Читать книгу Talitha Running Horse - Antje Babendererde - Страница 7
Оглавление»Tally, wo steckst du?«
Ich hob den Kopf von meiner Zeichnung, legte den Bleistift beiseite und klopfte an die Fensterscheibe meines kleinen Zimmers. Draußen vor unserem Wohntrailer stand mein Vater vor der offenen Motorhaube seines alten Dodge Pick-up und machte ein besorgtes Gesicht.
Hoffentlich nichts Schlimmes,dachte ich. Dad hatte keinen festen Job, das Geld war knapp, und er brauchte den Truck, um zu den Leuten zu fahren, die ihn mit verschiedenen Arbeiten beauftragten. Mit seinen geschickten Händen konnte mein Vater alles reparieren: Autos, Zäune, Dächer. Dad machte sogar Klempnerarbeiten. Das hatte sich herumgesprochen im Reservat, und so hielten wir uns über Wasser. Mein Vater winkte mich nach draußen. Auf der Treppe erwischte mich ein kalter Windstoß und schlug mir die langen Haare über das Gesicht. Es war schon Mitte April, aber vor einer Woche hatte der Winter noch einmal Schneeschauer von Norden her über die Prärie geschickt. Die Menschen im Reservat sehnten sich nach dem Frühling. Auch wir hatten Mühe gehabt, unseren Trailer über die langen Monate hinweg warm zu halten. Die elektrisch betriebenen Heizkörper reichten nicht aus, und so hatte mein Vater immer für genügend Holz sorgen müssen, damit wir den gusseisernen Ofen in der Wohnküche anheizen konnten.
Ich sprang zurück ins Warme, flocht meine Haare zu einem Zopf und umschlang das Ende mit einem bunten Gummiband. Bevor ich wieder nach draußen ging, schlüpfte ich in meine warme Jacke. Der Wind schlug die Tür hinter mir zu, bevor ich es tun konnte.
»Was ist denn los, Dad? Ist der Pick-up schon wieder kaputt?«
Unter der Krempe seines schwarzen Hutes hervor blickte mein Vater mich an. »Ja, ich bin mit Müh und Not gerade noch bis nach Hause gekommen. Aber es war bloß ein lecker Schlauch und ich konnte ihn reparieren. Ich hoffe, jetzt hält es für eine Weile.« Er rieb seine ölverschmierten Finger an einem alten Tuch ab, aber sauber wurden sie davon nicht.
»Und warum hast du mich gerufen?«
»Ich wollte dich fragen, ob du Lust hast, Tante Charlene zu besuchen. Ich will versuchen ihre Heizung wieder in Gang zu bringen.« Tante Charlene war die Frau von Dads Bruder Frank. Onkel Frank war vor einem Jahr im Irakkrieg gefallen. Seit er nicht mehr lebte, kümmerte sich mein Vater so gut es ging um seine Schwägerin und ihren Sohn Marlin. Die beiden wohnten in einem hellblauen Holzhaus unweit der Straße zwischen Wounded Knee und Manderson, ungefähr zwanzig Minuten von uns entfernt.
Meine Tante hatte gestern Abend angerufen, weil ihre Heizung kaputt war. Dad hatte sich gleich noch auf den Weg zu ihr gemacht und den Schaden begutachtet. Heute Vormittag war er in die Stadt gefahren, um einige Teile zu besorgen, und auf der Rückfahrt hatte er dann Schwierigkeiten mit seinem alten Pick-up-Truck bekommen.
»Ich weiß nicht, Dad.« Ich wand mich ein wenig, weil ich nicht mitfahren wollte. »Ich muss noch Hausaufgaben machen.«
Ich ging nicht gerne zu Tante Charlene. Vor allem wegen Marlin, meinem Cousin. »Halbblut«, nannte er mich und machte sich über meine grünen Augen und meine lockigen Haare lustig. Er spottete darüber, dass meine Mutter eine Weiße war, und betonte bei jeder Gelegenheit, dass sie mich und meinen Vater verlassen hatte.
»Heute ist Samstag«, sagte Dad. »Die Hausaufgaben kannst du doch auch morgen machen.«
»Aber ich bin noch mit Adena verabredet«, fügte ich hinzu. »Picu hat gestern drei Welpen geworfen, die will sie mir zeigen.«
Adena war meine beste Freundin, die Tochter unserer Nachbarn Charlie und Nellie White Elk. Ihr Trailer stand zweihundert Meter hinter unserem, noch ein ganzes Stück den Hügel hinauf. Und Picu war Adenas Mischlingshündin. Sie hatte große Ähnlichkeit mit einem Kojoten, und ich war sehr neugierig, wie ihre neugeborenen Welpen aussahen.
Aber mein Vater lächelte, und als er seinen Hut in den Nacken schob, sah ich ein Leuchten in seinen schwarzen Augen. »Ich weiß ja, dass du deine Tante und Marlin nicht besonders magst, Talitha. Aber Charlene hat einen neuen Nachbarn. Er züchtet Appaloosapferde. Ich habe sie gestern Abend gesehen. Ich glaube, ein neugeborenes Fohlen ist auch dabei. Vielleicht macht es dir ja Freude, die Pferde zu zeichnen.«
Das war natürlich etwas vollkommen anderes! Auf jeden Fall wollte ich die Pferde sehen. Appaloosas – richtige Indianerpferde. Was hätte ich darum gegeben, selbst welche zu haben. Doch um Pferde zu halten, brauchte man Land, und man brauchte Geld. Wir besaßen zwar Land, aber nicht hier, in Porcupine, wo unser Trailer mit der braunen Holzverkleidung stand. Dad gehörten 1000 Hektar bewaldetes Land in den Hügeln hinter Tante Charlenes Haus. Sein Traum war, dort zu leben, in einem richtigen Haus mit Keller, Innentoilette und fließendem Wasser.
Mein Traum war, Pferde zu haben, sie zu reiten. Manchmal, wenn ich die Augen schloss, sah ich mich auf dem Rücken eines wunderschönen Pferdes über die Prärie fliegen. Ich konnte das Trommeln seiner Hufe hören, und schon so manches Mal war ich von seinem durchdringenden Wiehern erwacht. Diese Tagträume waren so lebendig, dass ich sogar den Schweiß riechen konnte, der vom Rücken meines Traumpferdes aufstieg.
»Deine und meine Träume gehören zusammen«, sagte Dad immer. »Wenn wir erst in einem richtigen Haus auf unserem eigenen Land wohnen, dann kannst du auch Pferde haben, das verspreche ich dir.« Doch wie sollte das jemals wahr werden? Wovon sollte mein Vater ein Haus bauen? Sein mageres Einkommen reichte ja kaum fürs Leben und für Benzingeld. Andererseits wusste ich, dass mein Vater nie leere Versprechungen machte. Und so gaben wir nicht auf, mein Dad und ich. Wir gaben unsere Träume nicht auf.
»Na gut«, sagte ich, »ich komme mit. Will nur schnell Adena anrufen und ihr sagen, dass ich erst morgen vorbeikomme.«
»Okay«, sagt Dad, »dann beeil dich! Ich wasch mir nur noch die Hände, dann geht’s los.«
Auf der Fahrt kamen wir am Hügel von Wounded Knee vorbei. Schon von weitem sah man die dunkle Holzkirche, den grauen Gedenkstein und die beiden weiß-roten Steinpfeiler mit dem kleinen schmiedeeisernen Kreuz auf dem Metallbogen, der sich von einem Pfeiler zum anderen spannte.
Das einsam stehende Tor war der Eingang zu einem Friedhof. Es war ein trauriger, ein unheilvoller Ort. Auf dem Gedenkstein waren Namen eingraviert. Im Dezember des Jahres 1890 töteten die Soldaten der 7. US-Kavallerie auf diesem Hügel fast dreihundert ausgehungerte und erschöpfte Lakota-Indianer.
Mein Vater und ich sind Nachfahren einer Überlebenden des Massakers. Meine Urgroßmutter Helen Yellow Bird war 13 – so alt wie ich –,als sie und andere Kinder, Frauen und Männer dem schwer kranken Häuptling Big Foot im eisigen Winter auf seinem Marsch über die Badlands folgten, in der Hoffnung, hier im Pine Ridge Reservat bei Red Cloud und seinen Oglala-Lakota Aufnahme und Sicherheit zu finden.
Aber die US-Armee verfolgte Big Foot und seine Leute. Als sie sie eingeholt hatten, hisste der Häuptling die weiße Flagge. Schwerbewaffnete Soldaten eskortierten die erschöpften, von Hunger und Kälte geschwächten Menschen zum Flüsschen Wounded Knee, wo sie ihr Lager aufschlagen mussten. Am nächsten Tag erging der Befehl, dass alle Indianer ihre Waffen abgeben sollten. Dabei kam es zu einem Handgemenge, und es löste sich ein Schuss aus dem Gewehr eines Lakota-Kriegers.
Daraufhin eröffneten die Soldaten das Feuer und töteten mehr als 250 von Big Foots Leuten, die meisten von ihnen Frauen und Kinder. Ein Teil der Verwundeten erfror im Schnee, weil sie keine Hilfe bekamen. Noch im Umkreis von zwei Meilen wurden Leichen gefunden. Einige wenige konnten fliehen und sich in Sicherheit bringen.
Deshalb wohnten auch heute noch Nachfahren der Überlebenden hier in Pine Ridge, bei den Leuten von Crazy Horse und Red Cloud, obwohl sie ursprünglich aus Reservaten im Norden von South Dakota stammten. Auch meine Urgroßmutter Helen fand Aufnahme bei einer Familie in der Nähe von Manderson. Sie heiratete und erzählte das, was sie erlebt hatte, ihren Kindern. Eines davon war mein Großvater Emmet.
Er sagte immer, dass damals in Wounded Knee nicht nur unschuldige Menschen starben, sondern auch der Traum der Indianer von einem Leben in Freiheit und Würde. Der Heilige Kreis des Lebens war zerbrochen.
Immer wenn ich am Hügel von Wounded Knee vorbeifahre, muss ich daran denken, wer ich bin. Mein Name ist Talitha Running Horse und ich bin eine Reservatsindianerin. Manche Leute nennen mich Iyeska, Mischling, denn bin ich ein Halbblut. Meine Mutter ist eine Weiße. Ich kann mich noch gut an sie erinnern, obwohl ich sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen habe. All die Jahre hat sie mir nicht geschrieben und mich niemals angerufen.
Mein Vater Richard und meine Mutter Holly waren beide noch sehr jung, als sie sich kennen lernten. Sie ein Hippiemädchen aus San Francisco in Kalifornien, das ins Lakota-Reservat nach Pine Ridge gekommen war, weil sie Pferde liebte und neugierig auf Indianer war. Mein Dad hatte gerade das College abgeschlossen, wo er eine Ausbildung als Automechaniker gemacht hatte.
Meine Mutter begeisterte sich für die endlose Weite der Prärie und mochte sogar die Badlands, ein riesiges trockenes Gebiet, das fast nur aus mondfarbenen Kalkfelsen besteht. Sie trafen sich auf einem Powwow,einem unserer Tanzfeste. Es war Liebe auf den ersten Blick und neun Monate später wurde ich geboren. Powwow-Unfall war eines der Schimpfwörter, mit denen mein Cousin Marlin mich am liebsten betitelte.
Meine Mutter zog zu Dad in den alten Trailer, in dem er mit Großvater Emmet lebte, und sie heirateten vor dem Friedensrichter. Zuerst waren sie sehr glücklich. Doch schon bald hatte meine Mutter genug vom Reservat. Prärie und Badlands verloren ihren Reiz. Sie wollte nur noch weg, zurück nach Kalifornien, zusammen mit mir und meinem Dad. Aber er mochte davon nichts hören, denn er liebte sein Land. Außerdem wollte er seinen Vater nicht allein lassen, der sehr krank war und niemals freiwillig von dem Land fortgegangen wäre, auf dem er geboren war. »Das Land ist mit dem Blut unserer Vorfahren getränkt«, hatte Großvater Emmet gesagt. »Es atmet unsere Geschichte. Hier ist die Heimat der Spirits,unserer Geisthelfer, und hier will ich begraben werden.«
Ich war damals noch klein, aber ich kann mich daran erinnern, dass meine Mutter und mein Vater häufig stritten. Mom weinte oft und schimpfte über eine Menge Dinge. Dass wir kein fließendes Wasser im Trailer hatten und Dad es immer erst in Kanistern heranfahren musste. Dass die Sommer so glühend heiß und trocken waren im Reservat. Und die Winter so furchtbar kalt, dass jeder Gang aufs Klohäuschen hinter dem Trailer uns vorkam wie eine Polarexpedition. Aber dass wir nie Geld hatten, das war wohl das Schlimmste für sie.
Eines Tages, es war ein besonders heißer und trockener Sommer, packte sie ihre und meine Sachen, setzte mich in ihr Auto und fuhr mit mir davon. Ich war sieben Jahre alt und dachte, wir würden verreisen. Wir waren schon lange unterwegs in Richtung Westen, da machte meine Mutter Halt an einer Raststätte. Sie ließ mich im Auto sitzen und ging telefonieren. Das Telefon war zu weit weg, deshalb konnte ich nicht hören, mit wem sie sprach, obwohl alle Fenster offen standen. Aber ich sah sie weinen, und das machte mir Angst. Ich weiß noch, wie es in meinem Nacken zu kribbeln begann.
Schließlich kam sie zurück, ließ mich aussteigen und mit Mister Lukas, meinem Teddy, auf eine Bank setzen. Sie kaufte mir eine Limonade und einen Donut und fuhr mit den Worten »Sei schön brav und warte hier, bis dein Vater dich abholt« davon.
Ich aß den Donut und wartete. Ich wartete sehr lange und begann schon mir Sorgen zu machen. Aber dann kam mein Dad und holte mich. Von da an lebten wir zu dritt im Trailer und kamen prima miteinander aus. Niemand beklagte sich mehr.
Drei Jahre, nachdem meine Mutter uns verlassen hatte, starb Großvater Emmet. Ich habe ihn sehr geliebt und er fehlte mir. Es gab Augenblicke, in denen auch meine Mutter mir fehlte. Aber diese Augenblicke wurden immer seltener und irgendwann dachte ich überhaupt nicht mehr an sie.
Dad bog von der Teerstraße ab, die weiter nach Manderson führte, ratterte über ein Eisengitter, und hinter einer Böschung tauchte das hellblau gestrichene Holzhaus von Tante Charlene auf. Ihre beiden Hunde Scooter und Rip bellten und umkreisten den Pick-up, als Dad vor dem Haus parkte. Scooter war ein großer braun-weiß gescheckter Mischlingshund mit kurzem Fell und langen Ohren. Rip war klein und langhaarig und erinnerte mich immer an einen Mopp.
Als wir ausstiegen und sie uns erkannten, sprangen sie an uns hoch. Wahrscheinlich hatten sie Hunger oder erhofften sich ein paar Streicheleinheiten. Wir wussten, dass die Hunde von Tante Charlene nicht verwöhnt wurden. Dad kraulte beide hinter den Ohren und sagte ein paar freundliche Worte. Scooter und Rip winselten. Tante Charlene erschien in der Tür. Ihr Haar war straff nach hinten gekämmt und sie hatte es zu einem kleinen Zopf zusammengenommen. Über ihren schwarzen Leggins trug sie einen bekleckerten Pullover. Ihr mächtiger Körper füllte die Türöffnung beinahe vollständig aus. Sie hatte die fleischigen Fäuste in ihre unförmigen Hüften gestemmt und machte ein missmutiges Gesicht. »Wird Zeit, dass du kommst, Rich«, zeterte sie. »Ich bin schon halb erfroren.« »Tut mir Leid«, sagte mein Vater. »Aber heute Vormittag war ich in Rapid City, um die Teile zu besorgen, und dann musste ich meinen Pick-up-Truck reparieren. Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte.«
Charlene winkte ab und verschwand im Haus. Meine Tante war schon immer anstrengend gewesen, aber seit Onkel Frank nicht mehr lebte, war sie unausstehlich geworden. Es schien fast so, als würde sie alle Lebenden für den Tod ihres Mannes verantwortlich machen. Sie achtete nicht mehr auf ihr Äußeres und kümmerte sich kaum noch um den Haushalt. Nur Marlin, ihr einziger Sohn, schien ihr noch etwas zu bedeuten. Und ihre Seifenopern.
Das mit Onkel Frank war schlimm für uns alle gewesen. Der Verlust seines einzigen Bruders hatte auch meinen Vater schwer getroffen. Mein Onkel war ein fröhlicher und gutherziger Mann gewesen, der immer alle zum Lachen gebracht hatte, sogar Charlene. Er war zur Armee gegangen, um mit dem Geld, das er dort verdiente, seinem Sohn eine gute Schulausbildung zu ermöglichen. Dad sagte, dass Onkel Frank den Krieg, in dem er kämpfte, nie gemocht hatte.
Nach seinem Tod bekam meine Tante nun eine Hinterbliebenenrente von der Armee und musste sich – im Gegensatz zu uns – um ihr Auskommen keine Sorgen machen. Deshalb verstaubten die Schalen mit den bunten Perlen, aus denen sie früher wunderschöne Muster gestickt hatte. Ihre Perlenarbeiten waren bei den Touristen sehr begehrt gewesen. Aber das interessierte sie alles nicht mehr.
Als ich das Haus meiner Tante betrat, blieb ich im Flur mit den Schuhsohlen am Boden kleben. Jeder Schritt machte ein Geräusch, als ob man einen Klettverschluss öffnete. Jemand hatte Limonade verschüttet und es nicht für nötig gehalten, sie aufzuwischen. In der Küche stapelte sich haufenweise schmutziges Geschirr und überall lag Kram herum: getragene Kleidungsstücke, Kartons, zerlesene Zeitschriften und Pappteller mit angetrockneten Essensresten.
Die Reinlichkeit in diesem Haus war seit Onkel Franks Tod ebenso auf der Strecke geblieben wie das Lachen und die indianischen Traditionen. Tante Charlene hatte jetzt überall Heiligenbilder aufgehängt und ging jeden Sonntag in die Kirche.
Im Wohnzimmer lief der Fernseher. Charlene saß auf der Couch unter einem Plastikjesus und stopfte Kartoffelchips in sich hinein. Obwohl sie mich bemerkt haben musste, tat sie so, als wäre ich überhaupt nicht vorhanden. Marlin schien zum Glück nicht da zu sein, wie ich mit großer Erleichterung feststellte. Ich war nicht wild darauf, meinem großspurigen Cousin zu begegnen.
Dad trug sein Werkzeug in den Keller und ich half ihm dabei. Als er die Ersatzteile aus dem Pick-up holte, folgte ich ihm nach draußen. »Die Pferde laufen frei herum«, sagte er und zeigte hinüber zum Haus von Charlenes neuen Nachbarn. Es hatte einen frischen dunkelroten Anstrich mit weiß abgesetzten Fensterrahmen und Dachrändern und sah richtig einladend aus.
»Der Besitzer heißt Tom Thunderhawk; ich hab gestern Abend kurz mit ihm gesprochen. Er hat nichts dagegen, dass du dir die Pferde ansiehst. Nur vor dem gefleckten Hengst sollst du dich ein wenig in Acht nehmen. Tom sagt, der mag Fremde nicht besonders. Laufden Weg hinter dem Haus vorbei in die Hügel, dort wirst du die Herde finden.«
Ich nickte und trat vor Aufregung von einem Bein aufs andere.
»Sei in einer Stunde wieder da, okay.«
»Ja, Dad«, sagte ich und flitzte los.
Ein breiter Fahrweg führte hinter dem roten Haus vorbei und schlängelte sich in die mit Kiefern bewachsenen Hügel. Von diesen Kiefern hatte das Reservat seinen Namen: Pine Ridge. Tante Charlene hatte immer behauptet, jenseits der Kiefern beginne das Reich der Geister. Ob sie das jetzt immer noch glaubte, wo sie doch nun den Gott der Weißen verehrte und von den Spirits nichts mehr wissen wollte?
In einigen schattigen Mulden lag noch Schnee, und es wehte ein kalter Wind. Ich blieb stehen und zog den Reißverschluss meiner Jacke bis zum Hals. Der Weg war schlammig, und ich entdeckte die Abdrücke von unbeschlagenen Pferdehufen. Ich lief schneller.
Nur wenig später, ich war überhaupt nicht weit gelaufen, sah ich die Pferdeherde auf einem Hügel stehen. Ich lief langsamer, um die Tiere nicht zu erschrecken, und ging bis auf ein paar Meter an sie heran. Vor Aufregung wagte ich kaum zu atmen, als ich Tom Thunderhawks Pferde zum ersten Mal aus der Nähe sah. Ich hatte schon hier und da mal ein Appaloosa gesehen im Reservat, aber noch nie so viele und so schöne Tiere auf einmal. Die Sonne kam plötzlich zwischen den Wolken hervor, schickte ihre Wärme herab und ließ die Fellzeichnung der Pferde aufleuchten.
Shunka wakan,Heilige Hunde, war der Name, den die Lakota den Pferden gaben, als sie zum ersten Mal welche sahen. Die Spanier brachten sie auf ihren Schiffen nach Amerika, und es dauerte noch eine Weile, bis sie zu uns in den Norden vorgedrungen waren. Die Pferde, das war das einzig Gute, was wir den Spaniern zu verdanken hatten.
Bis dahin hatten Hunde die Lasten gezogen, wenn unsere Vorfahren mit ihren Tipis der Spur der Büffel folgten. Als die Indianer die Pferde sahen, hielten sie sie für Geisterhunde. Aber schon sehr bald wussten sie die Vorteile der starken Tiere auszunutzen, denen sie eine viel größere Last aufbürden konnten als ihren Hunden.
Ich ging noch drei kleine Schritte auf die Pferde zu und blieb dann stehen. Herr über Tom Thunderhawks Herde war ein großer Hengst, einer der seltenen Leopardenschecken. Der, vor dem ich mich in Acht nehmen sollte. Er wandte mir den Kopf zu, rollte mit den Augen und wieherte, was wie eine Warnung klang. Bleib lieber stehen, schien er mir sagen zu wollen.
Eine Besonderheit bei Appaloosas sind ihre Augen mit der weiß umrandeten Pupille und ihre gestreiften Hufe.
Das Fell des Hengstes war weiß und hatte überall grauschwarze Tupfen, auch auf dem Kopf und an den Beinen. Sogar seine Nüstern waren gesprenkelt. Er sah lustig aus, aber ich hatte mächtigen Respekt vor ihm. Der Hengst ließ seine Stuten und ihre Fohlen nicht aus den Augen. Mich allerdings auch nicht. Neugierigen Fremden gegenüber schien er tatsächlich sehr misstrauisch zu sein.
Von seinen fünf Stuten waren drei braun, mit weißen Kruppen und weißen Sprenkeln überall. Zwei hatten eine graue Grundfarbe und ihr Fell war von weißen Haaren durchzogen. Es sah aus, als wäre Schnee auf sie gefallen. Eine von ihnen hielt ich für die Leitstute. Sie hob immer wieder wachsam den Kopf, während die anderen sich von meiner Gegenwart nicht aus der Ruhe bringen ließen. Es gab einen grauweißen Wallach, der etwas abseits graste und sich der Herrschaft des gefleckten Hengstes fügte. Zwischen den braunen Stuten entdeckte ich zwei Jährlinge, und dann wusste ich auch, warum die eine der grauen Stuten so unruhig war. Hinter ihr versteckt stand ein dünnes Fohlen, das erst wenige Tage alt sein konnte.
Ich ging vorsichtig ein paar Schritte um die Herde herum, um es besser ansehen zu können. Kopf und Hals des kleinen Stutfohlens waren dunkelgrau. Rücken und Bauch sahen aus wie von Raureifbedeckt. Sein fast weißes Hinterteil hatte dunkle, faustgroße Flecken, fünf auf jeder Seite. Es folgte seiner Mutter auf Schritt und Tritt und drängte sich an ihren schützenden Körper.
Ich hatte das Gefühl, als wäre ich ihm schon in meinen Träumen begegnet, und verliebte mich sofort in dieses kleine Wesen. Die Sonne wärmte sein schön gezeichnetes Fell, und auf einmal machte es fröhliche, ungelenke Sprünge, die mich an einen kleinen Wirbelwind denken ließen. Beinahe unbewusst formten meine Lippen einen Namen: Stormy.
»Hey, Stormy!«, rief ich leise und flüsterte ein paar freundliche, besänftigende Worte. Das Fohlen hob den Kopf und sah mich neugierig an, als hätte es seinen neuen Namen verstanden. Es kam näher, als wollte es mehr hören von dem, was ich zu sagen hatte. Zu gerne hätte ich es gestreichelt und meine Nase an sein weiches Fell gedrückt, um seinen süßen Pferdeduft einzuatmen. Aber auch wenn der gefleckte Hengst anscheinend beschlossen hatte, mich nicht länger als Gefahr zu betrachten – die graue Stute ließ mich nicht an ihr Fohlen heran. Sobald ich mich Stormy näherte, stellte sie sich zwischen mich und ihr Fohlen.
Ich wusste, dass nährende Stuten manchmal gefährlich werden konnten, wenn sie das Gefühl hatten, ihren Nachwuchs verteidigen zu müssen. Also verhielt ich mich vorsichtig und bedrängte sie nicht. Ich war glücklich, so nah bei der Herde sein zu dürfen. Das nächste Mal wollte ich unbedingt meine Zeichenmappe mitbringen. Viel zu schnell war die Stunde vorbei, und ich musste mich schon wieder auf den Weg machen, um rechtzeitig bei meiner Tante zu sein. Mein Vater mochte es nicht, wenn er auf mich warten musste. Als ich bei Tante Charlenes Haus ankam, lud Dad gerade sein Werkzeug auf die Ladefläche des Pick-ups. »Na, hast du die Pferde gesehen?«, fragte er lächelnd.
»Ja, Dad. Sie sind wunderschön!«, schwärmte ich. »Und du hattest Recht. Da ist ein winziges Fohlen dabei, mit zehn dunklen Punkten auf der weißen Hinterhand.«
»Fünf auf jeder Seite?«, fragte er.
»Ja, fünf auf jeder Seite.« Verwundert über seine Frage, sah ich ihn an. »Dann ist es ein besonderes Pferd, Tally. Wakan Tanka,der Große Geist, hat es berührt; er hat den Abdruck seiner Hand auf ihm hinterlassen. Tom Thunderhawk ist sicher stolz darauf, so ein Tier zu besitzen.«
»Das nächste Mal, wenn ich wieder hier bin, werde ich das Fohlen zeichnen«, sagte ich und gab mir keine Mühe, meine Begeisterung zu verbergen.