, und ich verfluchte Marlin, der dafür verantwortlich war, dass Neil Thunderhawk mir grollte. Bisher war das Gefühl, das ich für meinen Cousin hegte, eine Mischung aus Abneigung, Angst und Mitleid gewesen. Nun spürte ich in meinem Bauch einen Knoten aus Hass. Die Freude am Powwow war mir gründlich verdorben.

Ich trocknete meine Tränen und lief zurück zu meinem Vater. Marlin und Tante Charlene waren zum Glück nicht mehr bei ihm.

»Wo ist Neil?«, fragte er.

»Er wollte nicht mit mir reden.«

Dad nickte, als könne er das gut verstehen. »Hast du Hunger?«

»Hm«, antwortete ich.

Wir gingen zum Hotdog-Stand und Dad kaufte sich eine Pappschale mit frittierten Zwiebelringen. Ich bekam ein Hotdog und eine Cola. Wir setzten uns nebeneinander auf eine Bank an einen der Tische. »Was war denn nun der Grund für die Prügelei?«, fragte mein Vater kauend.

»Marlin hat mich mal wieder als Halbblut beschimpft«, antwortete ich. »Er hat gesagt, ich dürfe an den Wettkämpfen nicht teilnehmen, weil ich gar keine richtige Indianerin bin.«

Dad legte seinen Arm um meine Schulter und drückte mich an sich. »Du bist eine Lakota, Tally. Und lass dir von niemandem etwas anderes einreden. Du bist das, was dein Herz dir sagt. Ich bin so froh, dass deine Mutter es sich damals anders überlegt hat und dich bei mir gelassen hat. Du hättest mir sonst ein Leben lang gefehlt.«

Ich presste meine Nase an seine Schulter und versuchte die Tränen zurückzukämpfen, die mir erneut in die Augen traten.

»Hat Neil dich verteidigt?«, fragte Dad schließlich. »Haben sich die beiden deshalb geprügelt?«

»Ja«, sagte ich. »Er hat Marlin gesagt, dass er mich in Ruhe lassen soll. Aber das war es nicht, was ihn so aufgebracht hat. Marlin hat Sachen zu Neil gesagt, die ihn dann erst richtig wütend gemacht haben.«

»Was hat er denn gesagt?« Mein Vater hörte auf, seine Zwiebelringe zu knuspern, und sah mich an.

»Er hat zu Neil gesagt, alle Red Clouds wären Schmarotzer. Blanket Indians und Hang around the Forts.«

»Übel«, sagte Dad, schloss die Augen und blies nachdenklich Luft durch die Zähne. Dann aß er weiter.

»Aber Neil heißt doch Thunderhawk und nicht Red Cloud«, sagte ich und stibitzte einen von seinen Zwiebelringen.

»Das stimmt. Aber seine Mutter Della ist eine geborene Red Cloud. Bevor sie in das rote Haus zogen, hat die Familie in Pine Ridge gewohnt.«

»Na und?« Jedes Kind im Reservat wusste, wer Häuptling Red Cloud war und dass er viele Nachfahren hatte. Auch an meiner Schule gab es einige. Red Cloud hatte sich den Häuptlingstitel als tapferer Krieger in vielen Schlachten erkämpft. Von einem Kriegszug gegen die Cheyenne soll er durchbohrt von einem Pfeil zurückgekehrt sein und die schwere Verletzung überlebt haben. Ich konnte mir nicht vorstellen, was es für einen Grund geben könnte, seinen Namen zu verunglimpfen.

»Das ist eine lange Geschichte«, sagte mein Vater und wischte sich mit einer Serviette das Fett von den Fingern.

»Ich will sie hören«, erklärte ich. Die Trommeln hatten wieder eingesetzt, und auf dem beleuchteten Tanzplatz sah ich die Grastänzer in ihren farbenprächtigen Tanzkleidern mit den langen bunten Wollfransen. Aber im Augenblick interessierte mich viel mehr, was Neil Thunderhawk so wütend gemacht hatte.

»Na gut«, sagte mein Vater. »Dann will ich sie dir erzählen. Aber lass uns dazu lieber nach Hause fahren, damit ich nicht auch noch eins auf die Nase kriege.« Ich sah ihn entgeistert an und er zwinkerte mir lächelnd zu.

Wir verließen den Powwow-Grund, stiegen in unseren Pick-up und machten uns auf den Weg nach Hause. Auf der Fahrt erzählte mir Dad von Häuptling Red Cloud, der ein gefürchteter Krieger gewesen war, aber einer, der den Krieg nicht liebte.

»Er wollte Frieden«, sagte er, »doch nicht ohne Gerechtigkeit für sein Volk. Deshalb machte sich im Juni 1866 eine Indianerdelegation unter Red Clouds Führung auf den Weg nach Fort Laramie, um mit den Weißen zu verhandeln. Aber noch während der Gespräche musste der Häuptling erkennen, dass die Verträge, die er unterzeichnen sollte, nichts wert waren, weil sie schon im selben Augenblick von den Weißen gebrochen wurden. Der Häuptling war sehr wütend darüber und drohte mit Vergeltung.

Er kämpfte erneut, fest entschlossen, die Eindringlinge auf unserem Land in die Schranken zu weisen. Aber auch wenn er einige bedeutende Siege errang, so merkte er doch bald, dass der Krieg sein Volk schwächte und die Weißen trotzdem immer mehr wurden. Deshalb kam er zwei Jahre später wieder nach Fort Laramie und diesmal unterzeichnete er den Friedensvertrag.«

Dad bremste, weil ein Tier über die Straße lief. Ein Kojote wahrscheinlich. Seine Augen leuchteten im Licht der Scheinwerfer.

»Manchmal werden Red Clouds Nachfahren deshalb heute noch als Treaty Signers beschimpft«, fuhr er fort und trat aufs Gaspedal. »Solltest du das irgendwo mal hören, dann weißt du, was es bedeutet.«

Ich nickte. All das hatte ich schon in der Schule gehört, aber nicht so, wie mein Vater es mir gerade erzählt hatte. Konnte es sein, dass unsere Geschichte für jeden im Reservat eine andere Wahrheit in sich barg? Dass die Einstellung jedes Einzelnen zur Vergangenheit unseres Volkes davon abhing, wessen Namen er trug?

»Schon bald musste Red Cloud feststellen«, sagte Dad, »dass die Verträge von den Weißen erneut gebrochen wurden. Resigniert gab er auf und willigte ein, mit seinem Volk nach Pine Ridge zu gehen, wo ihm eine eigene Agentur* zugeteilt wurde. Ein Großteil der Oglala-Lakota lebte von nun an ständig in der Nähe der Agentur, die übrigen kamen als Wintergäste, es waren die so genannten »Freien«. Sie bezeichneten Red Cloud als Verräter, aber ihnen blieb nichts anderes übrig, als im kalten Winter ebenfalls die Agentur aufzusuchen. Weiße Jäger hatten die riesigen Bisonherden systematisch abgeschlachtet, sodass sich unser Volk nicht mehr selbstständig ernähren konnte.«

So ist es heute noch, dachte ich.

»Es gab ständig Ärger im Reservat«, fuhr mein Vater fort. »Auf der einen Seite mit dem weißen Indianerbeauftragten, auf der anderen mit den so genannten Freien. Ihr Anführer war Crazy Horse, der sich selbst nie, auch nicht im härtesten Winter dazu herabließ, in die Agentur zu kommen.«

Ja, das wusste ich. Aus diesem Grund war Crazy Horse für uns Lakota ein großer Held. Sogar andere Indianerstämme verehrten ihn. Er war das Symbol für Freiheit und ungebrochenen Widerstand. Es gab kein Bild von ihm, weil er sich niemals hatte malen oder fotografieren lassen, doch man erzählte, dass er gelocktes Haar gehabt hätte. Das tröstete mich, wenn meine eigenen Locken mich besonders störten.

Dad war an der Kreuzung von Sharps Corner angelangt und bog nach links ab. Er sagte: »Red Cloud lebte mit seiner Familie in der Nähe der Agentur, wo er annahm, was dort an Lebensmitteln und Lebensnotwendigem ausgegeben wurde. Almosen waren es, Tally. Unter anderem auch warme Decken für den Winter. Daher kommt das Schimpfwort Blanket Indians

»Und was bedeutet: Hang around the Forts?«, fragte ich.

»So ungefähr dasselbe. Die Leute, die mit Red Cloud gegangen waren, kümmerten sich nicht mehr darum, wie sie aus eigener Kraft überleben konnten. Vielleicht hatten sie auch einfach keine Kraft mehr. Sie blieben in der Nähe der Agentur, wo regelmäßig die Lebensmittelrationen ausgeteilt wurden. Deshalb Hang around the Forts.«

»Aber das ist alles über hundert Jahre her.«

»Ja«, sagte mein Vater.

Ich sah ihn ungläubig an, weil mir das nicht in den Kopf wollte. »Es ist mehr als hundert Jahre her, und noch heute werden Nachfahren von Red Cloud als Blanket Indians, Treaty Signers und Hang around the Forts beschimpft?«

Dad zuckte die Achseln. »Für dich sind hundert Jahre eine lange Zeit, Braveheart. Aber viele im Reservat haben das Gefühl, als wäre das alles erst gestern gewesen. Sie wollen sich nicht damit abfinden, dass die Black Hills uns nicht mehr gehören, dass wir dort nicht mehr jagen und frei herumziehen dürfen. Sie sind wütend auf die Weißen und halten Häuptling Red Cloud für einen Verräter, weil er diesen Vertrag unterzeichnet hat und aufgehört hat, gegen sie zu kämpfen.« Ich sackte in mich zusammen. Das war ja schrecklich. Bisher hatte ich immer geglaubt, ein Halbblut zu sein wäre die schwerste Bürde, die es im Reservat zu tragen gab. Aber nun wusste ich, dass auch Neil es nicht leicht hatte. Weil er für etwas schief angesehen und verantwortlich gemacht wurde, wofür er überhaupt nichts konnte. Etwas, das vor mehr als hundert Jahren geschehen war.

Wir waren vor unserem Zuhause angelangt und stiegen aus. Miss Lilly kam unter dem Trailer hervor und strich miauend um meine Beine. Wahrscheinlich war sie mal wieder von einem Kojoten oder einem Bobcat, einer großen Wildkatze, gejagt worden und wollte nun die Nacht lieber in den sicheren vier Wänden unseres Trailers verbringen.

Mein Vater schloss die Tür auf und die Katze schlüpfte hinein. Später, als ich schon im Bett lag, kam er noch einmal in mein Zimmer und setzte sich zu mir. Sein Blick wanderte von den Postern an der Wand zu den Pferdezeichnungen, die ich von Stormy und den anderen Tieren gemacht hatte.

Er sagte: »Du bist richtig gut, Tally, beinahe schon eine Künstlerin.« »Es macht mir großen Spaß, zu zeichnen«, erwiderte ich und freute mich über die Anerkennung meines Vaters.

Er nickte. »Ja, das ist das Wichtigste, Braveheart: dass man etwas findet, was man gern macht, und dann versucht, gut darin zu werden.« Dad lächelte. »Es geht nicht darum, etwas perfekt zu machen, sondern es mit dem ganzen Herzen zu tun.«

Nach diesem Vorfall auf dem Powwow-Grund war meine größte Sorge, dass Neil Thunderhawk nun überhaupt nichts mehr mit mir zu tun haben wollte. Als ich das nächste Mal kam, um nach Stormy zu sehen und Psitó zu reiten, da ließ er sich nicht blicken, und ich war furchtbar enttäuscht. Wie gerne hätte ich ihm gesagt, dass es mir Leid tat und dass er sich nichts aus Marlins Boshaftigkeiten machen sollte, weil mein Cousin einfach nur dumm war. Aber dann begegnete ich Della, und sie erzählte mir, dass Neil für ein paar Tage bei seinem Großvater zu Besuch war, der in Wanblee lebte.

Eine Woche später stand er wieder vor der Scheune, als ich kam. Er war dabei, dem Leopardenschecken das Zaumzeug anzulegen, und flüsterte ihm zärtlich etwas ins Ohr. Mein Herzschlag spielte gleich wieder verrückt, und ich musste erst einige Male tief durchatmen, bevor ich zu Neil hingehen und ihn begrüßen konnte.

Er lächelte, das hielt ich für ein gutes Zeichen.

Nachdem ich Psitós Zaumzeug aus der Scheune geholt hatte, eilte ich los, um sie zu suchen. Und ich hatte Glück. Die Pferde grasten direkt hinter dem Haus. Stormy spitzte die Ohren, als sie meine Stimme hörte. Ich drückte meine Nase an ihren warmen Hals, und sie freute sich mich zu sehen. Natürlich hatte ich auch einen Leckerbissen für das Fohlen dabei. Diesmal war es eine Karotte, die ich aus dem Gemüsefach unseres Kühlschranks stibitzt hatte.

Als ich das dumpfe Klacken von Pferdehufen hörte, drehte ich mich um. Neil kam angeritten und brachte Taté zum Stehen. Er wartete, bis ich Psitó das Zaumzeug angelegt hatte, dann ritten wir zusammen in die Hügel.

Neil sagte lange nichts, und ich wusste nicht, ob ich so tun sollte, als hätte es den Vorfall auf dem Powwow-Grund nie gegeben, oder ob er erwartete, dass ich ihn darauf ansprach.

Irgendwann fragte er: »Hast du gewusst, was Marlins Beschimpfungen bedeuten?«

»Nein«, sagte ich. »Aber jetzt weiß ich’s.«

Er wandte den Kopf, um mich anzusehen. »Woher?«

»Mein Vater hat’s mir erklärt.«

»Und was meinst du dazu?«

»Was Marlin sagt, ist dumm«, antwortete ich. »Alles, was Marlin sagt, ist dumm.«

Neil lachte kalt. »Eine Menge Leute denken wie er.«

»Marlin denkt nicht«, sagte ich. »Er plappert nur nach, was andere reden.«

»Er ist ein verdammter Idiot«, presste Neil hervor. »Und er ist es nicht wert, ein Lakota zu sein.«

Der unterschwellige Hass in Neils Stimme war mir nicht entgangen. Ich hoffte, dass er nicht auf Rache aus war, denn das hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Auch für mich.

»So unausstehlich ist er aber erst geworden, seit sein Vater tot ist«, sagte ich, obwohl ich Marlin nun wirklich nicht verteidigen wollte. »Er würde sich im Grabe herumdrehen, wenn er seinen Sohn sehen könnte«, sagte Neil. »Ich kann Menschen, die unfair sind, nicht ausstehen.«

»Hast du mich deshalb verteidigt?«, fragte ich und warf Neil einen verstohlenen Blick zu. Was war ich für ihn? Eine Lakota oder ein Halbblut? Hatte das Ganze überhaupt irgendeine Bedeutung für ihn?

Statt einer Antwort schnalzte Neil mit der Zunge, drückte dem Hengst die Fersen in die Seite und zeigte mir, was er konnte. Wie ein Pfeil jagte er dahin. Neil ritt den Wind. Ich folgte ihm mit Psitó, die sich unter ihrer leichten Last am Galopp freute. Aber die Stute war alt, und ihr fehlte die Kraft, um mit Taté mitzuhalten. Ich wünschte mir, eines Tages auch so schnell reiten zu können wie Neil – auf Stormy. Ich wünschte, Neil Thunderhawk würde zu mir gehören. Ich wünschte, etwas Besonderes für ihn zu sein. Mein Kopf war voll von Wünschen und Träumen.

* Blanket:Decke

** Blanket Indians, Hang around the Forts: jemand, der sich um die Forts der Weißen herumtreibt und auf Almosen wartet

* Verwaltungshauptsitz des Reservats

Talitha Running Horse

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