Читать книгу Perry Rhodan 157: Stalker gegen Stalker (Silberband) - Arndt Ellmer - Страница 7
2. Der Narr
Оглавление»Und, was glaubst du, wie es weitergeht?« Die keifende Stimme des Gnomen drang zwischen zwei Datenbänken der kleinen Nebenzentrale hervor. Der einen Meter große Animateur bewegte sich hektisch, sein langer Knorpelschwanz klatschte heftig auf den Boden.
Der Angesprochene war ein nicht sonderlich großer Mann, schmächtig und mit blassem Gesicht. Er reagierte nicht auf die spöttisch klingende Frage, sondern musterte weiterhin den Holoschirm. In der Wiedergabe zeichneten sich die gelbe Sonne Faalin und der vierte ihrer 14 Planeten ab. Kontor Fornax trug den Namen der hier errichteten Station der Kosmischen Hanse. Der Planet war durchaus vergleichbar mit Terra; seine Atmosphäre wies lediglich einen höheren Sauerstoffanteil auf. Wer sich längere Zeit auf Kontor Fornax aufhielt, fühlte sich auf gewisse Weise leicht und beschwingt.
»Es geht weiter wie geplant«, antwortete der Mann nach einer Weile und musterte den Zwerg. Dessen viel zu lang anmutende Arme pendelten unruhig, und seine Physiognomie machte gerade keinen vertrauenerweckenden Eindruck. Eigentlich sah er aus wie ein kleiner Dämon, doch der Mann ignorierte das. Er konnte tiefer blicken, als es anderen möglich gewesen wäre, und wusste, was sich darunter befand.
»Du weißt, dass das eine Lüge ist, du dummer Terraner!«, zeterte der Gnom. »Hast du schon vergessen, was geschehen ist? Die Explosionen? Und dass du Adams vor schwerem Schaden bewahrt hast?«
»Das war nicht ich, das war Argyris!«, sagte der Mann hart. »Wie oft soll ich dir das vorkauen?«
»Anson Argyris«, spottete der Wicht. Sein Zackenkamm im Nacken gab knirschende Geräusche von sich. »Wo steckt der Kerl? Er ist blind und taub – und dumm! Ja, dumm, kapierst du das?«
»Genug!« Der Schmächtige wandte sich vom Bildschirm ab. Ein wenig hatte er Ähnlichkeit mit Jen Salik, dem Ritter der Tiefe, nur war sein Gesicht feiner geschnitten, und der füllige Bauch trat deutlich hervor. Er schritt auf die Tür zu, die auf einen schmalen Korridor führte, und ging gemächlich hindurch.
Der Gnom folgte ihm mit wenigen Sätzen. »Tu etwas!«, keifte er.
»Stalker ist verschwunden, Adams entführt. So viel wissen wir inzwischen über die Hyperrelais. Die Kartanin haben den Teleport-Versuch auf Arkon I dazu genutzt, Homer zu entführen und damit die Kosmische Hanse mindestens teilweise zu lähmen. Vielleicht hilft ihnen das.« Der Mann blieb stehen und wandte sich um. »Die Karawane kriegen sie trotzdem nicht!«
»Du irrst dich gewaltig!«, kreischte der Gnom. »Spätestens Stalker kriegt sie. Ihn wirst du nicht täuschen können, Mermator!«
Seit 14 Tagen stand die Handelskarawane aus 70 Raumschiffen im Orbit über Kontor Fornax. Die Verladearbeiten im Kosmischen Basar ROSTOCK waren überhastet beendet worden. Adams' Entführung hatte Unsicherheit und Verwirrung ausgelöst, deshalb hatte Kaiser Anson Argyris, der die Karawane befehligte, eigenmächtig gehandelt. Um keine Zeit zu verlieren und Sotho Tal Ker, der von vielen nur Stalker genannt wurde, die Möglichkeit für weitere Sabotageakte zu nehmen, hatte er die Flotte nach Fornax gebracht. Diese Kleingalaxis der Lokalen Gruppe, die lediglich 7000 Lichtjahre durchmaß und 20 Millionen Sonnenmassen aufwies, lag rund 550.000 Lichtjahre von der Milchstraße entfernt. Fornax war ein elliptischer Nebel mit wenig gasförmiger Materie und dichtem Zentrumskern, geprägt von überwiegend alten Sternen der Population II. Als Perry Rhodan während seiner Suche nach EDEN II die Kleingalaxis erreicht hatte, war er auf die im Weltraum lebenden Nocturnen gestoßen.
Mermator blieb vor einem Türschott stehen. »Alles wurde überprüft«, sagte er. »Die Entsorgung des Parataus verläuft reibungslos.«
Seit die Kartanin nicht mehr sabotierten, war die Ernte fast zur Routine geworden. 20 Tender sammelten das Psichogon ein und brachten es nach Kontor Fornax. Dort warteten die speziell für den Weitertransport umgerüsteten Karracken und Koggen der Hanse. Jedes Schiff war in der Lage, zehn Millionen Tropfen Paratau an Bord zu nehmen. Die Karawane würde über eine halbe Milliarde Tropfen in die Mächtigkeitsballung Estartu transportieren.
»Warum gehst du nicht weiter?«, keifte der Gnom.
»Skorsh I!« Mermator hob warnend die Hand. »Hier beginnt mein intimer Lebensbereich. Du hast keinen Zutritt!«
»Ich weiß«, entgegnete der Animateur. »Du brauchst das nicht tausendmal zu wiederholen. Trotzdem habe ich Anspruch darauf, zu erfahr...«
»Du wirst hier vor der Tür warten und mich über jede Annäherung oder Bedrohung umgehend informieren!«, befahl Mermator. »Ist das deutlich genug?«
»Jawohl, Chef!«, bestätigte Skorsh und klang mit einem Mal weder keifend noch schrill, sondern ausnehmend ruhig. Er klemmte sich den langen Schwanz unter den rechten Arm und ließ sich umständlich nieder. Demonstrativ drehte er den Kopf zur Seite und spähte lauernd den Korridor entlang.
Mermator öffnete die Tür und betrat den dahinter liegenden Bereich. Er wartete sekundenlang, bis der Zugang sicher verriegelt war, dann musterte er die gegenüberliegende Wand und das Mobiliar davor. Die Konturen wirkten ein wenig unscharf, aber das lag an seinen empfindlichen Augen. Ein normaler Mensch hingegen konnte sehr wohl getäuscht werden.
Der Mann sendete den Erkennungscode, die Tarnprojektion erlosch. Statt der Möbel und der Wand wurde ein Transmitter sichtbar. Eine Kunststimme verkündete, dass das Gerät betriebsbereit war und auf seine spezifischen Schwingungen justiert.
Mermator betrat das aktivierte Transportfeld ...
... und trat zeitgleich aus dem Empfangstransmitter in eine kleine Kammer, von der lediglich eine Tür weiterführte. Sekunden danach befand er sich in einem an die 40 Meter langen und halb so breiten Raum. Mehrere Stangen verliefen dicht unter der Decke; an ihnen hingen in speziellen Halterungen die Vertreter unterschiedlichster Spezies. Für einen Außenstehenden mochte unweigerlich der Eindruck entstehen, er sei in ein Leichenschauhaus geraten.
Mermator steuerte eine Lücke in den Reihen dieses »Mausoleums« an. Er stellte sich vor die leere Halterung, sie faltete sich auf und griff ihm unter die Arme. Der Körper wurde leicht angehoben.
Mermator selbst öffnete die Vorderseite seiner Kombination. Seine leicht behaarte Haut kam zum Vorschein, und binnen Sekunden entstand darin ein durchgehender Riss. Mermators Körper öffnete sich vom Hals bis hinab zum Becken, und durch diese klaffende Wunde drängte ein glitzerndes Etwas nach außen – ein 50 Zentimeter langes und an der dicksten Stelle 20 Zentimeter durchmessendes Metall-Ei. Im Licht der Deckenstrahler silbrig schimmernd, schwebte es weiter und verharrte kurz vor dem schlaff gewordenen Körper Mermators. Dann trieb es an den vielen aufgehängten Leibern entlang bis zum vorderen Ende der Reihe, umkreiste eine auffällige Gestalt und hielt an.
Das Ei war der Vario-500, ein terranischer Spezialroboter mit einer Hülle aus Atronital-Compositum. Sein Innenleben hatten siganesische Wissenschaftler entworfen und im Mikrobauverfahren hergestellt. Er besaß bereits 868 Pseudo-Variable-Kokonmasken, die er »beseelen« konnte. Seine neueste Errungenschaft war die Stalker-Maske, die er schon mehrmals angelegt hatte.
»Argyris, wach auf!«, sagte der Vario-500. Seine Stimme klang nun völlig anders als die Mermators. Für jede der PVK-Masken verfügte er über eine eigene Stimm-Modulationseinheit.
Das Ei schlüpfte in die Öffnung des Argyris-Kokons. Es verschwand hinter dem lebensecht anmutenden Zellgewebe und fuhr alle vier Teleskopglieder sowie den zehn Zentimeter großen Ortungskopf aus. Die Öffnung am Bauch der Maske schloss sich und war nach wenigen Sekunden nicht mehr zu erkennen. Spontan erwachte die massige Gestalt zu vermeintlichem Leben.
Anson Argyris, der Kaiser des Planeten Olymp, stapfte mit schweren Schritten auf die kleine Kammer zu, deren Tür unverändert offen stand. Über den Transmitter kehrte er in den möblierten Raum zurück, und nach kurzem Zögern trat der Kaiser hinaus auf den Korridor, in dem Skorsh I auf ihn wartete.
»Muss das wirklich sein?«, fragte der gnomenhafte Whistler-Roboter, den es sogar in zweifacher Ausfertigung gab. Beide Modelle trugen eine Skorsh-Maske und konnten nicht als Roboter identifiziert werden.
»Es muss sein, wie immer!«, beharrte Anson Argyris. »Bis bald.«
Skorsh tappte an der imposanten, mehr als zwei Meter großen Gestalt mit dem markant geflochtenen Bart vorbei und ließ sich in der Nähe der Möbelprojektionen nieder. »Bis bald! Bis bald!«, keifte der Roboter, während sich das Türschott schloss.
Argyris verließ seine Privatgemächer auf dem offiziellen Weg und suchte den nächsten Transmitter auf, der ihn zur Hauptzentrale der REDHORSE brachte. Als Terraner Mermator hatte er sich auf Kontor Fornax umgesehen und festgestellt, dass Adams nicht übertrieben hatte. Das Kontor hatte in der Tat eine Idealbesetzung; Leila Terra und ihre Vertrauten waren ein Glücksgriff für die Hanse.
Der Vario-500 schaltete sich in die Positronik seines Flaggschiffs ein. Es hatte bereits den Orbit um den Planeten Faalin verlassen und war mit mehreren Linearetappen in die Südseite der Kleingalaxis vorgedrungen. Der Kaiser von Olymp wollte die Wartezeit bis zum Aufbruch nach Estartu sinnvoll nutzen, indem er große Tauregionen aufsuchte und die ENTSORGER-Plattformen bei der Paratau-Ernte beobachtete.
Der Nocturnenschwarm bestand aus gut und gerne 200.000 Exemplaren der nahezu farblosen, hauchdünnen Membranen aus fünfdimensional schwingendem Quarz. Wie alle Schwärme zog er auf einem festgelegten Kurs von Stern zu Stern und hinterließ auf diesen Flugrouten seinen Paratau.
Für die Nocturnen gab es zwei Lebenszyklen. In der Schwarmphase waren sie Membranen zwischen zwei und 100 Metern Durchmesser, ätherische, instinktgeleitete Geschöpfe ohne Intelligenz. Diese Schwärme zählten bis zu einer Million Einzelwesen und ernährten sich von der Fünf-D-Strahlung der Sonnen. Die aufgenommene Energie nutzten sie für ihr Wachstum, ebenso zur Fortbewegung nach dem Transitionsprinzip. Die maximale Sprungweite lag bei rund einem Lichtjahr, danach hatte jeder Nocturne eine mehrtägige Erholungspause nötig.
Besonders hochfrequente Hyperenergie wie das psionische Spektrum war für die Nocturnen unverdaulich und wurde von ihnen als Paratau wieder ausgeschieden.
In der Schwarmphase verständigten sie sich über eine einfache Symbolik im Bereich der Hyperfunkfrequenzen. Die Schwarmphase endete, sobald alle Mitglieder eines Schwarms ihre maximale Größe von 100 Metern erreicht hatten.
Während ein kleiner Prozentsatz der Nocturnen sich nach Amöbenart teilte und einen neuen Schwarm aus jungen, nur wenige Meter durchmessenden Wesen bildete, trat die große Masse in die zweite Lebensphase über, die Stockphase. Sie ließen sich auf Asteroiden, Monden und ähnlichen Himmelskörpern mit niedriger Schwerkraft nieder. Von dort aus lockten sie im Verlauf von Jahrtausenden weitere Schwärme an und wuchsen gemeinsam zu Türmen aus dunklem Schwingquarz heran. Ein solcher Zusammenschluss war ein Stock; in dieser Phase entwickelten die Nocturnen Intelligenz. Je größer ein Stock anwuchs, desto höher wurde seine Intelligenz. Der größte und älteste Stock war der Weise von Fornax.
Den Stöcken drohte Gefahr von den Tauregionen. Gelegentlich überschritt die Menge an Paratau in einem Gebiet die kritische Grenze, dann fiel die Psi-Materie in ihre energetische Form zurück und entlud sich mit heftigen Psi-Stürmen. Manche Stürme dauerten Tage an und reichten über Dutzende von Lichtjahren hinweg. Sie stürzten Stöcke in diesem Bereich in geistige Verwirrung und manchmal sogar für immer in den Wahnsinn. Um diese Bedrohung auszuschalten, versuchten die Stöcke, über die einfachen Hyperfunksymbole alle Schwärme so zu lenken, dass sie den Paratau gleichmäßig verteilten. Und kritische Tauregionen ließen sie, wenn sich die Möglichkeit ergab, von extragalaktischen Besuchern entsorgen.
»Faszinierend!« Gandolf Rius, Cheffunker und Cheforter, blickte mit seinem sommersprossigen Gesicht Beifall heischend um sich. »Sie kommen direkt auf unser Schiff zu. Seht euch das an! Sie öffnen den Pulk, als wollten sie uns passieren lassen!«
»Sie werden den Teufel tun«, grollte Rumus Sharman. Der auf Olymp geborene Epsaler stand breitbeinig hinter dem Kommandantensessel, mit beiden Händen auf der Rückenlehne abgestützt. »Wir wissen doch genau, was sie wollen!«
Gero Rius, Gandolfs Zwillingsbruder und Chefingenieur der REDHORSE, hielt sich zurück. Er saß wie erstarrt da und fixierte die Anzeigen des Displays. Alle Systeme des Keilraumschiffs arbeiteten einwandfrei. Noch. Die Schwärme stürzten sich auf jede Fünf-D-Quelle und waren in der Lage, alle Systeme eines Raumschiffs lahmzulegen, die auf hyperdimensionaler Basis arbeiteten. Dazu gehörten leider auch die Paratronschirme, und jeder an Bord der REDHORSE konnte sich die verheerenden Folgen ausmalen, falls sich der Paratau in den Laderäumen unkontrolliert entlud. Das im Schiff ausbrechende Chaos würde den Untergang zur Folge haben.
Sharman schien auf etwas zu warten, jedenfalls blickte er suchend zum Transmitter im Hintergrund der Zentrale. Er ließ sich schwer in den Sessel sinken.
»Die Passagesymbole senden, Gandolf!«, befahl er.
Der Cheffunker rührte sich nicht. Er hatte die Augen geschlossen und lauschte in sich hinein.
»Was ist los, Gandolf!«, dröhnte Sharmans Stimme.
»Hört ihr sie nicht? Sie singen, Rumus! Das Hintergrundrauschen des Schwarms ist wie Musik. Hör dir das an!«
Die Besatzung kannte Gandolf Rius' spezielle Fähigkeit. Er schaffte es, Hyperimpulse exakt zu deuten, selbst wenn die empfindliche Technik noch nicht einmal Näherungswerte lieferte. Momentan lauschte er den fremdesten Tönen, die er je gehört hatte.
Die Entfernung zwischen dem Nocturnenschwarm und der Hanse-Kogge verringerte sich weiter. Sharman murmelte etwas, das wie eine Verwünschung klang. Er änderte den Kurs des Keilraumschiffs, aber die Nocturnen waren so nicht abzuschütteln – mit einem kurzen Sprung näherten sie sich dem Schiff bis auf 100.000 Kilometer. Nicht mehr viel, dann würde die REDHORSE für sie zur willkommenen Beute werden.
»Gandolf!«, rief sein Zwillingsbruder Gero. »Die Passagesymbole! Beeil dich damit!«
Rumus Sharmans Rechte schwebte mittlerweile über dem Aktivierungsfeld für die Notsprungautomatik. Der Epsaler war bereit, das Schiff in allerletzter Sekunde aus der Gefahrenzone zu bringen.
Endlich kam der Kommandant. Anson Argyris trat aus dem Transmitter und erfasste die Situation mit einem Blick.
»Himmel!«, donnerte er. »Wollt ihr alle zur Hölle fahren?«
Der Funker sendete gleichzeitig die zusammengestellten Symbolgruppen. Der Nocturnenschwarm identifizierte das Raumschiff als Freund und drehte ab, setzte seinen ursprünglichen Weg fort.
»Das war knapp!« Rumus Sharman, Stellvertreter des Kaisers, räumte den Kommandantensessel. »Verdammt knapp sogar.«
Anson Argyris bedachte Gandolf Rius mit einem durchdringenden Blick. »Du träumst vor dich hin und übersiehst dabei das Wichtigste«, sagte er grollend. »In unserer Nähe sind Menschen in Gefahr. Wir müssen ihnen zu Hilfe kommen!«
Im Empfang waren tatsächlich seit wenigen Sekunden verstümmelte Notsignale zu vernehmen. Der Funker legte sie auf die Lautsprecherfelder um.
»Starke Beeinträchtigungen ...«, hörte die Crew der REDHORSE. »ENTSORGER-17 ... bitten um Hilfe. Sonne Zyklop ... höchste Gefahr, Tender manövrierunfähig ... Ausfälle!«
»Bei Boscyks Stern!«, schnaubte Argyris. »Was sitzt ihr da wie die Schwarmgötzen? Jeder dürfte erkannt haben, dass die Koordinaten anzumessen sind. Also vorwärts! Worauf wartet ihr?«
Die Kogge beschleunigte mit Vollschub. Gandolf Rius starrte den Kaiser verblüfft an.
Der Epsaler Sharman lachte kurz. »So ist das, wenn man es mit alten Freihändlern zu tun hat. Ihr werdet euch gehörig umsehen, bis wir am Ziel der Reise ankommen.«
Anson Argyris war eine beeindruckende Erscheinung, zwei Meter groß, breitschultrig, mit athletischem Körperbau. Sein Gesicht wirkte derb. Das tiefschwarze Haar war schulterlang und in der Mitte durch eine fünf Zentimeter breite Rasur gescheitelt. Argyris' kehlig tiefe Stimme hatte einen vertrauenerweckenden Klang. Er trug einen schwarzen gekräuselten Bart, der bis zum Brustbein reichte. Dort teilte sich der Bart in zwei geflochtene Zöpfe, die auf den Schultern unter großen Epauletten aus Howalgonium festgeklemmt waren.
Gekleidet war der Kaiser in eine dunkelrote Seidenhose, über der er bis zu den Oberschenkeln reichende Lederstiefel trug. Im linken Stiefel befand sich am oberen Ende die Scheide für ein Vibratormesser. Über dem bunten, mit Freifahrersymbolen bestickten Oberhemd saß eine lose fallende dunkelrote Jacke. Dazu trug er einen breiten Ledergürtel, an dem die goldene Schnalle auffiel. Sie zeigte Roi Dantons Konterfei. Diese Prägung war das alte Zeichen aller Freihändler und gleichzeitig der Beweis für die Zugehörigkeit des Trägers zur Urbevölkerung des Planeten Olymp. In die Schnalle war ein siganesischer Mikrogenerator integriert, der einen Hochenergieschutzschirm erzeugen konnte. Die Emission dieses Generators überlagerte die schwache Eigenstrahlung der Energiestation des Vario-500.
Ein Signal meldete, dass die Kogge den Linearraum verließ.
In Flugrichtung stand eine blutrote Sonne. Deutlich erkennbar die in Aufruhr befindliche Korona. Psionische Störfronten waren zwar erst schwach anzumessen, aber die eindrucksvolle Konzentration von Paratau beseitigte jeden Zweifel: Die ENTSORGER-17, die wie ein welkes Blatt auf die Sonne zutrieb, war aufs höchste gefährdet.
Gandolf Rius entdeckte den Nocturnenschwarm, bevor ihn die Schiffsinstrumente erfassten. Es war ein riesiger Schwarm mit gut einer Million Exemplaren, und er näherte sich einem Punkt auf der Flugbahn des Tenders, den dieser in knapp 30 Minuten erreicht haben würde.
»Warum setzen sie sich nicht mit den Beibooten ab?«, fragte Mauritius Koek. Der Chef der Feuerleitzentrale war wortkarg und gab sich meist unauffällig. Böse Zungen behaupteten, dass er in seinem ganzen Leben keinen einzigen Schuss abgefeuert habe, von Simulationen abgesehen. Aber diese Spötter legten es nur darauf an, ihn aus der Reserve zu locken.
»ENTSORGER haben keine Beiboote an Bord«, antwortete Gero Rius. »Die Tender stecken voll mit paratrongeschützten Hangars für den Paratau, und sie arbeiten effektiv. Jeder Tender hat zweihundert robotgesteuerte Fänger-Plattformen an Bord, die mit schweren Traktorprojektoren und Paratrons für die Isolierung des Parataus ausgerüstet sind. Die Ortung lässt erkennen, dass alle Fänger ausgeschleust wurden. Offenbar ist das Schiff nicht in der Lage, sie zurückzuholen. Die zahlenmäßig kleine Besatzung sitzt damit in der Falle.«
»Unsere Anrufe bleiben unbeantwortet!«, meldete Gandolf Rius. »Sie reagieren nicht.«
In der Tauregion wetterleuchteten heftige energetische Blitze. Das war die vom Paratau beim Übergang vom materiellen in den psionischen Zustand freigesetzte Energie. Schockfronten rasten nach allen Seiten. Der Tender wurde von einem dieser noch begrenzten Psi-Stürme in Richtung der Sonne gedrückt. In der optischen Erfassung sah die Zentralecrew der REDHORSE mittlerweile, dass die Triebwerke des ENTSORGER-Schiffs mit hoher Leistung arbeiteten, ohne jedoch eine nennenswerte Kursänderung zu bewirken. Der Tender flog direkt auf den Nocturnenschwarm zu.
Anson Argyris verließ seinen Platz und trat neben den Cheffunker.
»Du darfst nun spielen«, meinte er väterlich und tippte Gandolf Rius sanft auf die Schulter. »Ich weiß, du kannst das vortrefflich. Bring den Schwarm zum Abdrehen. Meinetwegen versuch es mit deiner unbegreiflichen Musik, aber untermale sie gefälligst mit den Passagesymbolen!«
Gandolf nickte knapp und versank in Konzentration. Seine Finger glitten über die Eingabefelder der Funkanlage wie über die Tastatur eines Musikinstruments. Man musste schon genau hinsehen, um wenigstens erahnen zu können, dass der Funker zugleich die hyperenergetischen Impulse der Nocturnen auf sich wirken ließ.
Gandolf Rius sendete – oder wohl eher: er spielte – die Passagesymbole in Variationen. Zugleich lauschte er mit wachsender Anspannung. Auf seiner Stirn perlte dichter Schweiß. Etwas war da, das ihn störte, nur schien er nicht in der Lage zu sein, diesen Faktor zu erkennen.
Die Nocturnen sangen ihr ergreifendes Lied. Sie änderten weder ihren Kurs, noch gaben sie anderweitig zu erkennen, dass sie die Symbole der REDHORSE verstanden und akzeptierten.
»Die Tendercrew hat es bestimmt vor uns versucht und nichts damit erreicht«, grollte Argyris. »Was ist los in diesem Bereich?«
»Ich glaube, ich habe was ...« Rius löste sich ein wenig aus seiner Konzentration. »Es wird deutlicher, je näher wir komm...«
Er verstummte. Der Gesang der Nocturnen auf den Hyperfunkfrequenzen hatte einen befremdlichen Unterton bekommen. Es war ein Beiklang, den Gandolf Rius instinktiv als melancholisch oder verzweifelt empfand. Oder als Mischung aus beidem. Jedenfalls war nichts davon auf menschliche Empfindungen übertragbar. Gandolf erkannte nur eines: Der Nocturnenschwarm war anders als die, denen Menschen bisher begegnet waren – mit ihm stimmte einiges nicht.
Der Cheffunker sah auf. »Dieser Schwarm reagiert nicht auf die Symbole und ist für alle anderen Symbole taub. Er versteht sie verkehrt. Kein Zweifel! Ich fürchte, der Schwarm ist verrückt! Anders kann ich es nicht nennen.«
»SERUNS anlegen!«, befahl Argyris und änderte den Kurs der Kogge. Er flog nun geradewegs den Tender an – ein Unternehmen auf Leben und Tod.
Eine ungeheure Macht war über sie hereingebrochen. Marna Updike wehrte sich dagegen, aber sie war zu schwach. Sie taumelte vorwärts, und wie durch Zufall gerieten die beiden nächsten Tropfen in ihre Hand. Sie schloss die Finger um den Paratau, als könne sie Halt an diesen winzigen Gebilden finden. Ringsum sah sie nur mehr wogende rote Schleier, sonst hätte sie vielleicht erkennen können, dass die Tautropfen von den Ausläufern eines Psi-Sturms zur beschleunigten Deflagration angeregt wurden.
Jemand zerrte an ihr, und die Berührung nahm ein wenig der Anspannung von ihr. Sie sah, dass Nigel Calder und die Männer draußen die Treppe hinaufeilten. Die vier Spezialisten, die noch bei ihr unter dem Schirm waren, wichen vor ihr zurück.
Marna Updike sah, dass die Tropfen in ihrer Hand aufglühten. Sie spürte kein Feuer, keine Hitze, doch das Leuchten nahm zu. Es fraß sich geradezu durch ihr Fleisch und ließ die Knochen durchscheinen.
»Den Schirm abschalten!«, schrie sie.
Hammed Ashley kam der Aufforderung nach. Der Paratron erlosch, und die Hanse-Spezialisten flohen aus der Nähe ihrer Kollegin.
»Marna, wirf die Tropfen weg!«, drängte Ashley. »Du musst dich von ihnen lösen!«
Die gegenüberliegende Wand wurde plötzlich durchsichtig. Ein glühendes Auge schielte herein. Es war die Sonne Zyklop, und obwohl niemand mehr in ihrer Nähe war, tat Marna, als ginge sie das alles nichts an.
Enorme Hitze schlug ihr von dem Stern entgegen. Ihre Brauen versengten, die Haare kringelten sich. Marnas geistige Fähigkeiten wuchsen dennoch sprunghaft an. Sie erkannte deutlich die Panik in Nigel Calders Gedanken. Von mehreren Psi-Stürmen getrieben, kam der Tender vom Kurs ab. Calder erreichte soeben die Zentrale und übernahm die Steuerung. Das Schiff ruckte und bockte.
Marna tauchte mental in die Umgebung des Tenders ein. Sie erkannte den riesigen Nocturnenschwarm, der aus Richtung der Sonne kam und sich in die Flugbahn der ENTSORGER-17 legte. Sie schrie ihre Warnung, aber niemand hörte sie.
Der brodelnde Glutball der roten Sonne verblasste so schnell, wie er aus der Hallenwand hereingebrochen war. Für einen Moment erschien es, als sei alles wie zuvor, doch dann entdeckte Marna, dass vor der Wand der Boden meterweit im Umkreis verschmort war.
Ihr Verlangen, mehr herauszufinden und mit ihren Sinnen weiter vorzustoßen, war keineswegs schon gestillt. Sie nahm die restlichen Tropfen auf und barg sie in der Hand. Die Finger zur Faust verkrampft, wankte sie zur Treppe und stieg hinauf. Ihr Atem ging keuchend.
Sie empfing Signale, die der Nocturnenschwarm aussandte. Es waren primitive Regungen, die sich nur um Fressen und Überleben drehten. Nackter Instinkt. Marna erkannte, dass die Gier der Nocturnen zwei Raumschiffen galt. Die ENTSORGER-17 war demnach nicht mehr allein.
Marna Updike taumelte einen Korridor entlang und fand einen aktivierten Transmitter, der sie abstrahlte. Sie machte sich keine Gedanken, warum das geschah, obwohl die Positronik ihr Ziel nicht kannte. Sie hatte keines, es war ihr egal.
Sie materialisierte irgendwo im Tender und torkelte weiter. Ein Tor tauchte vor ihr auf, aus der Ferne erklangen die hastigen Schritte mehrerer Personen.
Marna lehnte sich schwer atmend an eine Wand. Der Paratau in ihrer Hand leuchtete nicht mehr. Die Ausläufer eines Psi-Sturms, die den Tender gestreift hatten, waren abgeklungen. Nur die Tropfen waren geblieben und ließen in der Technikerin das Bedürfnis aufkommen, sich zu konzentrieren.
Andererseits war sie müde und wollte nur noch schlafen. Das Experiment war besser verlaufen, als sie es erwartet hatte. Vielleicht war sie eine Ausnahmeerscheinung. Die Zukunft würde es zeigen müssen.
Welche Zukunft?
Ohne dass Marna sich dessen bewusst wurde, konzentrierte sie sich doch – und verschenkte damit ihre letzte Chance, unbeschadet davonzukommen.
Etwas wie ein mentaler Orkan erfasste sie und wirbelte sie mit sich. Ihr Gehirn schwoll übergangslos auf ein Mehrfaches seines Volumens an, zumindest bildete sie es sich ein. Es war das erste bedrohliche Anzeichen, das Marna nicht beachtete. Erneut wurden ihre Gedanken von der Wucht eines psionischen Sturms gefangen.
Marna Updike fühlte sich über Raum und Zeit erhaben. Sie sah die Sonne Zyklop und den zum Spielball des Parataus gewordenen Tender ebenso wie das näher kommende Keilschiff. Zugleich wusste sie, dass beide Raumschiffe ihrem Schicksal nicht entgehen würden. Sie wusste es, aber dennoch unternahm sie nichts dagegen. Sie war nicht mehr die Hanse-Spezialistin, denn ihr Bewusstsein wurde von dem Nocturnenschwarm geradezu aufgesogen. Wirre, unverständliche Gedanken fielen über sie her ...
... und brannten etwas in ihr ein, das nichts mit dem Schwarm selbst zu tun hatte. Diese Nocturnen waren nach wie vor nicht intelligent. Was Marna mit plötzlich empfing, war jedoch der Ansturm einer intelligenten Lebensform. Sie klammerte sich daran fest und spürte eine heftige Warnung, die ihr Angst vor den Folgen ihres Tuns machte.
In ihrer Hand löste sich das restliche Psichogon auf. Eigentlich hätte ein Tropfen für eine ganze Stunde ausreicht müssen. Marna hatte jedoch zehn Tropfen in nicht einmal 30 Minuten verbrannt und deren psionische Kraft aufgezehrt.
Eine neue Schmerzwoge tobte durch ihr Gehirn. Nun war es allerdings, als trenne jemand sie gewaltsam von dem Nocturnenschwarm. Marna Updike schrie und stürzte und schleppte sich weiter bis zum nächsten Transmitter. Sie wurde entstofflicht und wiederverstofflicht und fühlte sich von starken Händen aufgehoben und weggetragen.
»Sessel!«, hörte sie jemanden sagen, ohne zu verstehen, was damit gemeint war.
Sie starrte um sich und sah Wesen, die sie erst nach langem Zögern als ihresgleichen erkannte. Ihr fehlte der Begriff, den sie dazu brauchte, er fiel ihr nicht ein. Sie wusste nicht mehr, dass es Menschen waren, dass sie selbst ein Mensch war.
»Lenz ist grün und gelb und allfarbig«, lallte sie. »Marna hat einen Schwarm, großen Schwarm, sehr lieb!«
Sie erhob sich ruckartig und ballte die Hände zu Fäusten. »Rote Teufelsaugen! Ihr Mörder, ihr ... Nicht lieb zu Klein-Marna! Marna ist traurig!«
Aus ihren Augenwinkeln quollen dicke Tränen.
Die psionischen Eruptionen in der Tauregion nahmen stetig zu. Es war wie eine Kettenreaktion, und die beinahe vollständig steuerlose Hanse-Kogge geriet immer tiefer in ihre Ausläufer hinein. Das Keilraumschiff schaffte es nicht, eine stabile Umlaufbahn um Zyklop einzuschlagen. Die Gravitation der roten Sonne zerrte bereits an ihm, und die Psi-Stürme brachten die Steuersysteme so gründlich durcheinander, dass sie den Sog eher noch unterstützten, statt sich ihm zu entziehen.
»Vierhunderttausend Kilometer bis zur Korona!«, meldete Gandolf Rius. »Verdammt, Anson, das schaffen wir nicht!«
Der Kaiser von Olymp schwieg. Er saß steif im Kommandantensessel und schien überhaupt nichts zu unternehmen, dennoch wurde die Kogge von ihren Triebwerken aus der Bahn gestoßen. Sie machte einen wahren Sprung vorwärts, folgte dem Tender und holte in einem waghalsigen Manöver auf. Der Vario-500 hatte sich mit der Steuerpositronik verbunden und handelte schneller und präziser, als ein Mensch dies vermocht hätte.
Rumus Sharman, der als Emotionaut ausgebildet war, wurde sich einmal mehr der Tatsache bewusst, dass er eigentlich nicht gebraucht wurde. Das galt indes nur für Situationen, in denen Anson Argyris sich dazu herabließ, selbst die Flugkontrollen zu übernehmen.
Der Abstand zum Tender verringerte sich immer schneller. Die Tauregion war nicht weit voraus.
»Eine Eruption!«, warnte Gandolf Rius. Er spürte die Veränderung, bevor die Schiffssensoren sie registrierten. »Achtung – jetzt!«
Ein wuchtiger Schlag schien den Schutzschirm der Kogge zu treffen und ihn sozusagen zu durchdringen. Die Schiffszelle dröhnte, unmittelbar übertönt vom Heulen des Alarms. Ebenso jäh verstummten die Sirenen wieder, von Argyris abgeschaltet. Die REDHORSE steckte schon tief im Toben eines heftigen Psi-Sturms, der stärker wurde als alle zuvor beobachteten.
»Zwei Triebwerke wegen Überhitzung ausgefallen!«, rief Gero Rius, mehr für die Crew bestimmt als für den Kommandanten, der seine Informationen ohnehin unmittelbar von der Hauptpositronik bezog. »Wir verlieren Energie!«
Die Ortungsdaten zeigten die Echos des Nocturnenschwarms. Das enorm weit ausgedehnte Gebilde war in einer Kurztransition näher gekommen und schien die REDHORSE einhüllen zu wollen. Die extrem feinen Quarzfladen schillerten im Widerschein der Sonne. Der Weltraum schien von einem unheimlichen, zugleich überaus faszinierenden Feuer erfüllt zu sein.
»Gero, das ist deine Aufgabe!«, sagte der Kaiser von Olymp ruhig. »Wenn wir es schaffen, dann nur mit deiner Hilfe!«
Gero Rius kam zum Platz des Kommandanten. Äußerlich war er nicht von seinem Zwillingsbruder zu unterscheiden. Allerdings hatte seine angeborene Übersensibilität nichts mit Gandolfs »Hyperfühligkeit« zu tun, sondern erstreckte sich auf alles maschinell Funktionierende. Mit schlafwandlerischer Sicherheit fand Gero Fehlfunktionen und führte Reparaturen aus, an die sich kein anderer gewagt hätte. Ihn und Gandolf nannten alle an Bord ihrer Fähigkeiten wegen einfach »die Lauscher-Zwillinge«.
Gero lauschte erkennbar angespannt. Er achtete aber nicht auf den Hyperfunk wie Gandolf, der einen Dauerfunkspruch zur ENTSORGER schickte. Seine Aufmerksamkeit galt den Maschinensektoren. Eine ohrenbetäubende Geräuschkulisse dröhnte durch die Zentrale, kaum dass er die akustische Übertragung hochschaltete. Sekunden nur, dann regelte die Automatik den Lärm herunter. Doch der Chefingenieur hatte schon genug herausgehört.
»Es gibt Probleme!«, rief er Argyris zu und hastete zum Transmitter. Ungeachtet des im nahen Raum tobenden Psi-Sturms nutzte Gero diese Transportmöglichkeit. Sekunden später meldete er sich aus der Energiestation: »Hier werden gleich mehrere Meiler kritisch! Seht euch vor!«
Die Warnung kam zu spät. Der Schutzschirm der Kogge brach flackernd zusammen, und die Nähe des verrückten Nocturnenschwarms wirkte sich übergangslos aus. Wo im Schiff Hyperenergie eingesetzt wurde, begann diese abzufließen.
Ein neuer wuchtiger Schlag schien die Kogge zu treffen. Die Absorber wimmerten unter der jäh auftretenden Belastung. Anson Argyris reagierte nicht darauf, denn den äußeren Einflüssen gab es ohnehin nichts entgegenzusetzen.
Der Panoramaschirm zeigte die ENTSORGER-17. Der Flottentender der DINOSAURIER-Klasse war ein beeindruckendes Gebilde. Die Plattform allein durchmaß zwei Kilometer, der angeflanschte Kugelraumer beachtliche 750 Meter. Die träge Form ließ das Bocken und Schlingern des Schiffes besonders gut erkennen.
Gandolf Rius schrak aus seiner Konzentration auf. Er achtete nicht mehr auf den Nocturnenschwarm, sondern wartete auf eine Antwort aus dem Tender. Sie kam nicht. Allerdings zeigte sich ein wenige Sekunden anhaltender schwacher Lichtschimmer drüben an der Plattform.
»Wir müssen näher ran!«, drängte Sharman.
Die Kogge wurde ohnehin auf den Tender zugetrieben. Mittlerweile war sie aber auch in eine unkontrollierte Rotation versetzt worden.
Die Triebwerke dröhnten. Wieder machte die REDHORSE einen Satz nach vorn, driftete längs an dem Tender vorbei, stoppte ab und näherte sich gleich darauf, erneut schneller werdend, der Plattform fast auf Kollisionskurs.
»Alles abschalten, Gero!«, mahnte Anson Argyris.
Das Rumoren der Triebwerke verstummte. Die starken Scheinwerferbatterien der Kogge flammten auf. Wie aus der Weltraumschwärze ausgestanzt wirkten die jäh entstehenden hellen Flecken auf der Hülle des Tenders. Die Scheinwerferbündel tasteten rasch weiter; sie suchten nach der Hangarschleuse, von der das Lichtsignal ausgegangen war.
»Ich brauche zehn Sekunden!«, stieß Argyris hervor.
Die Suchscheinwerfer vereinten sich in einem grellen Aufleuchten. Auf den Schirmen wurden die Traktorstrahlen als Grafiken eingeblendet. Sie griffen zu dem Rumpfsegment hinüber, und die Messwerte zeigten an, dass mehrere Objekte von dem Traktorfeld erfasst wurden. Gleichzeitig wirbelte der Psi-Sturm die REDHORSE weiter, nicht vollends auf den Tender zu, sondern unter der Plattform hindurch. Die Distanz wuchs wieder an.
»Gero!«, brüllte Anson Argyris gegen den aufkommenden Lärm an. »Unternimm etwas, oder wir fallen dem Schwarm zum Opfer!«
Ein schwer verständliches Keuchen antwortete. Wer genau hinhörte, konnte den Eindruck gewinnen, dass der Chefingenieur nach einem Hochenergiedraht verlangte.
»Draht ist in dem Versorgungsschacht, keine zehn Meter von dir!«, rief Argyris. »Trenne ein Stück aus irgendeiner untergeordneten Versorgungsanlage heraus – alles andere würde zu lange dauern! Lieber ein beherrschbarer Schaden als ...«
Gero Rius antwortete mit einem Fluch, der selbst dem Kaiser Ehre gemacht hätte.
Der nächste Psi-Sturm brach los, diesmal am anderen Ende der Tauregion. Dennoch wirkte er sich schon Minuten später aus. Das Traktorfeld war da gerade erloschen, die vom Tender Geretteten befanden sich in der Kogge. Gleichzeitig erhellte sich der Hochenergiedraht, den Gero Rius verlangt hatte. Der Schutzschirm baute sich flackernd auf und stabilisierte sich.
»Ich brauche fünf Triebwerke, nicht mehr, dazu eine Notetappe durch den Linearraum!«, drängte Anson Argyris.
Wie Gero Rius das Kunststück fertigbrachte, würde wohl immer sein Geheimnis bleiben. Jedenfalls gelang es schon wenige Minuten später, die Kogge zu beschleunigen und in Sicherheit zu bringen. Sie überwand fünf Lichtminuten in einer spontanen Blindtransition. In der Sekunde, in der sie in den Normalraum zurückfiel, brach der überlastete Schutzschirm zusammen.
Argyris erhob sich von den Kontrollen und forderte Rumus Sharman mit einer knappen Kopfbewegung auf, den Kommandantenplatz zu übernehmen. Es war nun Sache des Epsalers, dass die REDHORSE eine Warnung an alle Schiffe in Fornax sendete und zugleich den Rückflug zum Kontor antrat. Bescheidene 4000 Lichtjahre waren keine Affäre.
Der Kaiser suchte den Hangar auf, in dem die Geretteten von mehreren Ärzten und Medorobotern in einer Erstversorgung betreut wurden. Nigel Calder kannte er schon von mehreren Funkkontakten. Mit den anderen hatte er bislang nicht zu tun gehabt.
Eine Frau fiel Argyris sofort auf. Er erkannte auf den ersten Blick, wie extrem verwirrt sie sein musste, und er brachte ihren Zustand sofort mit dem Paratau in Verbindung.
Sie kam auf ihn zu und krallte ihre Finger in seinen rechten Oberarm, als wolle sie nie wieder loslassen.
»Er ist ein Narr«, brachte die Frau abgehackt und wimmernd hervor. »Aber er weiß, was vorgeht. Der Narr von Fornax weiß alles!«
Sie hatten die ENTSORGER-17 nicht mehr bergen können. Der von dem Nocturnenschwarm aller fünfdimensionalen Energie beraubte Tender war in der Korona der Sonne verglüht. Der Schwarm hatte sich währenddessen bis zum vierten Planeten zurückgezogen und sich auf dessen Nachtseite in Sicherheit gebracht. Das war zweifellos eine Instinktreaktion gewesen, denn die Paratau-Region verging in einer gewaltigen Psi-Explosion, die sich weit ausbreitete. Der Sturm vernichtete für die Hanse wertvolle Tauvorkommen, und seine Auswirkungen würden zweifellos wochenlang nachwirken.
Anson Argyris setzte die gerettete Besatzung des Tenders auf Kontor Fornax ab.
Dort war erst kurz vorher ein Kurierschiff aus der Pinwheel-Galaxis M 33 eingetroffen. Dessen Kommandant berichtete über das Eingreifen der Shana, die einen Krieg verhindert hatten. Zum ersten Mal war von den Maakar die Rede, vor allem aber von dem Friedenspakt zwischen der Kosmischen Hanse und den Kartanin mit dem Recht für beide Parteien, den Paratau in Fornax zu ernten.
»Da frage ich mich, wofür wir hier die ganze Zeit gearbeitet haben ...«
Mit dem leicht verbittert klingenden Kommentar empfing die Kontorchefin Leila Terra den Kaiser auf einer Terrasse des Hauptgebäudes, von der aus der Blick weit über das St. Elms-Meer schweifen konnte.
»Ich verstehe dich«, sagte Argyris. »Doch Abkommen ist Abkommen, und den Nocturnenstöcken dürfte es herzlich egal sein, wer ihre Galaxis entsorgt. Es ist ohnehin genug Paratau für alle da. Zudem hat das Psichogon nicht nur Vorteile. Nigel Calder wird dir Näheres darüber berichten können.«
Anson Argyris schilderte seinerseits das Geschehen im Zyklopsystem. Es war ungewöhnlich, dass ein Nocturnenschwarm in keiner Weise auf die Passagesymbole reagierte. Noch dazu, dass er in einen Bereich einflog, in dem eine Tauregion unmittelbar vor der Deflagration stand.
»Ich werde den Weisen von Fornax aufsuchen«, schloss der Vario-500. »Weil ich in der Hinsicht einige Fragen an ihn habe.«
»Kein Einwand meinerseits«, sagte Leila und schenkte Argyris ein herausforderndes Lächeln. »Du kannst die Zeit nutzen, während ich auf Terra sein werde.«
»Adams ruft dich zurück?«
Die Kontorchefin deutete auf die Datumsanzeige an der Wand des Gebäudes. Sie zeigte den 15. Juni 430 NGZ. »Er hatte nichts eiliger zu tun als das HQ Hanse aufzusuchen, nachdem die Angelegenheit in der Heimat der Kartanin geklärt war. Homer ist nicht gut auf Stalker zu sprechen. Er glaubt, dass der Sotho ihn buchstäblich verraten und verkauft hat.«
»Kein Wunder. Der Gesandte der ESTARTU hat von Anfang an intrigiert.«
»Ich habe außerdem einen persönlichen Grund, die Milchstraße aufzusuchen«, fuhr Leila fort. »Ich werde mein Amt als Hanse-Sprecherin abgeben. Da die Kartanin bald wieder in Fornax erscheinen dürften, ist mein Platz hier und nirgendwo sonst. Maud Leglonde, Carlo Bylk, Syrene Areyn und einige mehr haben mir bereits zu verstehen gegeben, dass es ohne mich nur halb so schön ist.«
»Dann viel Spaß – und bis bald«, wünschte Anson Argyris und fragte sich, ob Leila Terra über seine wahre Identität informiert war. Er durfte wohl davon ausgehen, dass sie als Hanse-Sprecherin sein Geheimnis kannte.