Читать книгу Starlight Blues - Antje Babendererde - Страница 5
2. Kapitel
ОглавлениеAus praktischen Gründen befand sich mein Detektiv-Büro im Verlagsgebäude des Olympic Independent, einem zweistöckigen Bau mit gelber Bretterverkleidung am Pier 54, gegenüber dem Seattle Fire Departement. Der Raum im ersten Stock hatte zwei große Fenster. Eines mit Blick auf die Elliott Bay und eines, von dem aus ich bei klarem Wetter den Mount Rainier am südlichen Horizont sehen konnte.
Mein Adoptivvater, der aus dem sonnigen Kalifornien stammte, kam 1965 nach Seattle, erwarb das Gebäude und gründete zwei Jahre später seinen Zeitungsverlag – gleich mit großem Erfolg. Er lernte Margret kennen, eine Kanadierin aus der Provinz Manitoba, die als Studentin nach Seattle gekommen war und sich als Sekretärin bei ihm beworben hatte. Laut meinen Adoptiveltern war es Liebe auf den ersten Blick. Die beiden heirateten wenig später und erwarben eine viktorianische Villa auf Mercer Island, in der Alice und ich aufwuchsen.
Das Haus war viel zu groß für vier Menschen und für zwei erst recht. Nach dem Tod unserer Eltern verkauften wir die Villa und Alice lebte seitdem in einem Apartment im Norden von Seattle.
Kurz nach meiner Rückkehr in die Stadt lernte ich Susan kennen, wir heirateten ein Jahr später und kauften uns ein Haus in der Nähe des Uni-Geländes. Susan konnte zur Arbeit laufen, ich fuhr jeden Tag mit dem alten Jeep Jerokee in mein Büro am Hafen.
Nasser Schnee flog mir ins Gesicht, als ich das Verlagsgebäude verließ. Auf dem schwarzen Wasser des Pudget Sound tanzten weiße Schaumkronen. Ich fasste mein langes Haar im Nacken zusammen und sah zu, dass ich zu meinem Wagen kam. Mein Parkplatz lag gleich gegenüber, unter dem Viadukt, einem hässlichen grauen Betonbau, der den Hafen vom Stadtzentrum trennte, und auf dem jetzt der Nachmittagsverkehr rollte.
Ich warf den Motor an und drehte sofort die Heizung hoch. Unterwegs machte ich einen Zwischenstopp am Pioneer Place, um für Amina ein Buch und bei Lilly’s Sweets an der Ecke zwei Tüten Salzwasser Toffees zu kaufen. Es war spät geworden, und auf dem restlichen Heimweg dachte ich darüber nach, wie ich Susan die Verspätung erklären sollte.
Unser einstöckiges Holzhaus stand am Capitol Hill, ein paar Blocks hinter dem Universitätsgelände. Auf dem Weg dorthin war das Schneetreiben dichter geworden. Ich parkte in der Einfahrt und eilte die Stufen zum überdachten Eingang hinauf. Noch bevor ich den Schlüssel ins Schloss stecken konnte, öffnete sich die Tür und Mike sprang mir an den Hals. „Hi, Daddy“, sagte er mit leuchtenden Augen. „Hast du heute wieder einen Killer gejagt?“
Ich lachte und drückte meinen Sohn an mich. „Nein Mike, heute war gar nichts los. Bei diesem Wetter bleiben die Leute in ihren warmen Häusern, gucken Fernsehserien und kochen gutes Essen. Da haben sie keine Lust, Dummheiten zu machen.“
Natürlich erwartete mein Sohn eine brandneue Verbrechergeschichte von mir, aber ich hatte keine. Stattdessen kreisten meine Gedanken um Daniel Blueboy, den erfrorenen Indianerjungen aus Winnipeg.
„Wie geht es deiner Schwester?“, fragte ich.
„Sie sitzt in ihrem Zimmer und redet mit niemandem.“ Mike verdrehte gelangweilt die Augen. Er war acht und manchmal fiel es ihm schwer, mit seiner zwei Jahre älteren Schwester auszukommen. Amina war ein stilles, zurückhaltendes Mädchen, der alles, was sie anfing, gelang. Mike hingegen war ein Unglücksrabe, oft machte er sich selbst das Leben schwer. Dass seine perfekte Schwester sich den Arm gebrochen hatte, tat ihm durchaus leid, aber die Tatsache, dass auch bei ihr mal etwas schiefgegeangen war, schien ihn zu erleichtern.
Susan begrüßte mich mit einem enttäuschten: „Ich hatte dich eher erwartet.“
„Ich war noch in der Stadt, um Amina ein Buch zu besorgen“, brachte ich zu meiner Entschuldigung hervor.
„Und das hat so lange gedauert?“ Skeptisch blickte sie mich an. „Amina steht vermutlich noch unter Schock. Sie spricht nicht.“
Das tat Amina immer, wenn sie wollte, dass ihr Vater auf der Stelle zu ihr kam, um sie zu trösten. „Ich kriege das schon hin“, beruhigte ich sie und legte Mike die Hände auf die Schultern. „Geh schon mal in euer Zimmer“, bat ich ihn. „Ich komme gleich und lese euch etwas vor.“
Mike huschte davon und ich sah meine Frau an. Ihre Augen hatten diesen traurigen, unnahbaren Blick, den ich erst seit ein paar Monaten kannte und der mich verunsicherte, wenn ich ihm begegnete.
Vor elf Jahren hatte ich Susan bei Recherchen für einen Artikel über indianische Studenten kennengelernt und mich auf der Stelle in sie verliebt. Ich hatte mich in ihr Lachen verliebt. Susan hatte dunkles Haar und einen dunklen Teint und als ich sie fragte, von welchem Volk sie abstamme, lachte sie. Es gab keine indianischen Vorfahren in ihrer Familie, Susans Wurzeln lagen auf Sizilien – und darauf war sie stolz.
Ihre unbändige Lebenslust faszinierte mich, ihre unkomplizierte Art. Natürlich gab es noch andere, denen es genauso erging, und ich litt darunter, dass Susan ihr Lachen so freigiebig verschenkte. Umso überraschter war ich, als ich herausfand, dass ich der erste Mann war, mit dem sie schlief. Susan war damals dreiundzwanzig.
Zehn Jahre waren wir inzwischen verheiratet und obwohl ich mir geschworen hatte, dass Susan von nun an die Einzige sein würde, war ich im vergangenen Jahr gleich zweimal vom Wege abgekommen. Ich liebte meine Frau und hatte mich so bemüht, treu zu sein. Es war einfach passiert. Ich wollte meine Ehe nicht aufs Spiel setzen und hoffte, Susan würde niemals von diesen Entgleisungen erfahren. Aber sie war meine Frau und wusste alles, was es über mich zu wissen gab. Vielleicht ahnte sie auch, dass es andere Frauen gab, denn in letzter Zeit war sie ungeduldiger mit mir als sonst, und in ihren Augen entdeckte ich manchmal diese tiefe Traurigkeit, die mein schlechtes Gewissen auf Hochtouren brachte.
Ich machte einen Schritt auf sie zu, um sie in den Arm zu nehmen, aber Susan sagte: „Geh schon. Amina wartet auf dich.“
Im Kinderzimmer steckte ich Mike eine der beiden Toffee-Tüten zu, obwohl ich wusste, dass seine Mutter etwas gegen die bunten, klebrig-süßen Dinger hatte. Ich hoffte, es würde keine neue Grundsatzdiskussion auslösen, wenn sie die Bonbonpapiere entdeckte. Meine Kinder liebten diese Toffees nun mal.
Amina saß mit Kopfhörern im Ohr auf ihrem Bett. Die große Ähnlichkeit mit ihrer Mutter war immer wieder verblüffend: Dasselbe schmale Gesicht, die großen braunen Augen, das leicht lockige Haar.
Ihre stumme Umarmung fiel durch den Gips recht kläglich aus. Ich setzte mich neben sie, wickelte einen weiß-blauen Toffee aus dem Papier und schob ihn in ihren Mund. Ein winziges Lächeln huschte über ihr Gesicht. Und als ich ihr und Mike aus dem Buch vorlas, das von einem einsamen Wal handelte, der auf abenteuerliche Weise eine neue Familie fand, begann Amina wieder zu sprechen.
Nachdem ich ihr den kleinen Wal mit schwarzem Filzstift auf den schneeweißen Gips gemalt hatte, umarmte sie mich ein zweites Mal. Ich mochte den kindlichen Duft ihrer Haare, liebte ihre Umarmungen. Nicht mehr lange, und die Pubertät würde über meine Tochter hereinbrechen.
Am Abend saßen wir alle zusammen in der Küche und im ganzen Haus duftete es köstlich nach Lasagne. Susan kochte gerne. Und owohl ihr Job als Dozentin für Kunst und Amerikanische Geschichte an der University of Washington sie ziemlich auf Trab hielt, verwöhnte sie uns regelmäßig mit köstlichen Gerichten.
Für eine Weile schien alles im Lot zu sein. Mike stocherte mit vorgeschobener Unterlippe in seinem Essen herum, weil Amina unsere volle Aufmerksamkeit hatte, während sie vom Krankenhaus erzählte. Ihre Wangen glühten rot, die Augen leuchteten. Sie hatte den Schock überwunden.
Nachdem die Kinder den Tisch verlassen hatten, um ihre Lieblingssendung „Die Flintstones“ anzusehen, eröffnete Susan mir, dass ich am kommenden Montag allein zur Elternversammlung gehen müsse, weil sie eine Abendveranstaltung mit einem Archäologieprofessor hatte. Sie hatte den Mann eingeladen, also müsse sie auch anwesend sein und sich um ihn kümmern.
„Das wird schwierig“, wandte ich ein. Meine Hoffnung auf einen friedlichen Abend schwand schlagartig. Susans Begeisterung über meinen neuen Beruf hatte sich von Anfang an in Grenzen gehalten. Oft war ich für mehrere Tage oder sogar Wochen im Land unterwegs, um meine Fälle zu lösen. Ich wusste, dass Susan Angst um mich hatte, auch wenn ich ihr nie in vollem Umfang berichtete, in welche Gefahr ich mich hin und wieder brachte.
Es nützte nichts, ich musste ihr beibringen, dass ich am Montag nicht mehr hier sein würde. Also erzählte ich ihr von diesem Anruf aus Winnipeg.
„Du hast einen Fall angenommen, der zehn Jahre zurückliegt?“ Verwundert sah sie mich an. Vermutlich hatte sie die Verbindung zwischen meinem Fall und den Schwierigkeiten in Sachen Elternversammlung noch nicht hergestellt.
„Nun, dieser Robert Blueboy ist der festen Überzeugung, dass sein Bruder ermordet wurde.“
Susan, die gerade dabei war, den Tisch abzuräumen, hielt abrupt inne. Mit Sicherheit klingelten bei ihr nun sämtliche Alarmglocken. „Wie, sagtest du, ist der Name des Mannes?“
Ich zögerte einen Moment. „Du hast mich schon richtig verstanden.“
Die Teller in der Hand, musterte meine Frau mich eindringlich. „Du hast den Gedanken immer noch nicht aufgegeben, stimmt’s?“
„Nein“, erwiderte ich verdrossen. „Ich werde den Gedanken, meine Familie zu finden, nicht aufgegeben.“
„Du verlässt uns also wieder einmal.“
Wie sie das sagte, klang es tatsächlich so, als würde ich meine Familie verlassen, um verwerfliche Dinge zu tun. Dabei tat ich nur, was ich tun musste. Doch mit Susan darüber zu diskutieren, führte zu nichts. Ich verdiente kein Geld mit diesem Job und meine Familie brauchte mich ebenso, wie diese Menschen mich brauchten. Punkt.
„Ich fliege übermorgen nach Winnipeg und werde vermutlich ein paar Tage weg sein.“
„Übermorgen schon?“ Hart stellte sie die Teller auf den Tisch zurück, dass es klirrte. „Aber Amina braucht dich jetzt. Hättest du das Ganze nicht ein paar Tage verschieben können? Dieser Junge ist seit zehn Jahren tot, es hätte ihm sicher nichts ausgemacht, noch ein bisschen länger zu warten, bis du dich seiner annimmst.“
Ich dachte daran, wie durcheinander Robert am Telefon gewirkt hatte. „Das ist mein Job, Susan und außerdem hatte ich meinen Flug schon gebucht, als du mich heute wegen Amina angerufen hast.“
Ich griff ungern zu dieser Notlüge, aber ich hatte auch keine Lust, als schlechter Vater hingestellt zu werden. „Und wir haben ja auch noch Kathy.“
Kathy Sloan war eine von Susans Studentinnen. Sie passte auf die Kinder auf, wenn meine Frau und ich ausgehen wollten oder wir beide noch am Abend beruflich zu tun hatten, was hin und wieder vorkam.
„Soll Kathy auf die Kinder aufpassen oder zur Elternversammlung gehen?“, fauchte sie mich an und verließ die Küche.
Ich räumte das Geschirr in den Spüler und wischte den Tisch ab. Anschließend schickte ich die Kinder ins Bad. Susan saß an ihrem Schreibtisch. Vermutlich korrigierte sie Arbeiten ihrer Studenten.
Amina ließ sich von mir beim Waschen helfen und ich fragte mich, wie lange ich das wohl noch durfte. Es war mühsam, den Gipsarm im Schlafanzugärmel unterzubringen.
Schließlich saß ich mit beiden Kindern auf Aminas Bett und erzählte ihnen Geschichten. In der Zeit, in der ich in verschiedenen Reservaten gelebt hatte, waren mir an nächtlichen Lagerfeuern unzählige Geschichten zu Ohren gekommen. Einige davon waren zu hart, die behielt ich für mich. Aber es gab andere, Geschichten, die gut ausgingen und Hoffnung gaben.
Amina hatte immer ein offenes Ohr für Storys aus dem Indianerleben, weil sie sich auf ihre kindliche Art damit identifizierte. Mike hingegen wollte lieber Verbrechergeschichten aus erster Hand hören. Indianergeschichten, in denen Menschen mit Tieren sprachen, fand er langweilig. Nur die Geschichte vom Windigo, dem kannibalischen Geist aus der Wildnis, fazinierte ihn. Den Windigo fand Mike toll.
Vor ein paar Tagen erst, war Amina in der Bibliothek auf dieses Buch über das Volk der Cree mit der bebilderten Geschichte des Windigo gestoßen und hatte sie Mike gezeigt. Beide waren damit zu mir gekommen. Natürlich kannte ich die Windigo-Geschichte, sie war für mich jedoch mit einem unerklärlichen Grauen behaftet. Ich mochte sie nicht, denn der menschenfressende Unhold geisterte seit ich denken konnte durch meine Nächte und verursachte mir Albträume. Aber das wollte und konnte ich vor meinen Kindern nicht zugeben. Also erzählte ich ihnen an diesem Abend zum wiederholten Mal, was ich über den Windigo wusste.
„Einst war der Windigo ein Mensch wie du und ich. Es war im tiefen Winter, als er schon einige Tage hungrig durch die Wälder streifte, auf der Suche nach einem Tier, das er erlegen konnte. Da begegnete er einer wilden Kreatur, die hatte Haare im Gesicht, an den Armen und Beinen, und besaß ein Herz aus Eis. Da wurde auch sein Herz zu Eis, und von diesem Moment an war er unfähig, menschliche Gefühle zu empfinden. Er irrt umher auf der Suche nach neuen Opfern. Und wer nicht aufpasst, den erwischt er und verspeist ihn.“
Ich packte Mike, zeigte meine Zähne und knurrte wie ein Ungeheuer. Mein Sohn quietschte und lachte vor Vergnügen. Amina verdrehte die Augen. Für meine Kinder war der Windigo ein Märchenwesen - und vor einem Märchenwesen fürchtete man sich nicht.
Ich blieb bei ihnen, bis sie eingeschlafen waren. Nachdenklich betrachtete ich meinen Sohn, der mir sehr ähnlich sah, mit seinem glatten Haar und den schrägen Augen. Mike wollte kein Indianer sein, nicht einmal ein halber. Wie würde er in ein paar Jahren damit klarkommen? Es verletzte mich natürlich, dass Mike mit seiner indianischen Hälfte ein Problem hatte, aber ich wusste, wie er sich fühlte.
Im Alter von acht Jahren hatten auch für mich die Probleme begonnen. Ich sah anders aus als die Kinder, mit denen ich auf Mercer Island zur Schule ging. Aber was noch schlimmer war, ich sah auch anders aus als meine eigene Schwester. Ich fand mich hässlich und litt darunter. Bis Mom mir von ihrer Großmutter erzählte. Granny Arlette war zu drei Vierteln Cree-Indianerin und meine Mutter begründete mein Aussehen mit dieser Blutsverwandtschaft. Sie erzählte mir, dass es genetische Merkmale gibt, die manchmal ganze Generationen überspringen und dann unversehens wieder auftauchen - so wie bei mir. Sie besaß ein vergilbtes schwarz-weiß Foto von Granny Arlette, das sie als junge Frau zeigte, und die verblüffende Ähnlichkeit mit mir überzeugte mich letztendlich.
Doch vor vierzehn Jahren stürzte die Cessna ab, mit der Mom und Dad zum Angelurlaub in Kanada unterwegs waren. Als Alice und ich den Nachlass unserer Eltern sichteten, fielen mir zwischen ihrer Heiratsurkunde, verschiedenen Versicherungspolicen und den Übertragungsurkunden für Verlag und Haus, meine Adoptionspapiere in die Hände. Die Tatsache, dass sie mich belogen hatten, war ein Schock für mich und wirbelte mein Leben mächtig durcheinander. Was heute wahr ist, kann morgen schon nicht mehr wahr sein - das war die Lektion, die ich damals lernte.
Seit dem Tod der beiden war ich auf der Suche nach meiner Vergangenheit. Ich wollte sie finden, meine leibliche Mutter, meinen Vater. Vielleicht hatte ich Brüder und Schwestern, Onkel und Tanten. Menschen, deren genetisches Muster zu meinem passte. Und obwohl meine Nachforschungen bisher ohne Erfolg geblieben waren, konnte ich nicht aufgeben. Das hatte wohl etwas mit Identität zu tun, mit meinen Wurzeln oder auch nur mit der einfachen Wahrheit, die man mir aus unerfindlichen Gründen verweigert hatte.
Auf leisen Sohlen schlich ich aus dem Kinderzimmer, setzte ich mich an meinen Schreibtisch und fuhr den Computer hoch. Es war an der Zeit, etwas über Daniel Blueboy herauszufinden.
Obwohl ich verschiedene Suchmaschinen benutzte, war die Ausbeute unbefriedigend. Zuerst fand ich einen kurzen Zeitungsbericht vom 28. November 1997. Der siebzehnjährige Cree-Indianer Daniel Blueboy - ein jugendlicher Straftäter - war in den Morgenstunden des 27. November 1997 dreizehn Kilometer außerhalb der Stadt von zwei Gleisarbeitern tot aufgefunden worden. Der Pathologe hatte Alkohol im Blut des Jungen festgestellt und eine gewaltsame Todesursache ausgeschlossen. Blueboy starb an Unterkühlung. In der Nacht seines Todes war die Temperatur auf -28°C gesunken, und der Junge hatte nur T-Shirt, Flanellhemd, einen einfachen Jeansanzug und Sommerschuhen getragen. Die Winnipegger Stadtpolizei vermutete, dass Daniel Blueboy auf dem Weg in das fünf Kilometer entfernte Stony Mountain-Gefängnis gewesen war, um sich dort freiwillig zu stellen.
Diese Zeitungsnotiz - ein Polizeibericht im Lokalteil der Winnipeg Sun - war keine zehn Zeilen lang. Trotzdem wusste ich nun etwas mehr. Und ärgerte mich. Warum hatte Robert Blueboy mir nicht erzählt, dass sein kleiner Bruder in der Nacht, in der er starb, betrunken war und zudem polizeilich gesucht wurde? War Daniel ein Herumtreiber und Krimineller gewesen? Vielleicht hatte er mit Drogen gedealt, hatte versucht, ein kleines Geschäft nebenher zu machen, und war in einem Bandenkrieg zwischen die Fronten geraten. Auf diese Weise waren schon viele Jugendliche unter der Erde gelandet.
Wie auch immer: Niemand hatte es verdient, so zu sterben.
Bei meinen Recherchen stieß ich schließlich auf einen Artikel, den ein Reporter der Winnipeg Free Press am 8. Dezember, also rund zwei Wochen nach Daniels Tod geschrieben hatte. Mark Flanagan äußerte Zweifel an der Darstellung der Polizei, Blueboy wäre auf dem Weg ins Stony Mountain Gefängnis gewesen, als er starb. Der Junge war aus einem Wohnheim für Jugendliche ausgebüchst und wurde deshalb polizeilich gesucht. Betty Blueboy, Daniels Mutter, schwor Flanagan gegenüber felsenfest, ihr Sohn wäre niemals mitten in der Nacht bei – 28°C zu diesem berüchtigten Gefängnis gelaufen, um sich freiwillig zu stellen.
Obwohl ich nur verschwindend wenig über Daniel Blueboy wusste, hatte auch ich Zweifel an der Theorie der Polizei. Wenn der Junge aus diesem Wohnheim abgehauen war, und später beschlossen hatte, sich zu stellen, wäre er dann nicht dorthin zurückgegangen?
Ich machte mir einige Notizen und checkte noch ein paar preiswerte Hotels in Winnipeg. Es gab freie Zimmer zur Genüge in der Stadt, die zu dieser Jahreszeit ganz offensichtlich keine Touristen anzog.
Irgendwann stand Susan in der Tür und wünschte mir mit vorwurfsvollem Blick eine gute Nacht. Ich holte mir noch ein Bier aus dem Kühlschrank, sah mir die Spätnachrichten an und danach ging auch ich schlafen.
Ich lauschte Susans gleichmäßigen Atemzügen, rückte an sie heran und schob meine Hand so weit vor, dass ich den Stoff ihres Nachthemdes berühren konnte.
Am nächsten Morgen wachte ich wie üblich vor Susan auf. Die stillen Morgenstunden, wenn alle noch schliefen, hatten etwas Magisches für mich. Meine Familie war in Sicherheit. Natürlich wusste ich, dass alle Sicherheit trügerisch ist, aber in diesen Momenten glaubte ich daran.
Ich hatte mir angewöhnt, zeitig aufzustehen und joggen zu gehen. Auf meiner üblichen Runde um den Campus sammelte ich meine Gedanken. Unser Hirn arbeitet auch in der Nacht. Der Hippocamus, eine kleine, nussförmige Region unseres Gehirns, ist ein Detektor für Neuigkeiten. Er verarbeitet Fakten, Ereignisse und Situationen des Tages sehr schnell, hat aber keine große Speicherkapazität. Nachts gibt der Hippocamus an die Großhirnrinde weiter, was von ihm als wichtig heraussortiert wurde. Beim Joggen versuchte ich herauszufinden, was für mich wichtig war und ob sich im „off-line“ Zustand meines Gehirns neue Verbindungen geknüpft hatten, die mir bisher verschlossene Gedankengänge eröffneten.
Diesmal öffneten sich keine neuen Türen, dafür wusste ich einfach noch zu wenig über meinen neuen Fall. Wieder zurück, ging ich unter die Dusche und legte auf meinem Laptop einen Ordner für Daniel Blueboy an. Es dauerte zwanzig Minuten, bis ich alle Informationen eingegeben hatte. Danach checkte ich meine Mails, aber es war nichts Wichtiges dabei.
Nach dem gemeinsamen Frühstück beschäftigte sich jeder von uns auf andere Weise: Susan bereitete ihren Vortrag mit diesem Archäologieprofessor vor, Amina hatte Besuch von ihrer Freundin Jo, Mike baute ein Piratenschiff aus Legosteinen und ich erledigte lästigen Papierkram.
Am Nachmittag saßen wir alle zusammen im Wohnzimmer am großen Tisch und spielten „Siedler von Catan“, etwas, das Mike und Amina mit Begeisterung stundenlang tun konnten. Susan war einsilbig, aber sie versuchte sich vor den Kindern nicht anmerken zu lassen, dass sie mir grollte.
Am Abend packte ich ein paar Sachen für meine Reise zusammen: Wechselkleidung, Waschzeug, einen Schal, ein Paar Handschuhe und lange Unterhosen, die würde ich im kalten Norden mit Sicherheit brauchen.
Winnipeg, die Stadt in der kanadischen Prärie, deren Name vom Cree Begriff Win-nipi - Trübes Wasser - kam, war nichts weiter als ein Name, ein weißer Fleck für mich. Im wahrsten Sinne des Wortes. Der Wetterkanal im Internet sagte für die nächsten Tage Schneefall und mehr als fünfzehn Minusgrade für die Region um Winnipeg vorher.
Ich hasste Kälte und hatte schon seit meiner Kindheit eine stark ausgeprägte Schneephobie. Ich war fünf, als meine Eltern das erste Mal mit mir und meiner zweijährigen Schwester auf den Mount Rainier fuhren. Diesen fast 4400 Meter hohen Vulkanberg südwestlich der Stadt nannten die Indianer früher Tacoma – Schneespitze. Heute war er für die meisten Bewohner von Seattle jedoch einfach nur The Mountain.
Damals war Sommer und ich konnte mich noch gut an den plötzlichen Übergang von Wärme und üppigem Grün in kaltes Weiß erinnern. Auf dem Pass angekommen, stiegen meine Eltern mit Alice aus, aber ich war durch nichts dazu zu bewegen, das Auto zu verlassen. Ich hatte panische Angst vor dem Schnee, diesem kalten Weiß. Ich schrie und machte mich steif. Meine Mutter setzte sich zu mir auf den Rücksitz und ich vergrub schluchzend mein Gesicht in ihrem Schoß. Als sie mich dazu brachte, wieder aus dem Fenster zu sehen, war ihr Kleid nass und draußen alles grün. Mein Vater war wieder nach unten gefahren, ohne, dass wir die grandiose Aussicht genossen hatten.
Seither war ich nicht wieder auf dem Berg gewesen. Lieber betrachte ich ihn aus sicherer Entfernung – zum Beispiel von meinem Bürofenster aus.
Nachdem ich gepackt hatte, rief ich Alice an, um ihr zu sagen, dass ich für ein paar Tage weg sein würde.
„Winnipeg?“, fragte sie zutiefst verwundert. „Du? Das muss ja ein besonders spannender Fall sein.“
„Wie man’s nimmt. Ich soll einen zehn Jahre alten Todesfall aufklären.“
„Und wieso tust du dir das an?“
„Das erzähle ich dir bei einem Glas Wein, wenn ich zurück bin, okay?“
Eine Weile blieb es still, dann sagte sie: „Ich hatte mal eine Kommilitonin, die kam aus Winnipeg. Weißt du, wie sie ihre Heimatstadt nannte? Winterpeg.“
Ich seufzte leise. „Du ermutigst mich ungemein.“
„Pass auf dich auf, Adam.“ Das klang sehr ernst. Alice machte sich ständig Sorgen um mich. Ich war zwar nicht ihr richtiger Bruder, aber ihr einziger. Familie. Unsere Mutter hatte keine lebenden Verwandten mehr und der Bruder unseres Vaters galt seit zwanzig Jahren als verschollen. Er hatte sich als Goldsucher am Yukon versucht.
„Keine Angst, Schwesterchen, mir passiert nichts. Das weißt du doch. Der große Manitu hält seine Hände schützend über mich.“
„Dass will ich hoffen“, sagte sie. „Du bist der beste Journalist, den ich habe.“
„Ich liebe dich auch“, sagte ich lächelnd. „Und wir sehen uns in ein paar Tagen.“