Читать книгу Starlight Blues - Antje Babendererde - Страница 4

1. Kapitel

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Meine Detektei stand nicht im Branchenverzeichnis und war auch nicht im Internet zu finden. Meine Telefonnummer kursierte jedoch schon seit jener Zeit in den Indianerreservaten, als ich noch ausschließlich als Journalist arbeitete. Inzwischen gab es Tage, da klingelte das Telefon ohne Unterlass.

Dieser Freitag war jedoch ungewöhnlich ruhig gewesen. Niemand hatte angerufen oder war in mein Büro gekommen, um mich zu bitten, der Gerechtigkeit auf die Sprünge zu helfen. So hatte ich endlich die Kolumne über Seattles Stadtindianer geschrieben, damit meine Schwester Alice sie in die Montagsausgabe des Olympic Independent setzen konnte. Ich saß über den Korrekturen des Artikels, als das Klingeln des Telefons mich aus meinen Gedanken schreckte.

Susan war am Apparat, sie rief aus dem Northwest Hospital & Medical Center an. Unsere Tochter Amina war mit ihrer Schulklasse beim Schlittschuhlaufen gewesen und hatte sich den Arm gebrochen.

„Kein schlimmer Bruch“, beruhigte mich Susan. „Aber komm bitte nach Hause, Amina braucht dich.“

Eilig schickte ich die fertige Kolumne per E-Mail an meine Schwester und war im Begriff meine Bürotür abzuschließen, als das Telefon erneut klingelte. Ich wollte nicht rangehen, aber der Anruf konnte wichtig sein, deshalb blieb ich in der Tür stehen und wartete. Nach dem fünften Klingeln schaltete sich der Anrufbeantworter ein.

Zuerst blieb es still, das war nicht ungewöhnlich. Viele meiner Klienten kostete es große Überwindung, mich anzurufen. Wenn sich dann auch noch der Anrufbeantworter einschaltete, konnte es passieren, dass sie aufgaben, ohne mit mir gesprochen zu haben. Manchmal blinkte das rote Licht, wenn ich in mein Büro kam, aber das Band war bis auf ein Pfeifen und Piepsen leer.

Doch diesmal war anders. Nach kurzem Zögern meldete sich ein Mann, der offensichtlich völlig durcheinander war. Er redete unzusammenhängend, sprach von einem toten Bruder, der erfroren sei und ihm nun im Traum erscheinen würde. Ich hatte keine Ahnung, was er von mir wollte. Das alles erschien mir seltsam wirr und ich musste an meine Tochter denken, doch als der Mann seinen Namen nannte, jagte ein Adrenalinstoß durch meine Adern. Robert Blueboy, das konnte kein Zufall sein. Mit drei großen Schritten war ich beim Schreibtisch und riss den Hörer ans Ohr.

„Mr Blueboy, ich bin jetzt dran.“

Wieder war es still in der Leitung. Hatte der Anrufer den Mut verloren und aufgelegt? „Hallo, sind Sie noch da?“

„Ja“, meldete sich Robert Blueboys verunsicherte Stimme. „Sie sind doch der Adam Cameron? Ich meine, ich bin doch richtig, oder?“

„Ja“, sagte ich, „sind Sie. Bitte erzählen Sie mir noch einmal langsam, was genau passiert ist.“

Blueboy holte tief Luft. „Es geht um meinen Bruder“, sagte er. „Man hat ihn erfroren auf einem freien Feld am Stadtrand gefunden. Seit einigen Nächten erscheint Dan in meinen Träumen. Er will, dass seine Mörder gefunden werden.“

„Moment mal, das verstehe ich nicht. Sie sagten doch gerade, er wäre erfroren.“

„Ja, das stimmt. Aber ich kann nicht glauben, dass er von alleine dort hingekommen ist, wo man ihn fand. Niemand von uns glaubt das.“

So ist es immer. Man will nicht glauben, dass jemand, den man liebt, tot ist.

„Von wo aus rufen Sie überhaupt an, Robert?“

„Aus Winnipeg, Manitoba.“

Kanada , auch das noch. Ewig dauernder Winter, bittere Kälte und viel, viel Schnee. Mein Magen zog sich zusammen.

„Hören Sie“, sagte Robert Blueboy nach kurzem Schweigen, „ich weiß, dass zehn Jahre eine lange Zeit sind, aber ...“

„Zehn Jahre?“, unterbrach ich ihn. „Ihr Bruder ist vor zehn Jahren gestorben?“

„Ja, sagte ich das nicht? Verzeihen Sie, aber ich bin ziemlich durcheinander. Daniel war erst siebzehn und hatte sein ganzes Leben noch vor sich. Ich will nicht, dass er umsonst gestorben ist.“

„Verstehe. Aber kommt dieser Wunsch nicht etwas spät?“ Zehn Jahre waren eine verdammt lange Zeit. Nahezu aussichtslos, nach so vielen Jahren noch brauchbare Zeugen zu finden, Leute, die sich an den Jungen erinnern würden. Ich zögerte. Gerechtigkeit ist keine Frage des Zeitpunkts, hatte mein Vater immer gesagt.

„Bitte helfen Sie mir“, sagte Blueboy. „Ich bin es meinem Bruder schuldig.“

Ich unterdrückte ein Seufzen. Es war eine traurige, wenn auch keine weltbewegende Geschichte: Ein erfrorener Indianerjunge, der zehn Jahren nach seinem Tod dem Bruder im Traum erschien und Gerechtigkeit verlangte. Solche Dinge passieren: Dass Leute im Winter erfrieren. Oder dass tote Angehörige einem im Traum erscheinen. Ich träumte heute noch manchmal von meinen Adoptiveltern.

Es wäre fair und vernünftig gewesen, Robert Blueboy die Wahrheit zu sagen. Nämlich, dass ich als Privatdetektiv keine Lizenz für Kanada besaß. Ich hätte bedauern und auflegen sollen. Aber ich konnte nicht mehr so tun, als ob ich den Hörer nicht abgenommen hätte, denn dieser Mann hatte einen Trumpf in der Hand. Einen, von dem er nichts ahnte, ein Zufall, der mein Inneres in Aufruhr versetzte: Blueboy, das war auch mein Name.

Dass Carl und Margret Cameron nicht meine richtigen Eltern waren, hatte ich erst nach ihrem Tod erfahren. Mein Geburtsname lautete Adam Lee Blueboy und meine Mutter hatte mich weggegeben, als ich drei Jahre alt war. Die Camerons hatten mich adoptiert und das Wissen um meine Herkunft mit ins Grab genommen. Seither versuchte ich, Licht ins Dunkel meiner Herkunft zu bringen.

Vielleicht war Robert Blueboy mein Cousin oder gar mein Bruder. Bei diesem Gedanken schlug mein Herz schneller. Bisher war jede Spur, der ich nachgegangen war, im Sande verlaufen. Aber ich dachte nicht daran, aufzugeben. Es ließ mir keine Ruhe, dass meine Adoptiveltern ein Geheimnis um meine Herkunft gemacht hatten. Jahrelang hatten sie mir die Wahrheit verschwiegen und ich wollte herausfinden, warum. Ich würde mich also um den toten Daniel Blueboy kümmern, auch wenn ich dafür mitten im Winter in ein Flugzeug steigen musste, und mein Detektivausweis auf kanadischem Boden so viel wert war wie ein Stück Toilettenpapier.

„Ich komme, sobald ich kann“, sagte ich.

Robert schien einen Moment zu brauchen, bis er begriff, dass er mich überzeugt hatte. „Eine Frage noch. Ist es wahr, dass Sie manchmal ... ich meine, stimmt es, dass Sie ... ich habe nicht viel Geld, Mr Cameron.“

„Machen Sie sich darum mal keine Gedanken“, beruhigte ich ihn.

Blueboy gab mir seine Adresse und die Telefonnummer durch. Ich versprach mich zu melden, sobald ich wusste, wann ich in Winnipeg eintreffen würde.

Ich ging zur Karte an der Wand und schätzte die Entfernung zwischen Seattle und Winnipeg. Ein Seufzen kam aus meiner Kehle. Seit meine Adoptiveltern in einem Flugzeug zu Tode gekommen waren, hatte sich aus meiner latenten Aversion gegen das Fliegen eine ernst zu nehmende Flugangst entwickelt. Manchmal ließ es sich allerdings nicht vermeiden, in ein Flugzeug zu steigen. Natürlich hätte ich mich auch in meinem alten Jeep Cherokee auf den Weg nach Winnipeg machen können, aber dann hätte ich mindestens zwei Tage für die Strecke gebraucht und wäre unterwegs vielleicht in einem Schneesturm stecken geblieben. Ich entschied also, meine Furcht zu überwinden und das Vernünftige zu tun, auch, wenn es mir schwer fiel.

Beherzt wählte ich die Nummer vom Ticketservice des Sea-Tac Airport und erwischte noch eine Flugverbindung nach Winnipeg für den Sonntag. Nachdem ich mir die Flugdaten notiert hatte, rief ich Robert Blueboy zurück und sagte ihm durch, wann mein Flieger landen würde. Er versprach, mich am Flughafen abzuholen.

Wie ich ihn erkennen würde, wollte ich wissen.

Er würde mich erkennen, sagte er.

Seattle im Januar ist eine Zumutung. Und wie jeden Winter hegte ich den Gedanken, mit meiner Familie der Stadt am Pudget Sound den Rücken zu kehren und uns eine Bleibe im sonnigen Süden zu suchen. In Santa Fé beispielsweise, denn die Kultur der ältesten Stadt Amerikas fasziniert mich und das milde Klima New Mexicos war eine große Verlockung.

Ich dachte dauernd daran wegzuziehen, aber Seattle hielt mich fest. Oder besser, meine Familie hielt mich fest. Mein Kinder Amina und Mike, die hier geboren und zuhause waren. Meine Frau, die ihren Job als Dozentin an der University of Washington liebte und nicht zuletzt Alice, meine kleine Schwester, die drei Jahre nach dem Tod unserer Eltern die Leitung des Zeitungsverlages übernommen hatte, der uns zu gleichen Teilen gehörte.

Der Verlag, ein paar Aktien und eine große viktorianische Villa auf Mercer Island waren das Erbe von Carl und Margret Cameron. Nach ihrem plötzlichen Tod hatte ich mein Jurastudium abgebrochen und mich in verschiedenen Teilen des Landes herumgetrieben. Ich ließ meine Haare lang wachsen, um von vorne herein keine Zweifel mehr an meiner Herkunft aufkommen zu lassen. Damals war ich dreiundzwanzig und mir stand auf einmal nicht mehr der Sinn danach, zu studieren, geschweige denn, ein Unternehmen zu leiten.

Alice war erst zwanzig und studierte Journalistik in San Francisco. Sie beendete ihr Studium als eine der Besten in ihrem Jahrgang, doch bis es so weit war, wurde der Verlag treuhänderisch von einem Freund unseres Vaters geführt. Als meine Schwester das Regionalblatt schließlich übernahm, war es arg in Bedrängnis geraten. Das Internet hatte als Informationsquelle schnell an Bedeutung gewonnen und die Konkurrenz schlief nicht. Die Auflagen des Olympic Independent befanden sich im Sinkflug - Alice musste sich etwas einfallen lassen.

Sie stöberte mich in einem Indianerreservat in South Dakota auf und bat um meine Unterstützung. Da ich ohnehin an einem toten Punkt angelangt war auf meinem Selbstfindungstrip, und dazu noch in einer verteufelten Beziehungskrise steckte, kehrte ich meinem Vagabundenleben den Rücken und ging mit Alice nach Seattle zurück.

Ich belegte Collegekurse in Journalistik und gemeinsam päppelten wir den Zeitungsverlag wieder auf. Mit Hilfe eines befreundeten Designers erarbeiteten wir ein neues Layout und stellten zwei junge Journalisten ein, die in der Lage waren, das Lebensgefühl des Nordwestens zu erfassen und die Themen originell umzusetzen. Wir setzten gut recherchierten Journalismus gegen dumpfen Sensationalismus und das Konzept ging auf.

Aber die Zeitung war und blieb Alices Kind. Der Verlag war ihr Lebensinhalt. Meine Schwester war eine harte Arbeiterin und gute Redakteurin. Sie hatte nie eine Familie gegründet, weil sie sich aus Männern nichts machte. Ihr Coming out mit vierzehn war schwierig gewesen, die Suche nach einer Partnerin, mit der sie zusammenleben konnte, schien ein erfolgloses Unterfangen zu sein. Alices Liebesgeschichten endeten immer unglücklich.

Ich selbst hatte nach meiner Rückkehr in die Stadt einige Jahre für den Olympic Independent geschrieben und mich – was naheliegend war - für die Belange der amerikanischen Ureinwohner eingesetzt. Zunächst regional, denn im Bundesstaat Washington lag vieles im Argen: Immer wieder bedrohte Öl aus Tankerunglücken die Küste und die Fischgründe der dort ansässigen Indianerstämme. Einige Stämme wehrten sich gegen die Überfischung ihrer Küstengewässer durch weiße Sportfischer; die Makah hatten unter heftigen Protesten von militanten Tierschützern den Walfang wieder aufgenommen und es gab Landstreitigkeiten im Nationalpark.

Meine Artikel wurden zunehmend auch in überregionalen Zeitungen abgedruckt und immer mehr Indianer aus allen Teilen des Landes nahmen Kontakt zu mir auf. Es galt, alte und neue Ungerechtigkeiten publik zu machen. Ich verbrachte also wieder viel Zeit auf der Straße, obwohl ich inzwischen verheiratet war und Kinder hatte.

Da ich bei meinen Recherchen nicht selten in großen Misthaufen herumstocherte, geriet ich immer wieder in gefährliche Situationen. Einige Menschen in diesem Land hatten keine Hemmungen, einen Indianer ohne mit der Wimper zu zucken ins Jenseits zu befördern, wenn er ihren Interessen auf irgendeine Weise in die Quere kam. Vermutlich war das ein angeborener Reflex der Angloamerikaner, ein Relikt aus den Zeiten der Indianerkriege.

Trotzdem recherchierte ich weiter. Hin und wieder gelang es mir, mit meinen Reportagen etwas zu bewirken. In den meisten Fällen änderten meine publik gemachten Wahrheiten jedoch überhaupt nichts. Nämlich immer dann, wenn Geld und Macht am größeren Hebel saßen.

Deshalb gelangte ich vor zwei Jahren an den Punkt, an dem das Schreiben allein nicht mehr ausreichte: Ich wollte mehr tun.

Als privater Ermittler hatte ich viel mehr Möglichkeiten, deshalb entschied ich, eine Detektei zu eröffnen. Susan und Alice waren entsetzt, aber ich ließ mich nicht beirren. Ich konnte einfach nicht mehr tatenlos zusehen, wie dieses Land die Rechte seiner Ureinwohner mit den Füßen trat.

Zuerst holte ich meinen Bachelor in Strafjustiz nach, im Anschluss durchlief ich ein paar Tests der Sicherheitsbehörden des Bundesstaates Washington, bestand eine zweistündige schriftliche Prüfung und erwarb eine Lizenz als Privatdetektiv sowie einen Waffenschein.

Mein Sohn Mike war begeistert.

Allerdings trage ich meinen halbautomatischen Revolver nur, wenn es unbedingt sein muss, denn ich habe mehr als einmal gesehen, was eine Waffe für furchtbaren Schaden anrichten kann.

Starlight Blues

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