Читать книгу Träumerin - Antje Marschinke - Страница 6
Ein Unfall
ОглавлениеDai-Dai hockte zwischen den beiden Meisterschülern auf dem Boden und sah Meister Sorbus ängstlich entgegen.
„Ihr könnt ihren Geist freigeben“, forderte dieser die jungen Männer auf. Dann setzte er sich auf seinen Tisch und betrachtete das Mädchen nachdenklich.
„Tmarus ist wirklich außergewöhnlich stark an dir interessiert, Kind. Ich fürchte, dass er es nicht bei diesem Besuch bewenden lassen wird. Wenn ich dir helfen soll, dann musst du ehrlich sein. Also sage mir, warum er hinter dir her ist!“
Dai-Dai schlug die Augen nieder und schwieg.
Sorbus seufzte.
„Nun, ich möchte dich nur ungern zu etwas zwingen, aber in Anbetracht der Tatsache, dass Tmarus ein gefährlicher Gegner ist, sage ich dir gleich, dass ich dich notfalls einer Geistesbefragung unterziehen muss. Aber wir wollen nichts überstürzen. Bunias, führe sie in die Küche und sorge dafür, dass sie zu Essen bekommt. Sie besteht ja nur aus Haut und Knochen. Heute Abend bringe sie wieder zu mir. Dann wird sie mir Rede und Antwort stehen.“
Eine Küche war eine ganz neue Erfahrung für Dai-Dai. Bei Tmarus hatte die dickleibige Köchin ihr jeden Zutritt zur Küche untersagt. Nicht dass das Mädchen darüber traurig gewesen wäre. Die Kochstube war klein, dreckig und ständig entströmte ihr ein unangenehmer Geruch.
Auch Opilio, der Koch von Meister Sorbus, war fettleibig, aber er war nicht so mürrisch und auch nicht so schmierig wie seine Kollegin. Sein Arbeitsbereich war angenehm groß und aufgeräumt, und einem riesigen Kessel auf der Feuerstelle entstieg ein appetitanregender Geruch.
Dai-Dai stopfte folgsam alles Essbare in sich hinein, das Opilio ihr vorsetzte. Zwar war ihre Angst noch nicht abgeklungen, aber der Hunger war stärker.
Bunias und Hyas sahen vergnügt zu. Sie waren froh, dass Meister Sorbus ihr Verhalten nicht weiter getadelt hatte. Inzwischen waren auch die anderen Bewohner des Hauses auf den ungewöhnlichen Besuch aufmerksam geworden. Nach und nach füllte sich der Raum mit neugierigen Jungen. Schließlich wurde es Opilio zu viel und er jagte alle nach draußen. Sie verzogen sich in den großen Schlafsaal und hockten sich in die Mitte des Raumes.
Dai-Dai wurde von allen bestaunt. Neben Bunias und Hyas waren es sechs Lehrlinge im Alter zwischen zehn und achtzehn Jahren. Alle trugen einfache Kutten. Nur ein blauer Stein auf ihrer Schulter zeigte an, dass sie Lehrlinge eines Meistermagiers waren. Atemlos lauschten sie Hyas Erzählung. Zum Schluss waren alle begeistert, dass die beiden Meisterlehrlinge diesem Palio und seinen Söldnern getrotzt hatten.
„Aber was will Tmarus von ihr?“ Diese Frage stand ihm Raum.
Hyas zuckte bei dieser Frage die Schultern. „Das hat sie uns noch nicht verraten.“
Dai-Dai betrachtete angestrengt ihre Fußspitzen. Die Lehrlinge schienen alle sehr nett und freundlich zu sein, aber immerhin beschäftigten sich alle mit dieser unheimlichen Magie.
Bunias ahnte ungefähr, was unter den roten Locken vor sich ging. Beruhigend legte er seinen Arm um sie.
„Habe keine Furcht, Dai-Dai. Meister Sorbus ist wirklich freundlicher, als er wirkt. Er wird dir nichts zu leide tun, aber du musst verstehen, dass er alles wissen muss. Meister Tmarus ist ein gefährlicher Gegner, und dadurch dass Meister Sorbus dich nicht ausgeliefert hat, wird er sehr wütend sein und entsprechende Maßnahmen planen, gegen die wir uns wappnen müssen. – Dai-Dai, warum willst du uns nicht erzählen, weshalb Tmarus so hinter dir her ist? Fürchtest du seinen Zorn?“
Dai-Dai nickte.
„Aber Dai-Dai, Meister Sorbus wird dich vor Tmarus schützen.“
„Das kann er nicht“, flüsterte Dai-Dai.
„Warum glaubst du das?“
„Er ... er findet mich immer, und ... und dann ist er in meinem Kopf und ... und tut schreckliche Dinge“, flüsterte Dai-Dai.
„Was für schreckliche Dinge“, hakte Bunias vorsichtig nach. Aber Dai-Dai senkte den Kopf. Sie wollte nicht über diese schaurigen Gestalten reden. Vielleicht würden sie dann wieder auftauchen und diesmal nicht verschwinden.
„Dai-Dai, glaube mir, wir können verhindern, dass Tmarus deinen Geist findet“, versuchte Bunias zu beruhigen. „Das haben wir gerade auch getan, als Tmarus das Haus betreten hat. Solange er draußen ist und du hier drin bist, kann er dich sowieso nicht spüren. Das Haus ist durch mehrere Bannkreise geschützt und auch ein Magier wie Tmarus wird sie nicht durchbrechen können, ohne dass wir es merken. Doch auch wenn er noch einmal hier hereinkommen sollte, so können wir deinen Geist wieder vor ihm abschirmen. Das ist nicht allzu schwer. Selbst du könntest ihn wahrscheinlich von dir abhalten. Im Moment ist dein Geist offen und frei von jeglichem Widerstand. Jeder von uns hier könnte dich manipulieren. Selbst Ero hier.“ Er zeigte auf den jüngsten Lehrling, der Dai-Dai freundlich angrinste und dabei mehrere Zahnlücken zeigte.
„Aber wir könnten dir beibringen, wie du dich davor schützen kannst.“
„Ich ... ich kann nicht zaubern“, stotterte Dai-Dai. Bunias lächelte nur.
„Das ist keine Zauberei, keine große jedenfalls. Es ist eine Frage von Konzentration und Vorstellungskraft. Ich habe noch keinen Menschen getroffen, der das nicht kann.“
„Tut es weh?“ Dai-Dai war immer noch misstrauisch.
Die Jungen kicherten, bis Bunias ihnen befahl zu schweigen.
„Nein, Kleines, das tut nicht weh. Wenn Meister Sorbus es erlaubt, werde ich es dir morgen beibringen.“
Dai-Dai sagte nichts weiter dazu. Warum sollte Meister Sorbus das erlauben? Aber vielleicht hatte Bunias ja doch recht. Sie hoffte es jedenfalls.
Heimlich beobachtete sie den Meisterschüler, wie er munter mit den anderen Lehrlingen plauderte. Sie fand ihn gut aussehend mit seinen schwarzen, wuscheligen Locken und den rehbraunen Augen, die warm und freundlich jedem entgegenstrahlten. Es war nicht schwer zu erkennen, dass Bunias bei allen sehr beliebt war. Er wirkte ruhig und besonnen und war freundlich zu jedem.
Selbst Hyas schien ihm große Achtung entgegenzubringen, obwohl er ihm im Rang gleichgestellt war.
Ero, der jüngste unter den Lehrlingen, näherte sich Dai-Dai und die beiden beschnupperten sich ausgiebig. Der Altersunterschied war gering und so fanden sie schnell die richtigen Gesprächsthemen.
Dai-Dai fasste schnell Zutrauen, da der Junge sie sehr an einen ihrer älteren Brüder erinnerte, außerdem hatte sie sich schon lange nach gleichaltrigen Spielkameraden gesehnt. So hockten sie eng nebeneinander auf dem Fußboden und tuschelten leise.
Dai-Dai war so auf ihren neuen Freund konzentriert, dass sie erst gar nicht mitbekam, wie die Lehrlinge nach und nach in einen kleinen Wettkampf abglitten. Solche Wettstreite kamen häufig vor und wurden gerne als Lehrmittel eingesetzt. Wie so oft hatte auch dieses Mal Bunias den Anstoß dazu gegeben. Spielerisch übten alle das Geistumfassen und Geistabwehren.
Wenn Dai-Dai ihre Umgebung mehr beobachtet hätte, wäre das Folgende vielleicht nie passiert, doch so nahm die Katastrophe ihren Lauf.
Plötzlich erstarrte Ero und blickte auf Bunias, der ihm lächelnd zunickte. „Nun Ero, ich habe dich im Griff. Jetzt löse dich.“
Ero schluckte. „Ich ... ich kann das noch nicht.“
Sein Gesichtsausdruck zeigte Verwirrung und Scham.
„Du weißt es doch, Ero. Stelle dir vor, dein Geist ist eine Kugel, die in meiner Hand liegt. Und dann vergrößerst du diese Kugel, bis sie die Hand sprengt. Konzentriere dich!“
Ero kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich gehorsam.
Dai-Dai blickte verwirrt von einem zum anderen. Erst als Eros Hand sich angespannt in ihren Oberschenkel krallte, begriff sie was passierte.
Ihr Schrei vermischte sich dem lauten Schrei von Bunias.
Dann sackte der Meisterschüler mit leerem Blick in sich zusammen.
Alle blickten starr vor Schreck auf ihn.
„D... das wollte ich nicht“, stammelte Ero verstört. „Ich wollte es nicht ... wirklich ...“
Dai-Dai zitterte am ganzen Körper. Was genau passiert war, wusste sie nicht, aber dass es mit ihr zusammenhing, das war ihr nur allzu klar.
Die Tür wurde aufgerissen und Meister Sorbus stürzte herein. Mit einem Blick erfasste er die Lage und kniete neben Bunias nieder, der mit geschlossenen Augen und aschgrauem Gesicht auf der Seite lag.
Besorgt griff der Meister nach Bunias Geist. Erschüttert nahm er die Erinnerungsfetzen wahr, die ihm entgegentrieben. Bunias Geist war zwar präsent, aber völlig strukturlos und zerrüttet. Wirre Gefühle - Schmerz, Furcht und Erstaunen -, Erinnerungen und Gedanken lagen nebeneinander und ohne Zusammenhang.
Meister Sorbus irrte lange in diesem Chaos herum, bis er schließlich erschöpft aufgab.
Um Bunias zu helfen, bedurfte es großer Heilkunst, über die er nicht verfügte. Sein Metier waren Illusionen und Geisteserfassung. Darin war er ein unbestrittener Meister. Es gab viele Formen der Magie, aber das Leben eines Menschen reichte selten aus, um mehr als ein Gebiet umfassend zu erforschen und zu meistern, und das war wohl auch ganz gut so. Es wäre kaum auszudenken, wie gefährlich ein Magier wäre, wenn er alle Bereiche der gesamten Magie in sich vereinigen könnte. Doch nicht zum ersten Mal bedauerte Meister Sorbus es nun, dass die Heilmagie so ganz anders war als jede andere Magieform. Sie verlangte nicht nur eine andere Form der Konzentration, sondern auch die Fähigkeit sich völlig aufzulösen und trotzdem zu geben und zu nehmen. Das war etwas, das normalerweise nur den Frauen gegeben war. Nicht umsonst standen sich der Rat der Weisen Frauen und der große Magierrat gegenüber, wobei in dem Magierrat auch Frauen vertreten sein konnten. Nur wenige, aber doch genug, um herauszustellen, dass bei den Weisen Frauen kein Mann zu finden war.
Meister Sorbus wandte sich seinen Lehrlingen zu. Ero stammelte immer noch, dass er das nicht gewollt hatte. Dai-Dai saß bleich und verstört auf dem Boden und konnte ihre Augen nicht von Bunias abwenden.
Sorbus ließ seinen Blick nachdenklich zwischen ihr und Bunias wandern. Er begriff noch nicht ganz, was sich hier abgespielt hatte, aber eines war sicher: Ero war nicht der Auslöser gewesen. Über so große magische Kräfte verfügte er keinesfalls.
Müde stand Meister Sorbus auf.
„Legt Bunias auf seine Schlafstatt. Morgen werde ich mit ihm nach Thlandian reisen. Einer von euch wird mich begleiten. Ihr könnt das unter euch auslosen. Hyas, du wirst während meiner Abwesenheit hier die Verantwortung tragen.“
Hyas nickte unglücklich. „Meister, was ist mit Bunias passiert?“
„Sein Geist ist zersprengt“, erklärte Sorbus. „Er benötigt dringend magische Heilkunst, sonst wird er wohl bis an sein Lebensende ohne Verstand und Bewusstsein allen eine Last sein. Diese Hilfe findet er am ehesten in der Hauptstadt bei den Weisen Frauen. – Sei jetzt still, Ero. Dich trifft keine Schuld. Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen.“
Er sah auf Dai-Dai, die bei seinen Worten ängstlich zu ihm hochblickte.
„Du kommst jetzt mit mir. Du hast mir einiges zu erklären.“
Zaghaft folgte Dai-Dai dem alten Magier ins Studierzimmer.