Читать книгу Starlight Blues - Antje Babendererde - Страница 7
4. Kapitel
Оглавление„Wo fange ich an?“, fragte Robert leise.
„Egal“, sagte ich. „Ich bin hier, um zuzuhören.“
Blueboy schien seine Gedanken zu sammeln. Das Ticken der Küchenuhr und das Knacken der Heizung waren die einzigen Geräusche im Raum. „Vor zehn Jahren war ich zweiundzwanzig“, begann er schließlich. „Unsere Mutter, Daniel, Scott und ich wohnten zusammen in diesem Haus. Als wir herzogen nach Winnipeg, das war 1992, da lebte unsere Schwester Emma noch bei uns und wir wohnten zunächst in North End, gleich hinter den Gleisen. Aber die Gegend wurde von Straßengangs kontrolliert, die Drogen- und Waffengeschäfte machten, und als Mom das mitbekam, wollte sie so schnell wie möglich dort weg. Ständig versuchte sie, uns von schlechten Einflüssen fernzuhalten. In North End, dem Harlem der Prärie - lernt man von klein auf, dass man zuerst zuschlagen muss, wenn man sich behaupten will. Aber wir waren neu und so bekamen wir die Prügel ab.“
Robert blies in seinen Kaffee und trank vorsichtig einen ersten Schluck. „Unsere Mutter nahm jeden Job an, den sie kriegen konnte. Als Emma dann eine Stelle bei Taco Bells bekam und etwas zusteuern konnte, mietete Mom dieses Haus hier.“ Er hob resigniert die Schultern. „Viel hat es nicht genützt, ein paar Blocks weiterzuziehen. Außer, dass wir auf eine bessere Schule gehen konnten, gab es keine wirkliche Grenze zwischen North End und West Kildonan, jedenfalls damals nicht.“ Er schwieg eine Weile, bevor er fortfuhr.
„Im November vor zehn Jahren, da war Emma mit ihrer kleinen Tochter zu ihrem Freund Josh gezogen, und wir drei Jungs machten unserer Mutter das Leben schwer. Ich hatte keinen Job und hockte zuhause, während Scott regelmäßig die Schule schwänzte und sich auf der Straße herumtrieb.
Daniel war kurz nach Moms Geburtstag wieder mal von den Cops aufgegriffen worden. Sie hatten ihn in Oakdale Hall eingebuchtet, das ist eine Jugendstrafanstalt - drüben in East Kildonan.“
„Was wurde ihm denn vorgeworfen?“, fragte ich nach.
„Mehrere Einbrüche, Diebstahl, Raub, Drogenbesitz.“ Robert seufzte. „Klingt nach einem üblen Burschen, ich weiß, aber Dan war nicht schlecht. Mein kleiner Bruder war ein helles Köpfchen, vermutlich der Schlauste von uns allen. Er brachte immer gute Noten nach Hause und von der 6. Klasse an spielte er in einer Footballmannschaft.“ Er schüttelte nachdenklich den Kopf. „Aber mit vierzehn begann Dan Alkohol zu trinken und kam zum ersten Mal ernsthaft mit dem Gesetz in Konflikt. Er wurde dabei erwischt, wie er einen Zigarettenautomaten knackte. Von da an ging es rasant weiter: Eingeschlagene Autofenster, kleinere Einbrüche, Ladendiebstähle, Sachbeschädigung, das ganze Programm eben.“
„Klingt nicht unbedingt nach einem hellen Köpfchen“, wagte ich einzuwenden.
„Keine Ahnung, aber ich glaube nicht, dass das Ganze irgendetwas mit Logik zu tun hatte. Es war der Kick, der ihn reizte. Dan hatte schon mehrere Male im Betongrab – wie er Oakdale Hall nannte – eingesessen. Er hasste es, dort zu sein. Leider hielt ihn das nicht davon ab, bei der nächsten Gelegenheit wieder loszuziehen und Mist zu bauen. Im Oktober 1997 kam er dann in so ein Resozialisierungsprogramm und musste in dieses Wohnheim für jugendliche Straftäter ziehen. Es sei seine letzte Chance, sagte der Richter, die letzte Alternative zum Knast.“
Ich machte mir ein paar Notizen auf meinen Spiralblock, was Robert gedankenverloren verfolgte. Als ich aufhörte zu schreiben und ihn fragend ansah, musste er sich erst wieder sammeln. Schließlich sprach er weiter: „Ein paar Tage vor seinem Tod war Dan aus dem Gemeinschaftshaus abgehauen und stand deshalb auf der Fahndungsliste der Cops. Mom wusste Bescheid, denn Conny Legrand, die Leiterin des Wohnheimes, hatte sie informiert. Als Dan schließlich am Samstag zu Hause auftauchte, rief Mom die Polizei nicht an. Das hätte sie niemals getan, es war einfach nicht ihre Art. Sie hatte jedem von uns versichert, dass wir immer nach Hause kommen könnten, wenn wir Probleme hätten, zu jeder Zeit. Darauf konnten wir uns verlassen.“
„Daniel hatte ganz offensichtlich große Probleme“, bemerkte ich. „Wenn er wusste, dass es seine letzte Chance war, warum ist er dann trotzdem abgehauen?“
Robert hob die Schultern. „Niemand von uns verstand ihn. Dan lächelte einfach und tat es als Bagatelle ab.“
„Kann ich mit Ihrer Mutter sprechen, Robert?“, fragte ich. „Lebt sie noch hier in Winnipeg?“
Blueboy schüttelte den Kopf und starrte in seinen Kaffeebecher. „Unsere Mutter hat drei Jahre nach Dans Tod eine Überdosis Schlaftabletten genommen. Meine Schwester hat sie zwar rechtzeitig gefunden und die Ärzte konnten ihr Leben retten, aber Mom war nicht mehr dieselbe. Emma ist mit ihr ins Reservat zurückgekehrt und hat sich all die Jahre um sie gekümmert. Und nun ist sie tot. Mom ist vor zwei Monaten an Herzversagen gestorben.“
„Das tut mir leid.“
„Es war eine Erlösung“, sagte er.
„Und Daniels Vater?“
„Väter gab es bei uns immer nur kurzzeitig. Meiner war weiß, das ist schwerlich zu übersehen. Daniels Vater verließ uns, da war Dan fünf und Scott drei. Danach zog Mom es vor, auf Väter zu verzichten.“
Ich holte das Familienfoto heran und zeigte auf den Mann an Betty Blueboys Seite.
„Onkel Vernon“, sagte Robert, „Moms Bruder.“ Sein Finger tippte nacheinander auf die abgelichteten Personen. „Emma mit ihrer Tochter Deena und ihrem Freund Josh. Dan, sein Freund Lucas, unser kleiner Bruder Scott, Tante Dolores - Vernons Frau - mit den drei Kindern, unseren Cousins und Cousinen.“
Ich deutete auf ein hübsches Mädchen, das - halb verdeckt von Scott - vor Daniel stand, und ungefähr in seinem Alter sein musste, vielleicht auch ein oder zwei Jahre jünger.
„Janelle“, sagte Robert. „Sie ist auch eine Cousine von uns. Das heißt, um genau zu sein, eine Cousine von Dan und Scott. Sie und ihre Schwester Therena wohnten damals nicht weit von hier und Dan hing öfter mit den beiden Mädchen herum. Wir haben erst später erfahren, dass die beiden mit Dans und Scotts Vater verwandt sind.“
„Hat Ihre Mutter noch andere Geschwister?“
„Nein. Nur Onkel Vernon. Er lebt inzwischen auch wieder im Reservat.“
„War Ihre Mutter je verheiratet?“ Das war eine Frage, die wenig mit dem toten Daniel zu tun hatte, sondern meiner immer noch schwelenden Hoffnung galt, meine leibliche Mutter zu finden. Aber davon konnte Robert nichts wissen.
„Ja, mit dem Vater meiner Schwester Emma. Aber Blueboy ist Moms Mädchenname. Nach der Scheidung hat sie ihn wieder angenommen.“
Es ist also möglich , dachte ich für einen Moment, bevor ich mich wieder ganz auf Daniel konzentrierte.
„Sie sagten, Ihre Schwester Emma lebt jetzt wieder im Reservat?“
„Ja, in Narrow River. Mom und Onkel Vernon sind dort geboren und aufgewachsen.“
„Ist Emma verheiratet mit diesem Josh?“ Ich tippte auf den jungen Mann an ihrer Seite.
„Nein. Als sie beschloss, mit ihrer Tochter und unserer kranken Mutter ins Reservat zurückzukehren, hat Josh sich aus dem Staub gemacht. Emma war damals wieder schwanger, das war hart für sie. Bis zuletzt hat sie sich um unsere Mutter gekümmert. Mom saß im Rollstuhl, müssen Sie wissen.“
„Ihre Schwester ist die Älteste?“
Er nickte. „Sie ist fünfunddreißig.“
„Und Scott, wo lebt der?“
Ich spürte ein kurzes Zögern, bemerkte einen verlegenen Blick. „Scott ist hier, in der Stadt. Er schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch. Manchmal kommt er zu mir, um zu reden, aber er bleibt nie länger als ein oder zwei Stunden.“
Ich sah auf, weil ich das Gefühl hatte, dass Robert noch etwas hinzufügen wollte, aber er wandte sich ab und erhob sich. „Noch einen Tee?“
„Danke, gern.“ Während er Tee nachgoss, machte ich Notizen, dann fragte ich: „Abgesehen von Ihrem Traum, Robert, was lässt Sie annehmen, dass Daniel ermordet wurde? Laut Zeitungsnotiz ging die Polizei von einer natürlichen Todesursache aus.“
Blueboy setzte sich wieder. Seine kräftigen Hände auf dem Tisch ballten sich zu Fäusten, bis die Fingerknöchel weiß hervortraten. „Der Pathologe, der Dans Leiche untersucht hat, muss blind gewesen sein wie ein Maulwurf“, sagte er aufgebracht. „Als Dan im Sarg lag, haben wir alle gesehen, dass die Haut auf seiner linken Wange aufgerissen war und er zwei blutige Einschnitte auf dem Nasenrücken hatte. Nicht mal die dicke Schminke konnte die Kerben überdecken. Mom wäre beinahe in Ohnmacht gefallen, als sie das sah. Außerdem bekamen wir seine persönlichen Sachen und die Kleidungsstücke nicht zurück. Unsere Mutter war ein paar Mal im Krankenhaus und hat danach gefragt, sogar noch, nachdem der Fall bereits abgeschlossen war. Aber sie haben ihr die Sachen einfach nicht herausgegeben. Irgendetwas ist faul an Dans Tod, da bin ich mir sicher.“
Ich erkundigte mich nach dem Namen des Krankenhauses. Das Seven Lakes General Hospital befand sich nur ein paar Straßenkreuzungen von Roberts Haus entfernt.
„Und es gab keine gerichtliche Untersuchung?“
„Nein. Der Pathologe behauptete, dazu bestünde kein Anlass. Er sagte, Dans Verletzungen wären nur oberflächlich und durch seinen Sturz in den Schnee entstanden. Er hätte bei seiner Untersuchung keine Anzeichen von Fremdeinwirkung feststellen können. Dan war betrunken, er war gefallen und nicht wieder aufgestanden.“
„Hat Ihre Familie eine Kopie des Autopsieberichtes bekommen?“
„Nein“, sagte Robert mit einiger Verwunderung.
„Eigentlich ist das üblich“, bemerkte ich.
„Wir haben nichts bekommen, da bin ich mir sicher.“
„Hat Daniel Drogen genommen?“
Diese Frage beantwortete Robert mit Schweigen. Als ich dachte, er hätte sie vielleicht nicht gehört, und sie wiederholen wollte, sagte er: „Ein bisschen Dope hin und wieder. Wie wir alle.“ Seine Stimme war leise.
Natürlich wollte Robert Blueboy nicht, dass ich seinen Bruder für einen Herumtreiber hielt, einen Säufer und Junkie, der früher oder später sowieso für immer im Knast gelandet wäre.
„Ich weiß, dass das schwer für Sie ist, Robert, aber es gibt ein paar Dinge, die ich wissen muss, auch wenn ich damit alte Wunden wieder aufreiße.“
„Schon in Ordnung“, murmelte er.
„War Daniel Mitglied einer Straßengang?“
Diesmal schüttelte Robert vehement den Kopf. „Nein, das war er nicht. Dan mag eine Menge Bockmist verzapft haben ... vielleicht war er leichtsinnig, aber mein kleiner Bruder war nicht lebensmüde. Mit diesen Leuten hätte er sich niemals eingelassen. Schon allein wegen Mom.“
Ich nickte. Mein Instinkt sagte mir, dass Robert sich schuldig fühlte am Tod seines Bruders und nicht wollte, dass die Erinnerung an ihn beschmutzt wurde.
„Es gab damals einen Zeitungsartikel in der Winnipeg Free Press von einem Mark Flanagan, der Zweifel an der Version der Polizei äußerte“, versuchte ich, das Gespräch wieder in Gang zu bringen.
„Ja, stimmt. Ein paar Tage nach Dans Beerdigung war ein Journalist bei uns und hat mit Mom gesprochen. Hinterher war sie noch einmal voller Hoffnung, dass wir vielleicht doch erfahren würden, was in jener Nacht mit Dan passiert ist. Flanagan hatte unserer Mutter versprochen, der Sache auf den Grund zu gehen. Er ließ sich nie wieder blicken.“ Robert sah mich an. „Tja, so ist diese Stadt: Für einen toten Indianerjungen reißt sich hier keiner ein Bein aus.“
Das ist nicht nur in Winnipeg so, dachte ich.
„Ich brauche noch mehr Namen und Adressen, Robert. Die von sämtlichen Familienmitgliedern auf diesem Bild. Namen von Freunden und Lehrern. Leute, die Daniel kannten. Schreiben Sie mir alle Namen auf, die Ihnen einfallen.“
Er nickte.
„Erinnern Sie sich noch an den Namen des Polizeibeamten, der damals in Daniels Fall ermittelt hat?“
„Von Ermittlungen kann wohl kaum die Rede sein“, antwortete Robert. „Aber ich erinnere mich. Es war ein Sergant, der uns die Nachricht überbrachte, dass man Dan draußen an den Gleisen gefunden hatte. Er hieß Homer Stout. Ich erinnere mich an seinen Namen, weil er so ungewöhnlich war. Sergant Stout kam zu uns nach Hause und sagte, Dan sei erfroren und Hinweise auf Fremdeinwirkung gebe es ganz offensichtlich nicht. Sollte die Autopsie etwas anderes ergeben, werde noch einmal jemand vorbeikommen und Fragen stellen.“
„Das war alles?“
„Ja.“
„Und, kam noch einmal jemand vorbei?“
Wieder nickte Robert. „Ja. Drei oder vier Tage später standen zwei Cops vor der Tür. Ein älterer Mann - an seinen Namen erinnere ich mich leider nicht mehr. Aber er war einer von uns, ein Cree. Bei ihm war ein junger weißer Polizist mit einer Narbe hier, so einer ...“, Robert suchte nach dem Begriff und tippte an seine Oberlippe.
„Hasenscharte?“, half ich.
„Ja, genau. Er hieß Halla, Bill Halla. Er kam mir irgendwie bekannt vor und während des Gesprächs fiel mir wieder ein, woher ich ihn kannte. Wir waren eine Zeit lang auf dieselbe Schule gegangen und er hatte mir mal geholfen, als ein paar Typen mich verprügeln wollten.“
„Haben Sie es ihm gesagt?“
„Was?“
„Na, dass Sie Schulkameraden waren?“
„Nein.“ Robert schüttelte den Kopf.
„Warum nicht?“
„Keine Ahnung, er war ein Cop. Und es ging dabei schließlich um Dan.“
„Wie hieß denn die Schule, die Sie beide besucht haben?“
„Das war die Inkster High School.”
„Gibt es die noch?“
„Ja.“
Ich notierte Hallas Namen und den der Schule, dann nickte ich Robert aufmunternd zu fortzufahren.
„Halla und der indianische Cop fragten uns über Dan aus und sie versprachen, uns über die Ermittlungen auf dem Laufenden zu halten. Aber als Sergant Stout nach ein paar Tagen anrief, teilte er uns nur mit, dass der Fall abgeschlossen sei. Die Obduktion und die Befragung der Zeugen hatten keine neuen Anhaltspunkte ergeben.“
„In einer Zeitungsnotiz stand, Daniel sei vermutlich auf dem Weg ins nahegelegene Stony Mountain Gefängnis gewesen, um sich dort selbst zu stellen. Könnte da was dran sein?“
„Wohl kaum.“ Robert schüttelte den Kopf. „Geht man querfeldein, sind es von der Stelle, an der man Dan fand, tatsächlich nur noch vier oder fünf Kilometer bis nach Stony Mountain. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass mein Bruder dort hin wollte. Er hatte Mom versprochen, ins Wohnheim zurückzugehen. Warum sollte er sich mitten in der Nacht in einen Erwachsenenknast mit zweifelhaftem Ruf begeben, wo er schon den absoluten Horror vor Oakdale Hall hatte? Mein Bruder war nicht lebensmüde. Nein, betrunken oder nicht, freiwillig wäre Dan niemals nach Stony Mountain gegangen.“
Ich nickte, denn diese Version hatte ich von Anfang an für unwahrscheinlich gehalten. „Daniel wurde am Morgen des 27. November gefunden“, sagte ich. „Wann haben Sie Ihren Bruder zuletzt lebend gesehen?“
„Fünf Tage zuvor, am 22. November.“ Robert schloss die Augen, als würde er sich den Abend noch einmal vergegenwärtigen. „Es war ein Samstagnachmittag, ein frostiger Tag, und ich erinnere mich an die Kälte, die Dan mit ins Haus brachte.“ Robert schluckte hart. „Dan umarmte erst unsere Mutter und dann mich. Er fragte nach Scott und ich roch den Alkohol in seinem Atem. Mom hatte, was Alkohol und Drogen anging, strenge Regeln. Beides war in diesem Haus verboten. Aber sie sagte erst einmal nichts. Sie war einfach nur froh, Dan wieder bei sich zu haben.“
„Okay. Was passierte weiter?“
„Wir tranken Tee. Ich merkte gleich, dass Dan unter Druck stand. Er war nervös, irgendwie unruhig, aber schließlich waren ja auch die Cops hinter ihm her. Er versuchte wohl, das einfach zu verdrängen, darin war er ein Meister. Als wäre es ein ganz normaler Nachmittag, fragte Dan nach dem Mädchen, in das ich damals verliebt war. Er machte sich lustig über mich, weil ich sie noch nicht ins Bett gekriegt hatte. Mein kleiner Bruder hatte nie Probleme mit Mädchen, er konnte jede haben.“ Robert schwieg einen Moment. „Ich hatte genug von seinem Spott und verließ die Küche. Als ich von der Toilette kam, hörte ich, wie unsere Mutter ihm Vorhaltungen machte. ,Du hast getrunken’, sagte sie. ,Ach Mom, nur ein bisschen’, versuchte er sie zu beschwichtigen. ,Conny hat angerufen’, sagte Mom daraufhin.“
Robert seufzte. „Conny Legrand, die Leiterin des Wohnheimes, schien meinen kleinen Bruder zu mögen und sie machte sich Sorgen um ihn. Mom versicherte Dan, dass ihm nichts passieren würde, wenn er sich entschließen könne, noch heute ins Wohnheim zurückzukehren. ,Ruf Conny an’, sagte sie, ,sie wartet darauf.’ Doch Dan druckste herum.“ Robert lehnte sich zurück. „Ich denke, Conny Legrands Vertrauen bedeutete ihm etwas und er wusste nur zu gut, dass er dabei war, vollkommen abzurutschen.“ Robert starrte auf das Foto seines Bruders. „Dan hörte sich die Vorwürfe unserer Mutter schweigend an: Einbrüche, gestohlene Autos – und das alles nur für Alkohol und Dope. Der ganze Ärger mit der Polizei, ein Teufelskreis. Mom warnte ihn: ,In vier Monaten wirst du achtzehn, Junge. Dann fallen deine Vergehen nicht mehr unter das Jugendstrafrecht.’
Dan wollte nicht ins Gefängnis, er war nicht dumm. Die Zeit im Jugendknast war schlimm genug gewesen für ihn. Also willigte er ein und versprach unserer Mutter, ins Wohnheim zurückzugehen.“
„Aber das hat er nicht getan“, stellte ich fest.
Robert stand auf und goss sich noch einmal Kaffee nach, bevor er fortfuhr. „Ich hörte damals nicht, was die beiden weiter besprachen, denn ich hatte mich in mein Zimmer verzogen. Ich war sauer auf Dan, weil er sich immer alles erlauben konnte. Weil er bloß sein charmantes Lächeln aufsetzen musste und Mom verzieh ihm. Emma, Scott und ich hatten es da nicht ganz so leicht.“
Robert trank einen Schluck von seinem Kaffee und schwieg eine Weile. Er schien nachzudenken und würde weitersprechen, wenn er so weit war.
„Nachdem wir wussten, dass Dan tot war, erzählte mir meine Mutter, dass sie ihn an jenem Abend gedrängt hatte, Conny Legrand gleich anzurufen. Sie hatte ihm den Telefonhörer in die Hand gedrückt, aber er hatte sie überredet, noch diesen einen Abend mit seinen Freunden verbringen zu dürfen. ,Bloß ein bisschen Karten spielen und Musik hören, Mom’, hatte er gesagt. Am nächsten Morgen wollte er Conny anrufen, damit sie ihn zu Hause abholen sollte. Mom wusste, dass Daniel hielt, was er versprach. Also ließ sie ihn gehen.“
„Und das war das letzte Mal, dass Sie Ihren Bruder lebend gesehen haben?“
„Nein.“ Ein gequältes Stöhnen kam aus Roberts Kehle. „Er kam an diesem Abend noch einmal nach Hause.“