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Die Waldheilerin

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Dai-Dai erholte sich schnell von den vorhergegangenen Schrecken, so wie es bei kleinen Kindern üblich ist. Sie sah der Reise eher aufgeregt und neugierig entgegen. Hyas hatte ihr die Haare kurz geschnitten und geschwärzt. Alle hatten traurig auf die roten Locken am Boden gesehen, doch Sorbus bestand darauf. Ein rothaariges Mädchen wäre immer und überall aufgefallen, ein schwarzhaariger Junge dagegen nicht. Also wurden ihre Haare geopfert.

Dai-Dai kam schnell über diesen Verlust hinweg. Zum ersten Mal seit der Trennung von ihrer Familie hatte sie das Gefühl unter Freunden zu sein. Dazu kam, dass sie keine Angst vor unwillkürlicher Bestrafung haben musste und genug zu essen hatte. Besser konnte es fast gar nicht mehr kommen. Nur wenn ihr Blick auf die reglose Gestalt von Bunias fiel, verspürte sie tiefe Furcht und Sorge.

Auch Meister Sorbus teilte ihre Sorge. So oft es ging hielten sie an, um dem jungen Meisterschüler Flüssigkeit und Suppe einzuflößen. Doch von Tag zu Tag verschlechterte sich sein Zustand weiter, und bald war dem Meistermagier klar, dass sie es niemals rechtzeitig bis Thlandian schaffen würden.

Sie hatten die Grenzen von Idul bereits passiert und waren mitten im Fürstentum Suada, als sie in einem der kleinen Dörfer, die an der Straße lagen, rasteten. Normalerweise vermieden sie nach Möglichkeit den Kontakt mit der Bevölkerung, um neugierigen Fragen auszuweichen, aber dieses Mal mussten sie ihre Vorräte aufstocken.

Wie befürchtet rief ihre Ankunft die Neugierde der Dorfbewohner wach. Als Sorbus und Naphur den leblosen Körper von Bunias vorsichtig in das Gasthaus trugen, drängte sich eine alte verhutzelte Frau nach vorne und betrachtete das blasse Gesicht.

„Was fehlt ihm?“ fragte sie.

„Er ist schwer krank“, antwortete Sorbus kurz.

„Das sehe ich selbst“, keifte die Alte. „Weißt du nicht, was er hat?“

Sorbus zögerte und musterte die Frau skeptisch. Sie wirkte ungepflegt und war in einen fleckigen grauen Mantel gekleidet, doch ihm entging nicht, dass die anderen Dorfbewohner ihr respektvoll Platz machten. „Bist du eine Heilerin?“

Die Alte grinste und zeigte dabei ihre nahezu zahnlosen Kiefer. „Ich bin die Dorfheilerin, ja. Soll ich ihn mir ansehen?“

Sorbus überlegte nur kurz. Schaden konnte es jedenfalls nicht.

„Gut“, entschied er. „Komm mit auf unser Zimmer.“

Die Dorfheilerin untersuchte Bunias lange und gründlich. Dann verharrte sie mit nachdenklichem Blick.

„Dieser Junge hat keine körperliche Krankheit. Jedenfalls keine, die ich feststellen kann. Erzähle mir mehr.“

Nur zögernd erzählte Sorbus von dem Unglück. Er vermied es allerdings, Dai-Dais Rolle zu erwähnen. Die Alte blinzelte ihn aus zusammengekniffenen Augen an.

„Soso, ein Magier bist du also. Hm, ich fürchte das übersteigt meine bescheidenen Fähigkeiten.“

„Ich will ihn nach Thlandian bringen.“

Die Alte betrachtete Bunias und schüttelte den Kopf.

„Sicher würde er da Hilfe finden, aber bis dahin wird er es nicht schaffen.“

„Das habe ich befürchtet“, murmelte Sorbus. Dai-Dai und Naphur blickten ehrlich entsetzt.

„Aber er darf doch nicht sterben“, piepste Dai-Dai. Die Alte warf ihr einen scharfen Blick zu, und Sorbus befürchtete schon, dass sie die Verkleidung durchblickt hatte. Doch sie verlor darüber kein Wort.

„Es gibt vielleicht noch eine andere Möglichkeit“, überlegte sie. „Im Süden lebt seit einiger Zeit eine Heilerin. Ich kenne sie nicht, da sie den Wald nicht verlässt, aber ich habe Gerüchte gehört, dass sie über starke Heilkräfte verfügt.“

„Magische Heilkräfte“, forschte Sorbus. Die Alte grinste wieder ihr zahnloses Lächeln.

„Soweit ich es gehört habe, ja. Aber es wird nicht einfach sein, sie zu finden. Sie lebt wie gesagt im Wald. Vielleicht können euch die Walddörfler sagen, wie man sie findet.“

„Glaubst du, es lohnt sich?“

Die Alte lachte gackernd.

„Alter Magier, ich fürchte, das ist eure einzige Chance. Was spielt es für eine Rolle, was ich glaube?“

Meister Sorbus musste ihr Recht geben, auch wenn ihm das Ganze nicht gefiel. Immerhin hieß dies einen Umweg zu machen und sie wussten nicht, ob Tmarus schon hinter ihnen her war. Doch um Bunias Willen blieb ihnen wohl nichts anderes übrig, als diese Heilerin aufzusuchen.

Am nächsten Tag zogen sie nach Süden, dem Wald entgegen. Ab jetzt mieden sie die Dörfer nicht mehr und erkundigten sich bei jedem nach der Heilerin. Sie hörten sonderbare Geschichten über Dämonen, geflügelte Ungeheuer und eine dunkle Gestalt, die Furcht aber auch Heilung brachte.

Sorbus wunderte sich immer mehr. Normalerweise genossen Heilerinnen einen guten Ruf und waren überall geachtet und bekannt. Doch diese Heilerin schien zwar geachtet zu sein, aber sie wurde gleichzeitig gefürchtet. Ob sie eine Abtrünnige ihres Standes war? Davon hatte er jedoch noch nie etwas gehört. Heilerinnen konnten einen guten oder einen schlechten Ruf haben, aber bisher war ihm noch nie zu Ohren gekommen, dass sie mit schwarzer Magie und Dämonen arbeiteten. Das widersprach der Natur ihrer Fähigkeiten.

Der Magier versuchte jedes Gerücht über diese seltsame Person zu filtern und nach dem Wahrheitsgehalt zu überprüfen.

Das war schwer, da er die betroffene Person noch nicht selbst kennen gelernt hatte. Eines fiel ihm allerdings auf. Zwar wurde sie mit Dämonen und Ungeheuern in Verbindung gebracht, aber niemals schien sie den einfachen Dörflern zu schaden. Eher das Gegenteil war der Fall. Manche flüsterten von unglaublichen Wundern, Wiederbelebung von Totgeglaubten und anderen Phantastereien. Und je näher sie dem Wald kamen, desto unglaublicher wurden die Geschichten.

Genau das wunderte Sorbus. Gerüchte hatten normalerweise die Angewohnheit unglaublich zu werden, je weiter sie sich von ihrer Quelle entfernten. Hier verhielt es sich genau anders herum.

Der Magier wurde immer neugieriger. Selbst wenn Bunias nicht gewesen wäre, hätte er diese Heilerin jetzt auf jeden Fall kennen lernen wollen.

Naphur teilte die Neugierde seines Meisters, auch wenn er die Sorgen und Beweggründe des Magiers nicht ganz verstand. Dai-Dai hingegen war über diese Suche eher unglücklich.

Aus ihrer Kindheit kannte sie viele phantastische Geschichten und für ihre kindliche Vorstellungskraft waren die neuen Erzählungen nichts Ungewöhnliches. Sie glaubte sie ohne weiteres, und die Berichte über Dämonen machten ihr Angst. Dass es welche gab, hatte sie bei Tmarus erfahren und sie wollte nie wieder solchen Ungeheuern begegnen. Vielleicht war diese Frau, die sie suchten, keine Heilerin, sondern eine böse Hexe, die sie alle verzaubern würde?

Meister Sorbus bemerkte nichts von ihren Sorgen und folgte unverdrossen den Spuren der Heilerin. In einem kleinen Dorf direkt am Wald erhielt er den ersten konkreten Hinweis.

Der Dorfvorsteher, er hatte sich als Allan vorgestellt, betrachtete Bunias bleiches Gesicht und nickte dann. „Ja, ich weiß wie ihr zu dem Zweigesicht kommt.“

Sorbus horchte auf. „Zweigesicht?“

„Ja, sie hat zwei Gesichter. Aber sie wird euch helfen, da bin ich sicher.“

„Hast du sie schon einmal gesehen?“

Der Dorfvorsteher zögerte. „Ja, ich bin ihr begegnet. Ihr und ihren – Dämonen. Sie hat mir und den meinen das Leben gerettet, als wir von Räubern überfallen wurden.“

„Wie ist ihr Name?“

„Shendja Zweigesicht.“

Die Augen von Meister Sorbus leuchteten auf. Dies war das erste Mal, dass er einen Namen hörte. Doch der Dorfvorsteher wollte nicht viel mehr erzählen.

„Sie ist eine Freundin. Wenn wir Hilfe brauchen, kommt sie. Doch sie meidet Menschen, wenn es nur geht. Wollt ihr sie finden, dann benutzt am besten die Südstraße. Ihre Dämonen werden euch finden.“

Also zogen sie zur Südstraße. Sorbus trieb das Pferd zur Eile an. Der Zustand von Bunias war mittlerweile besorgniserregend. Eile war geboten.

Die Südstraße verlief geradewegs in den Wald hinein. Sie war breit, aber ungepflastert. Nur selten waren Anzeichen zu sehen, dass sie auch benutzt wurde. Rechts und links ragten riesige Laubbäume in die Höhe. Dichte Büsche und Gestrüpp ließen keinen Blick in das Innere des Waldes zu.

Naphur und Dai-Dai waren noch nie zuvor in einem so großen Wald gewesen und fühlten sich nicht besonders wohl. Meister Sorbus erzählte ihnen, dass der südliche Wald Wohnsitz zahlreicher Waldvölker war. Völker, die kaum ein Mensch zu Gesicht bekam. Es hieß, dass Menschen hier nicht gerne gesehen waren und eine Reise auf dieser Straße nicht ungefährlich war. Daher wurde sie auch selten genutzt.

Das munterte weder Dai-Dai noch Naphur auf. Misstrauisch beobachteten sie den Straßenrand, immer in Erwartung irgendwelcher Ungeheuer.

Meister Sorbus lächelte über ihre Angst, aber seine Beteuerungen, dass ihnen soweit nördlich allerhöchstens Räuber begegnen würden, stießen auf wenig Glauben.

Sie waren den zweiten Tag auf der Straße, als die „Dämonen“ sie aufspürten. Ein furchterregendes Kreischen zerriss die Luft. Die Reisenden blickten erschreckt nach oben und sahen eine schwarze, geflügelte Gestalt über ihnen kreisen.

„Bei allen Göttern“, ächzte Sorbus. „Eine Harpyie! Wahrhaftig, das erklärt dieses Gerede über Dämonen gründlich.“

„Was ist das?“ fragte Dai-Dai und klammerte sich ängstlich an ihn.

„Es ist auf jeden Fall kein Dämon“, erklärte Sorbus, ließ die geflügelte Gestalt aber nicht aus den Augen. „Harpyien sind halb Mensch, halb Vogel. Es heißt, dass sie vor vielen Jahren erschaffen wurden und seitdem in Feindschaft mit den Menschen leben. Ich wusste nicht, dass sie tatsächlich noch existieren.“

„Kann sie uns verstehen, Meister?“ Auch Naphur war die Furcht anzusehen.

„Ich weiß es nicht. – Aber wenn dieser Dorfvorsteher recht hat, dann wird sie uns vielleicht den Weg zeigen.“

Er hielt den Karren an und beobachtete die Harpyie, die immer noch über ihnen kreiste. Plötzlich bog sie ab und flog nach Süden.

„Wir warten hier“, entschied der Magier. „Hoffen wir, dass diese Harpyie tatsächlich zu der Heilerin fliegt und nicht zu ihrem Volk.“

Sie schlugen ihr Lager am Rand der Straße auf. Dai-Dai mühte sich so gut es ging Bunias eine dünne Suppe einzuflößen, aber die Hälfte der Flüssigkeit tropfte unweigerlich daneben.

Es vergingen einige Stunden. Erst als der Abend hereinbrach, trat eine dunkel verhüllte Gestalt die Straße. Sorbus versuchte vergeblich hinter die Kapuze zu sehen. Das Gesicht der Person lag in dunklen Schatten. Sie war nicht sehr groß und an den Händen erkannte Sorbus, dass sie auch nicht sehr alt sein konnte.

Die Gestalt blieb in gebührender Entfernung stehen.

Dai-Dai versteckte sich hinter Sorbus und spähte nach oben. Tatsächlich, hoch oben war wieder die Gestalt der Harpyie zu sehen.

„Bist du Shendja Zweigesicht, die Heilerin?“ fragte Sorbus.

„Ja, so werde ich genannt.“

Sorbus registrierte erstaunt die Jugend, die in dieser Stimme klang.

„Ich bin Sorbus, Meistermagier und Angehöriger des großen Magierzirkels. Ich brauche die Hilfe einer Heilerin.“

Die Gestalt kam jetzt näher und wendete sich ohne weitere Fragen dem Karren zu. Vor dem Wagen blieb sie stehen und spähte hinein.

Vorsichtig versuchte Sorbus sich an ihren Geist heranzutasten. Aber er prallte gegen eine undurchsichtige Mauer und zog sich sofort zurück.

Die dunkelverhüllte Gestalt streckte den Arm aus und berührte Bunias Stirn.

„Er stirbt“, flüsterte sie und kletterte dann plötzlich auf den Wagen.

Dai-Dai beobachtete mit großen Augen, wie diese unheimliche Person wieder nach Bunias Stirn griff und dann bewegungslos verharrte.

Die Zeit verstrich. Sorbus bedeutete Naphur und Dai-Dai Geduld zu haben, und so warteten sie schweigend ab.

Als Bunias die Augen aufschlug, stieß Dai-Dai einen begeisterten Schrei aus und krabbelte zu ihm.

Sorbus näherte sich ebenfalls, aber ein warnendes Krächzen hielt ihn davon ab, die Heilerin zu berühren.

Die Harpyie schwebte jetzt bedrohlich nahe über ihren Köpfen.

Sorbus zog sich vorsichtig zurück. Mit den Klauen einer Harpyie war sicherlich nicht zu spaßen.

„Bleibt fern von ihr“, warnte er. „Die Harpyie scheint sie zu bewachen.“

„Was ist mit der Heilerin“, fragte Naphur. „Sie bewegt sich nicht.“

„Sie befindet sich im Zustand der Heilung“, erklärte Sorbus. „Heilerinnen nehmen die Krankheit in sich auf und durchleben sie, bis sie besiegt ist. Es ist eine Art Trancezustand.“

Er wendete seine Aufmerksamkeit Bunias zu. Dieser blinzelte verwirrt zu ihm auf.

„Meister“, hauchte er. „Was ist geschehen?“

„Dein Geist war zerrüttet, aber nun ist er geheilt.“

Mit wenigen Worten erzählte Sorbus seinem Meisterschüler das Geschehene. Ungläubig lauschte Bunias den Worten des Meisters und wusste nicht, was ihn mehr erstaunen sollte: Seine Heilung, oder Dai-Dais Begabung. Aber er war immer noch schwach und kaum fähig sich zu bewegen.

„Keine Sorge“, beruhigte ihn Sorbus. „Du hast zu wenig gegessen, und deine Kraft ist durch das Liegen geschwächt. Das wirst du in einigen Tagen überwunden haben.“

Es dauerte eine lange Zeit bis die Heilerin sich wieder bewegte.

Inzwischen war es dunkel geworden, und Naphur hatte ein kleines Feuer entfacht.

„Geht es dir gut?“ Meister Sorbus stellte diese Frage vorsichtig. Er wollte die Heilerin nicht beleidigen. Diese nickte und untersuchte Bunias noch einmal kurz.

„Er ist noch schwach, aber bei guter Ernährung und viel Bewegung wird er schnell wieder zu Kräften kommen“, sagte sie schließlich.

„Danke.“ Bunias versuchte sich aufzurichten. „Hab vielen Dank.“

Die Heilerin drückte ihn zurück. „Heute Nacht musst du ruhen.“

Es war mehr eine Bitte, als ein Befehl. Meister Sorbus lauschte aufmerksam dem Klang ihrer Stimme. Sie war zweifellos jung, sehr jung für eine ausgebildete Heilerin, und ihr fehlte jegliche Autorität.

„Was schulden wir dir, Shendja Zweigesicht“, fragte er. Die Heilerin schüttelte heftig den Kopf.

„Nichts. Niemand schuldet mir etwas. Aber, bitte, nennt mich nur Shendja.“

„Du magst den Namen nicht“, forschte Sorbus vorsichtig.

„Nein, aber es ist nicht so wichtig. Wie gesagt, er muss gut zu essen bekommen. Möglichst viel Fleisch und auch frische Grünkost.“

Sie machte Anstalten sich zu entfernen, aber Sorbus hielt sie zurück.

„Warte – Shendja. Teile wenigstens das Mahl mit uns. Außerdem – was können wir anstelle von Fleisch geben? Wir haben kaum etwas dabei.“

Shendja zögerte erst, aber dann gab sie sich einen sichtlichen Ruck. Sie näherte sich dem Feuer und hockte sich dort nieder.

„Es ist schwierig Fleisch durch andere Kost zu ersetzen. Seit ihr auf einer weiten Reise?“

„Wir sind auf dem Weg nach Thlandian. Eigentlich wollten wir Bunias dort heilen lassen, aber er hätte es bis dahin nicht geschafft, so dass wir, als wir von dir hörten, dich gesucht haben. Wir werden trotzdem dorthin weiterreisen.“

„Wie weit ist es nach Thlandian?“

Sorbus betrachtete sie überrascht.

„Du warst noch nie dort?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Nun, es sind noch viele Tage bis dorthin.“

„Das ist zu lang. – Er braucht dringend frische Nahrung.“ Sie überlegte kurz. Dann stand sie auf und trat vom Feuer weg.

„Erschreckt nicht. Ich rufe nur meine Freundin“, bat sie. Ein schauriges Kreischen drang aus ihrem Mund. Sekunden später rauschten große Flügel und die schwarze Harpyie landete vor ihr. Die gelben Raubvogelaugen glühten im Feuerschein. Dai-Dai kroch hinter Naphurs Rücken. Dieser saß selbst ganz erstarrt und betrachtete mit weit aufgerissenen Augen die unheimliche Vogelgestalt. Das menschliche Gesicht und das deutlich weibliche Geschlecht unterstrichen nur das Fremde in diesem Wesen.

Meister Sorbus hingegen war zwar beeindruckt, aber er verspürte keine Furcht. Er glaubte nicht, dass ihnen von dieser Kreatur Gefahr drohte. Zumindest nicht, solange sie diese seltsame Heilerin in Frieden ließen. Interessiert beobachtete er das Gespräch, das aus scheußlichem Gekrächze bestand, aber offensichtlich einer richtigen Sprache folgte.

Sorbus war fasziniert. Es war wenig von Harpyien bekannt, da sie Menschen immer gemieden, oder gar bekämpft hatten. Bisher hatte er auch noch nie davon gehört, dass es einem Menschen gelungen war, Freundschaft mit diesen wilden Geschöpfen zu schließen.

Bald darauf schwang sich die Harpyie wieder in die Lüfte und Shendja kam zum Feuer zurück.

„Skreeh wird euch Fleisch besorgen“, sagte sie. „Und ich werde euch zeigen, wie man einen Kräftigungstrank zubereitet.“

Sie wühlte in ihrem breiten Umhang und zog mehrere Kräuterbündel hervor. Unter Sorbus aufmerksamen Augen braute sie einen Trank, den sie an die kleine Dai-Dai weiterreichte.

„Gib dies deinem Freund.“

Dai-Dai gehorchte eifrig und eilte zu Bunias, der im Halbschlaf vor sich hindöste.

Shendja reichte dem Magier die Kräuterbündel.

„Nimm sie, ich habe genug Vorräte. Dies wird für ungefähr eine Woche reichen. Danach wird der Trank wohl nicht mehr von Nöten sein.“

Sorbus bedankte sich und packte die Kräuter sorgfältig ein. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Heilerin zu.

„Verzeih meine Neugier, aber ich möchte dir ein paar Fragen stellen.“

„Was für Fragen?“ Shendjas Stimme schwankte unsicher.

„Nun, zum einen: Welche Weise Frau war deine Lehrmeisterin?“

„Ich ... also ich kenne keine Weise Frau.“ Shendja klang verlegen. „Ara hat mich unterrichtet. Sie war hier in der Gegend die Heilerin.“

„Ara?“ Er runzelte die Stirn. „Ich habe nie von ihr gehört.“

„Na ja, sie ... hm ... sie hat mir erzählt, dass sie nie besonders gut war, ... aber das stimmt nicht. Sie ... sie war wundervoll.“

Sorbus erfasste unwillkürlich Mitleid, als er die Trauer in ihrer Stimme vernahm.

„Und du warst nie in Thlandian, um dich den Prüfungen der Weisen Frauen zu unterziehen?“

Shendja schüttelte den Kopf.

„Und die Heilmagie hat dir diese Ara beigebracht?“

Die Heilerin zögerte. „Nicht direkt. Ich meine, sie hat mir gezeigt, dass es sie gibt, und wie man in den Körper eintaucht. Aber sie meinte ich wäre noch zu jung dafür. – Und dann ist sie gestorben. Ich ... ich musste es mir selbst beibringen. – War das falsch?“

Die Frage kam so ängstlich, dass Sorbus beinahe aufgelacht hätte. Aber er beherrschte sich und antwortete ruhig.

„Nein, Shendja. Ich glaube nicht, dass das falsch war. Wenn du auf diese Art und Weise helfen konntest, war es sicher richtig. Doch ich muss zugeben, dass es sehr ungewöhnlich ist. Normalerweise lernen Heilerinnen viele Jahre und werden erst nach einer Reihe von Prüfungen anerkannt. – Bist du denn nie auf die Idee gekommen, die Weisen Frauen zu besuchen?“

Shendja senkte den Kopf.

„Ich ... ich kann dort nicht hin.“

„Warum nicht, Shendja? Wovor fürchtest du dich? Talentierte Heilerinnen werden gesucht und finden dort immer freundliche Aufnahme. Du bist mit Sicherheit talentiert. Ich habe von Heilmagie nicht viel Ahnung, aber die Heilung von Bunias war bestimmt nicht einfach. Also, wovor fürchtest du dich?“

„Ich ... ich gehöre nicht dorthin.“ Ihre Stimme war dünn und unglücklich. „Ich gehöre nirgendwohin.“

„Wieso glaubst du das?“ Sorbus versuchte möglichst freundlich zu klingen und seiner Stimme jegliche Barschheit zu nehmen.

„Ich ...“, die Heilerin stockte und holte tief Luft. „Alle fürchten sich vor mir und verabscheuen mich.“

„Na ja, bei der schwarzen Kutte“, murmelte Naphur. Sorbus warf ihm einen strafenden Blick zu. Er begann zu ahnen, was hinter der Kapuze zu sehen war.

„Zeige mir dein Gesicht“, forderte er sanft, aber bestimmt. Die Heilerin schüttelte den Kopf.

„Tu es einfach.“ Sorbus stellte fest, dass es nicht einfach war autoritär und zugleich freundlich zu klingen.

„Es wird euch nicht gefallen“, flüsterte Shendja.

„Shendja, ich bin alt und habe schon viel Erschreckendes gesehen. Naphur will einmal Magier werden und muss lernen, allem ins Gesicht zu sehen. Nun, und unsere Kleine hier hat bereits Dinge gesehen, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen können.“

Er blickte auf Dai-Dai, die inzwischen wieder neben ihm hockte. „Ich glaube nicht, dass wir deinen Anblick nicht ertragen können.“

„Und ich möchte das Gesicht meiner Lebensretterin auch sehen.“

Bunias wankte auf schwachen Beinen, aber deutlich gekräftigt zum Feuer. Dai-Dai stieß einen Freudenschrei aus und lief zu ihm. Vorsichtig half sie ihm zum Sitzen.

Sorbus war beeindruckt. Der Trank schien außerordentlich wirksam zu sein.

Die Heilerin sah in die gespannten Gesichter und zögerte noch. Aber dann schlug sie langsam die Kapuze zurück.

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