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5. Kapitel

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Robert schüttelte den Kopf, wie um einen dunklen Gedanken zu vertreiben. Es musste etwas sein, das mit Daniels letztem Abend zu tun hatte. Ich hörte auf, mir Notizen zu machen und ermunterte ihn, nichts zu verheimlichen, weil ich sonst unmöglich herausfinden konnte, was tatsächlich geschehen war.

Er atmete tief ein, als wollte er sich Kraft holen zum Erzählen. „Daniel kam an diesem Abend noch einmal nach Hause“, wiederholte Robert schließlich. „Zusammen mit seinem Freund Lucas. Lucas Cardinal hatte ein noch dickeres Strafregister als mein kleiner Bruder, aber die beiden klebten seit der sechsten Klasse zusammen wie siamesische Zwillinge. Und obwohl Mom Bescheid wusste über Lucas, war sie freundlich zu ihm. Weil er Dans bester Freund war. Nur deshalb.“

Ich betrachtete den Jungen, der auf dem Gruppenfoto neben Daniel stand, genauer. Er war etwas kleiner als Daniel, hatte glattes langes Haar, engstehende Augen und schmale Lippen. Beide grinsten verschwörerisch in die Kamera.

„Sie mochten Lucas nicht besonders“, mutmaßte ich.

Robert hob die Schultern und es schien, als müsse er darüber erst nachdenken. „Er war kein schlechter Kerl. Nur, dass die beiden zusammen eben dauernd Mist bauten.“

„Was passierte an diesem Abend weiter?“

„Dan bat unsere Mom um Geld. Sie gab ihm keins, weil sie wusste, wofür er es ausgeben würde. Also kam er zu mir. Nun ja, ich hatte nicht vor, ihm was zu geben, aber er zeigte mir ein paar Lederhandschuhe, die waren nagelneu und sahen teuer aus. Irgendwer hatte sie gestohlen, vielleicht Lucas, vielleicht sogar Dan selbst.“ Robert machte eine Pause und senkte den Blick. „Die Handschuhe passten mir und sie gefielen mir, also nahm ich sie. Ich lief zum Schnapsladen an der Ecke und kaufte den beiden eine Flasche Wodka. Ich weiß noch, dass es irre kalt draußen war, kälter als die Nächte zuvor, und ich dachte, dass bestimmt niemand so fror wie ich. Einfach, weil jeder, der einen Funken Verstand im Kopf hatte, bei dieser Kälte zu Hause blieb.“ Robert schüttelte den Kopf. „Daniel umarmte mich, als ich mit der Flasche zurückkehrte. ,Danke, großer Bruder’, sagte er mit seinem typischen, entwaffnenden Grinsen. ‚Jetzt ist der Abend gerettet.’“

In Roberts Stimme klang Selbstverachtung mit. Als er den Kopf hob, um mich anzusehen, las ich von seinem Gesicht ab, welche Qualen er litt. „Unsere Mutter wollte die beiden nicht gehen lassen, obwohl sie nichts von dem Wodka wusste. Sie hatte aufs Thermometer gesehen, das genügte, um sich Sorgen zu machen. Lucas und Daniel waren bloß mit Jeans und leichten Jacken bekleidet, und wie üblich trugen sie nur Turnschuhe.“ Ein schmerzliches Lächeln überzog Roberts müdes Gesicht. „Egal, wie kalt es draußen war, egal, wie hoch der Schnee lag, die beiden trugen nie Winterschuhe. Es war so etwas wie ein Sport für sie gewesen.“ Er seufzte. „Wie auch immer, Dan wusste, wie er seine Mom überreden konnte. Er schob sein rotes Basecap ins Gesicht und sagte: ,Wir gehen doch bloß um die Ecke zu den Nicholsens, ein bisschen Musik hören und Karten spielen, Mom.’ Uund unsere Mutter ließ die beiden ziehen.“

„Wann war das?“, fragte ich. „Um welche Uhrzeit gingen die beiden, können Sie sich noch erinnern?“

„So gegen acht. Ich habe meinen kleinen Bruder nicht lebend wiedergesehen. Fünf Tage später wurde er von zwei Gleisarbeitern gefunden. Erfroren. An einem Ort, an dem er nichts zu suchen hatte. Hätte ich ihm den Wodka nicht besorgt, würde er vielleicht noch leben.“

Ich lehnte mich zurück. Erwartete Robert von mir, dass ich ihm Absolution erteilte? Das konnte ich nicht. Mit seinen Schuldgefühlen musste er alleine klarkommen. Ich war hier, um herauszufinden, was mit seinem Bruder passiert war. Aber dann bekam ich doch Mitleid. Vermutlich waren es Roberts Schuldgefühle, die ihm Daniel im Traum erscheinen ließen.

„Ein anderer hätte den Alkohol gekauft, oder nicht?“

„Ja. Vielleicht. Aber es war kein anderer. Ich war es, der die verdammte Flasche Wodka gekauft hat.“ Robert stand auf und begann umherzulaufen. „Es hat mehrere Tage gedauert, bis ich in der Lage war, es meiner Mutter zu erzählen. Die Schuldgefühle würgten mich, bis ich es nicht länger für mich behalten konnte. Mom hat mir nie Vorwürfe gemacht. Sie sagte, davon würde Dan auch nicht wieder lebendig. Aber ich wusste, wie furchtbar enttäuscht sie war.“

„Sie haben ihren Bruder nicht umgebracht, Robert“, sagte ich. „Wie es aussieht, ist irgendwer mit ihm dort rausgefahren und hat ihn allein zurückgelassen. Derjenige hat in Kauf genommen, dass Daniel erfrieren würde.“

„Ja, aber wer? Und wäre Dan nicht betrunken gewesen, wäre er womöglich nicht zu demjenigen ins Auto gestiegen.“

„Vielleicht ist er gar nicht freiwillig eingestiegen“, erwog ich. „Was ist eigentlich mit diesem Lucas Cardinal, Daniels Freund? Er war anscheinend der Letzte, der ihn lebend gesehen hat.“

„Lucas kam zu uns, nachdem Dan in dieser Nacht nicht nach Hause gekommen war und wir überall nach ihm gesucht hatten. Er sagte, sie hätten bei den Nicholsons Karten gespielt und sich von dort gegen elf auf den Heimweg gemacht. Vor dem Admiral, einer Bierkneipe Ecke Fife Street, in der sie oft herumhingen, wären sie getrennter Wege gegangen.“

„Hat Lucas gesagt, wann das war?“

„Ungefähr viertel nach elf. Dan hatte sich in den Kopf gesetzt, noch zu einem Mädchen zu gehen, auf das er scharf war, und Lucas hatte keinen Bock darauf, das fünfte Rad am Wagen zu sein.“

„Haben Sie ihm geglaubt?“

Robert seufzte. „Lucas war am Boden zerstört, als er erfuhr, dass Dan tot war. Er war sein bester Freund. Warum sollte er lügen?“

Weil Menschen lügen, wenn sie mit dem Rücken zur Wand stehen, dachte ich. Das liegt in ihrer Natur.

„Und das Mädchen, zu dem Daniel wollte?“

„Keine Ahnung, wer sie war. Lucas sagte, sie hieße Arlene und Dan würde sie erst seit kurzem kennen.“

„Haben Sie eine Ahnung, wo Lucas Cardinal jetzt ist?“

Blueboy schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe ihn seit Dans Beerdigung nicht mehr gesehen. Aber ungefähr vor drei Wochen, es war ein paar Tage vor Weihnachten, da klingelte das Telefon. Jemand sagte: ,Sie haben es wieder getan. Ich halte das nicht mehr aus.´ und legte auf. Ich glaube, das war Lucas, aber ich bin mir nicht sicher.“

„Wer hat was wieder getan?“

„Ich weiß es nicht, keine Ahnung. Aber wer das auch war am Telefon, er klang ziemlich fertig.“

„Fanden Sie es nicht merkwürdig, dass der beste Freund Ihres Bruders nach dessen mysteriösem Tod den Kontakt zu Ihrer Familie völlig abbrach?“

„Na ja, ganz so war es nicht. Auch Lucas wurde damals von der Polizei gesucht, weil er aus dem Jugendknast abgehauen war. Trotzdem kam er zu Dans Beerdigung. Zwei Polizisten in Zivil haben ihn festgenommen und zurück nach Oakdale Hall gebracht. Ein paar Monate später erfuhren wir, dass er wieder draußen war. Dass er uns nicht besuchte, darüber machten wir uns keine Gedanken. Wir hatten damals andere Sorgen und er mit Sicherheit auch.“

„Dass Lucas ein schlechtes Gewissen haben könnte, kam Ihnen nicht in den Sinn?“

„Nein. Er war Dans bester Freund. Lucas war vielleicht ein Gauner, aber mit dem Mord an Dan hat er mit Sicherheit nichts zu tun.“

Ich schluckte. Manchmal macht es mich zornig, wie gutgläubig Menschen sein konnten. Doch Robert war so erschöpft von all den schrecklichen Erinnerungen, die ihn während seines Berichtes eingeholt hatten, dass ich ihn nicht weiter quälen wollte. „Ich muss Lucas unbedingt sprechen. Wo hat er denn damals gewohnt?“

„North End, in der Manitoba Avenue 105. Nach diesem merkwürdigen Anruf bin ich dorthin gefahren. Aber da wohnt er nicht mehr. Seine Mutter ist tot und niemand weiß, wo er sein könnte. Es scheint, als wäre Lucas vom Erdboden verschwunden.“

Na wunderbar, dachte ich. Ein merkwürdiger Todesfall, der zehn Jahre zurückliegt, und der wichtigste Zeuge war verschwunden.

Nicht unbedingt die besten Voraussetzungen für ein schnelles Ende meines Aufenthaltes in Winterpeg.

Ich notierte die zuletzt bekannte Adresse von Lucas, vielleicht wusste ja doch einer der Nachbarn, wo er abgeblieben war. Dann hob ich den Blick und sagte: „Ich weiß, dass das schwer sein wird für Sie, Robert, aber ich muss mir die Stelle ansehen, an der man Daniel damals fand. Macht es Ihnen etwas aus, mich hinzubringen?“

„Nein, das ist in Ordnung“, sagte Robert. „Ich wusste, dass Sie mich darum bitten würden. Am besten wir erledigen das gleich morgen früh, wenn es Ihnen recht ist. Ich muss gegen zehn in der Stadt sein, wegen eines Jobs, aber vorher können wir hinfahren.“

„Das ist in Ordnung“, sagte ich. „Wann müssen wir aufbrechen?“

Er überlegte kurz. „Gegen acht, denke ich. Dann bleibt genug Zeit.“

Nachdem Robert eine große Tiefkühlpizza in den Herd geschoben hatte, redeten wir über Daniel und über die Stadt. In Roberts Augen erwies sich Winnipeg für die meisten Ureinwohner, die kamen, um einen Job zu finden, als Falle.

„Niemand bringt einem im Reservat bei, wie man in einer großen Stadt überlebt“, sagte er bitter. „Winnipeg hat meinen Bruder getötet.“

„Haben Sie je daran gedacht, wegzugehen, wie Ihre Schwester?“

„Habe ich“, sagte er. „Aber da ist dieses Haus, mein Job und ...“

Ich nickte. Die Hoffnung, dass seine Frau mit dem Jungen zurückkommen würde, hatte Robert offensichtlich noch nicht aufgegeben.

Wir teilten uns die Pizza und aßen schweigend. Als es Zeit wurde schlafen zu gehen, zeigte mir Robert das Zimmer, das für die nächsten Tage mein Büro und Schlafplatz sein sollte. Es war ein Kinderzimmer mit Tier- und Spiderman-Postern an den Wänden, einem breiten Bett und einem großen Schreibtisch aus hellem Holz. Steckdose und Telefonbuchse befanden sich in Reichweite. Ideal zum Arbeiten für mich.

„Früher war das mein Zimmer. Jetzt gehört es Nick, meinem Sohn. Er wird in zwei Tagen acht und ist ein großer Spiderman-Fan. Ich weiß nicht, wo Nick jetzt ist. Ich hoffe, eines Tages wird er sich bei mir melden.“

„Das wird er bestimmt“, sagte ich, und musste an Mike denken. „Das Zimmer ist in Ordnung. Danke, Robert.“

Er zeigte mir noch das Gästebad und wünschte mir eine gute Nacht.

Ich stellte den Laptop auf den Schreibtisch, stöpselte das Internetkabel in die Telefonbuchse und während der Computer hochfuhr, duschte ich heiß. Anschließend loggte ich mich bei meiner Lieblingssuchmaschine ein und suchte anhand von Roberts Namensliste und meinen Aufzeichnungen noch ein paar Adressen, Telefonnummern und Informationen über Stony Mountain und Oakdale Hall heraus.

Das Stony Mountain Gefängnis war eine bundesstaatliche Vollzugsanstalt mit um die fünfhundert Insassen und höchster Sicherheitsstufe. Es befand sich rund zwanzig Kilometer nördlich von Winnipeg. Ich notierte die Adresse und die Nummer der Verwaltung.

Mit ein paar Mausklicks fand ich heraus, dass Mark Flanagan immer noch Reporter bei der Winnipeg Free Press war und schrieb mir seine Nummer im Verlag auf. Bill Hallas Adresse war nicht im Telefonregister verzeichnet, das war bei den meisten Cops so. Auf diese Weise versuchten sie, ihre Familien zu schützen.

Aber so schnell gab ich nicht auf. Nach einigem Suchen stieß ich auf ein Internetportal mit verschiedenen Schulen der Stadt, in das ehemalige Schüler sich eintragen und auf diese Weise alte Klassenkameraden wiederfinden konnten. Auf der Seite der Inkster High School fand ich einen Bill Halla und ein Klassenfoto mit ihm. Ich zoomte sein Gesicht und sah die Narbe in seiner Oberlippe, dort, wo eine Hasenscharte korrigiert worden war. Ich notierte Hallas Adresse und seine Telefonnummer. Anschließend suchte ich auf dem Foto nach einem Jungen, der so weit weg von Halla stand, dass er vermutlich nicht mit ihm befreundet war, und fand einen Ryan LaSalle. Auch LaSalle hatte sich mit Adresse eingetragen. Er lebte derzeit in Toronto - das passte. Ich würde mit einem Trick versuchen, an Bill Halla heranzukommen.

Nachdem ich meine Notizen noch einmal durchgesehen hatte, schaltete ich den Computer ab und ging ins Bett. Obwohl ich todmüde war, konnte ich lange nicht einschlafen, denn meine Gedanken kreisen um das, was ich in den letzten Stunden über Daniel Blueboy erfahren hatte. Das Schicksal des Jungen berührte mich tief und es ging mir nicht aus dem Sinn, wie er gestorben war.

Wenn ich nur an die Kälte dachte, zog sich mein Magen zusammen und ein Frösteln kroch über meinen Rücken. Ich fragte mich, wie lange es dauert, bis einen gesunden jungen Mann bei Temperaturen von -28 °C der Tod ereilt. Dauert es Minuten? Stunden? Was mochte Daniel Blueboy gedacht haben, in der Zeit, bis sein Hirn ihm Streiche spielte, weil die Blutzirkulation langsamer wurde?

Ich wusste, dass Menschen, die den Kältetod sterben, in den letzten Momenten ihres Lebens oft eine brennende Hitze spüren. War Daniel Blueboy mit einem Gefühl von Wärme erfroren? Hatte er gewusst, dass er sterben würde?

Die Möglichkeit, dass Daniel seinen Tod selbst verschuldet hatte, dass er betrunken in den Schnee gefallen und an Unterkühlung gestorben war, musste ich in Betracht ziehen, aber aus irgendeinem Grund glaubte ich nicht daran. Das hatte etwas mit schlechten Erfahrungen zu tun, was unnatürliche Todesursachen bei Ureinwohnern anging. Die Polizei schenkte toten Indianern noch weniger Beachtung als lebenden, ob in den USA oder in Kanada, da gab es keinen Unterschied.

Allerdings waren die Dinge hier in Kanada vor über 500 Jahren etwas anders gelaufen als in Amerika. Als die ersten Europäer in den kanadischen Wäldern auftauchten, wurde ihnen sehr schnell klar, dass sie ohne Hilfe der Ureinwohner nicht überleben konnten. Aber sie waren auf die kostbaren Pelze aus, eine ihrer Haupteinnahmequellen in dieser Zeit. Otter- und Biberpelze waren als Kopfbedeckung in Europa sehr begehrt. Die Männer handelten die Pelze von den Indianern ein und verkauften sie mit gutem Gewinn an die Hudson Bay Company weiter. Um in den endlosen Wäldern jagen und Fallen stellen zu können, taten sie sich mit indianischen Frauen zusammen, die ihnen mit ihrem Wissen und ihren Fähigkeiten das Überleben sicherten. Einwintern nannte man das damals. Zahllose Mischlinge, Métis genannt, gingen aus diesen Verbindungen hervor.

Im 19. Jahrhundert änderte sich die Hutmode in Europa und der Pelzhandel brach zusammen. Engländer und Franzosen benutzen ihre indianischen Verbündeten jedoch weiterhin im Kampf um die koloniale Vormachtstellung.

In Kanada waren es jedoch weniger die Kriege, sondern vor allem die von den Weißen aus Europa eingeschleppten Krankheiten, die ganze Indianerdörfer auslöschten.

Später übernahm Kanada die „Indianerpolitik“ der USA: Indianerkinder wurden aus ihren Familien gerissen und in katholische Internatsschulen gesteckt, fernab von ihren Heimatdörfern. Viele Kinder wurden aus fadenscheinigen Gründen ihren indianischen Eltern weggenommen und von weißen Familien adoptiert.

Solche wie ich.

Nur, dass ich nicht sicher sein konnte, meinen Eltern tatsächlich weggenommen worden zu sein. Ich war 1969 geboren und zwar hier, in Manitoba. Das war auch schon alles, was ich über meine Herkunft wusste.

Damals wurde von den kanadischen Behörden noch ein Assimilationsprogramm praktiziert, das sich „Sixties Scoop“ nannte. Indianische Kinder aus problematischen Verhältnissen wurden aus ihren Familien entfernt und bevorzugt an weiße Mittelklassefamilien zur Adoption freigegeben. Das änderte sich erst mit dem Indian Welfare Act von 1978, der sicherstellen sollte, dass Indianerkinder nicht mehr aus dem Zuständigkeitsbereich des Stammes entfernt werden durften.

Meine Adoption hatte 1972 stattgefunden und somit war beides möglich. Margret und Carl Cameron, die beiden Menschen, die ich jahrelang für meine Eltern gehalten und geliebt hatte, waren möglicherweise in ihrem Wunsch Gutes tun zu wollen, so weit gegangen, dass sie mich aus meiner Familie gerissen hatten, nur weil es da vielleicht „problematische Verhältnisse“ gab. Oder meine Mutter hatte mich freiwillig weggeben. Ein paar Mal schon war mir der Verdacht gekommen, meine Adoptiveltern könnten mich gekauft haben und hatten deshalb nicht gewollt, dass ich etwas über meine wahre Herkunft erfuhr.

Ganz allmählich glitten meine Gedanken hinüber in das Reich der Träume. Es war nicht Daniel Blueboy, der leicht bekleidet durch eine klirrend kalte Nacht wankte, sondern ein anderer Junge, mit demselben Nachnamen.

Ich sah mich, ohne zu wissen, wer ich wirklich war. Ich wusste nur, dass ich furchtbar fror und nichts dagegen tun konnte. Denn alles, was ich am Leib trug, waren dünne Jeans und ein T-Shirt. Ich wollte um Hilfe rufen, aber aus meinem aufgerissenen Mund kamen bloß weiße Wolken und kein Laut. Es war still, sehr still, nur der Schnee knirschte unter meinen Füßen, die in Sommerschuhen steckten.

Dann sah ich sie – meine Mutter. Die richtige. Ich konnte ihr Gesicht nur undeutlich erkennen, aber ich wusste, dass sie es war. Sie stand vor mir auf dem Weg, eingehüllt in eine dicke warme Decke mit indianischen Mustern. Sie öffnete die Decke und ihre Arme, damit ich zu ihr käme.

In diesem Augenblick spürte ich die Eiseskälte an meinen Füßen und begann zu rennen. Ich lief, bis ich hörte, dass jemand dicht hinter mir war. Im Laufen drehte ich mich um und sah eine baumgroße Gestalt, die mich verfolgte. Sie war behaart, nicht menschlich. Der Windigo, der Kannibale mit dem Eisherzen, war mir auf den Fersen. Er streckte seinen behaarten Arm aus und griff nach mir. Seine Berührung war wie ein Stromstoß. Grelle Blitze zuckten in meinem Kopf und mein Körper krampfte sich zusammen. Ich schrie – und mein Schrei weckte mich.

Schweißgebadet saß ich im Bett und rang nach Atem. Zuerst wusste ich nicht, wo ich war und tastete blind nach dem Lichtschalter. Als das Licht der Nachttischlampe den Windigo vertrieb und Spiderman an der Wand über meinem Bett erschien, wurde mir einiges klarer. Ich versuchte, die Traumbilder abzuschütteln und hoffte, dass ich Robert nicht geweckt hatte mit meinem Schrei. Was sollte ich ihm sagen? Dass ich meine Mutter gesehen hatte und von einem behaarten Unhold mit einem Eisherzen verfolgt worden war?

Es blieb still im Haus. Erleichtert ließ ich mich auf das Bett zurückfallen und versuchte, wieder einzuschlafen.

Das Dröhnen eines Schneepfluges weckte mich am Morgen. Kurz darauf hörte ich, wie jemand Schnee schaufelte. Ich stand auf und sah aus dem Fenster. Es war Robert, der seine Einfahrt von den Schneemassen befreite.

Als ich aus der Dusche kam, lockte mich der Duft von Kaffee und gebratenem Speck in die Küche. Robert stand mit einer Gabel in der Hand am Herd und wendete Speckstreifen in der Pfanne.

„Ist gleich fertig“, sagte er und schlug die Eier am Pfannenrand auf.

Dass er sich um mich kümmerte, wusste ich zu schätzen. Ich schenkte mir Kaffee in eine Tasse, setzte mich und sah zu, wie er Eier und Speck verrührte. „Ich muss Ihnen noch etwas sagen, Robert.“

Blueboy schwieg. Schließlich stellte er die Pfanne mit dem Rührei auf den Tisch und blickte mich mit gerunzelter Stirn an. Ich sah, dass er Angst hatte. Er fürchtete, ich könnte einen Rückzieher machen, jetzt, wo ich all diese Dinge über Daniel und über seine eigene, quälende Schuld wusste.

„Hier in Kanada gilt meine Lizenz als Privatdetektiv nicht.“

Robert zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und setzte sich. Beim Schneeschaufeln war er ins Schwitzen gekommen und ein paar Haarsträhnen klebten feucht an seiner Stirn. „Aber das wussten Sie doch schon, bevor Sie hierher kamen?“

„Ja, natürlich.“ Ich schaufelte mir Speck und Eier auf meinen Teller. „Offiziell darf ich zwar nicht ermitteln, aber ich werde es trotzdem tun.“

Er musterte mich eindringlich, nickte und fragte nicht, warum ich diese Entscheidung getroffen hatte.

„Sollte mir etwas zustoßen oder ich im Gefängnis landen, dann rufen Sie bitte diese Nummer hier an.“ Ich gab ihm die Nummer von Alice. „Sie ist meine Schwester und weiß, was sie zu tun hat. Meine Frau würde sich nur unnötig aufregen.“

„Mach ich, Sie können sich auf mich verlassen.“ Er pinnte den Zettel mit einem Magneten an die Kühlschranktür. „Was werden Sie als nächstes tun? Ich meine, nachdem wir da draußen waren.“

Ich schluckte den letzten Bissen hinunter. „Sie wollen meinen Schlachtplan wissen?“

Er grinste zaghaft. „Ja.“

„Als erstes werde ich mit ein paar Leuten sprechen. Da ich ziemlich viel unterwegs sein werde, brauche ich einen Mietwagen.“

„Ich nehme Sie nachher mit in die Stadt und setze Sie bei einem Autoverleih ab“, sagte Robert, während er das Geschirr in die Spüle räumte. „Aber jetzt müssen wir los.“

Ich trank meinen Kaffee aus und brachte ihm die leere Tasse.

Starlight Blues

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