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Der Bankbeamte John Flatter hatte im Gespräch seinem Freunde, dem Hotelkellner Friedrichsen, erzählt, daß am dreißigsten September mit dem Abend-Postzug für hunderttausend Dollar teils Bargeld, teils Wertpapiere nach Kansas geschickt würden. John Flatter hatte für diese Nachricht keinen Cent bezahlt bekommen, wohl aber dafür seinen Posten eingebüßt. Der Hotelkellner Friedrichsen gab die Nachricht seinem Bekannten, dem ehemaligen Taxilenker Merkulow weiter, erhielt dafür zehn Dollar und verlor demzufolge wenige Tage später ebenfalls seinen Posten. Merkulow, ein der Polizei durch mannigfaltige Vorstrafen bereits wohlbekannter Mann, verkaufte sein Wissen über die große Geldsendung für hundertzwanzig Dollar an den gewesenen Anwalt Sherbourgh, der nachher vor Gericht äußerte, Merkulow habe die Nachricht eigentlich „verschleudert“, und man müsse ihm, Sherbourgh, daher mildernde Umstände zubilligen, denn er hätte der Versuchung nicht widerstehen können.

Es war bekannt, daß Sherbourgh Beziehungen zu allem lichtscheuen Gesindel New Yorks unterhielt. Er vermittelte alles — angefangen mit Wohnungen in allen Vierteln New Yorks und Stellungen mit und ohne Sicherheitsleistung bis einschließlich Gelegenheiten zu Einbrüchen, Raubmorden und — Eisenbahnüberfällen. Diese letzte Art Vermittlung kam ihm trotz dem Geschick seines Anwalts am teuersten zu stehen — er wurde später dafür zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Das Gericht nahm mit Recht an, daß er im Gegensatz zu Flatter, Friedrichsen und Merkulow genau gewußt habe, zu welchem Zwecke er die Nachricht erst bezahlte und dann weiterverkaufte.

Sehr zum Leidwesen der Polizeigewaltigen gelang es nicht, den Weg, den die Nachricht über die Geldsendung genommen hatte, weiter zu verfolgen.

Sherbourgh hatte angegeben, sie „gesprächsweise“ einem Fremden gegenüber erwähnt zu haben. Der Fremde habe ihm dafür ein Päckchen Dollarscheine eingehändigt, das Sherbourgh vergessen habe nachzuzählen. Er beschrieb den Fremden sehr genau, aber — wie der Untersuchungsrichter bemerkte — paßte diese Beschreibung auf die halbe männliche Bevölkerung New Yorks.

„Der Mann mit dem schwarzen Hut“ — so nannte Sherbourgh den Fremden, und alles sprach dafür, daß Sherbourgh ihn wirklich nicht kannte, denn er hätte sonst kaum den verschiedenen Vorschlägen widerstanden, die ihm in verblümter Weise von der Polizei gemacht wurden und alle auf eine wesentlich verkürzte Zeitdauer seines Aufenthalts im Zuchthaus hinausliefen. Diesen „Mann mit dem schwarzen Hut“ gelang es der Polizei nicht zu finden, obwohl sie von ihm Abdrücke sämtlicher Finger und eine genaue Lebensbeschreibung besaß, und obwohl er sich keinesfalls vor der Polizei versteckte. Die Erklärung für diesen etwas eigentümlich anmutenden Umstand war sehr einfach: Die Polizei besaß zu viel Fingerabdrücke und Lebensbeschreibungen von Männern, die außerhalb des Zuchthauses gewöhnlich einen schwarzen Hut trugen.

Jim Crocks, der Mann mit dem schwarzen Hut, lehnte heute genau wie gestern und vor zwei Wochen gegen neun Uhr abends nachlässig am Schanktisch in der Bar. „Die schiefe Ecke“, hatte immer noch den schwarzen Hut auf und trank wie stets aus Ermangelung eines Besseren Himbeerlimonade. Eine dicke Zigarre zwischen den Lippen, stierte er vor sich hin auf die flinken Hände des Barfräuleins, das vor seinen Augen mit großer Geschwindigkeit die verschiedensten Getränke für eilige und müßige Gäste bereitete.

„Fräulein, der Mann hat um fünfzig Cent zu wenig bezahlt“, sagte Jim Crocks gemächlich. Dabei hatte er den Mann auch schon am Kragen festbekommen und ließ ihn erst los, nachdem ein blankes Fünfzigcentstück auf den Tisch fiel. Im übrigen waren Jim Crocks sowohl dieser Mann als das hübsche Fräulein furchtbar gleichgültig. Wenn er sich um diese Kleinigkeit kümmerte, geschah es nur aus Langeweile und einem angeborenen Gerechtigkeitsempfinden. Dieses Empfinden erstreckte sich aber keinesfalls auch auf Raubüberfälle bei Eisenbahnzügen und ähnliche „große Sachen“.

Nein, Jim Crocks kümmerte sich nicht um das hübsche Barfräulein, denn Jim Crocks hatte seit drei Monaten ein festes Verhältnis. Er war überzeugt, daß er sein Mädchen lieb hatte, und sie liebte ihn ganz bestimmt ebenso tief. Es war eine ruhige, anständige Liebe — nicht eine von der Art, die einem das Essen verleidete und den Geschäftsgang beeinträchtigte.

Ein Mann, klein und schmächtig, mit spärlichem, schwarzem Bärtchen, drängte sich an die Bar heran. Er begrüßte niemanden, und auch ihn grüßte niemand, obwohl ihn fast alle kannten, die hier verkehrten. Dieses Männchen lebte vom Zutragen nicht ganz ungefährlicher Nachrichten. Man nannte ihn Spitzel, da es ihm nicht darauf ankam, mal auch eine Nachricht der Polizei zuzutragen. Man verachtete ihn, aber hin und wieder brauchte man ihn auch. Hatte er einmal aufs neue der Polizei Nachrichten zugetragen, so wurde er in irgendeiner stillen Seitenstraße ruhig und ohne Aufhebens von mehreren Männern so lange geprügelt, bis ihm nach Ansicht der Strafvollzieher für absehbare Zeit die Lust verging, seine Beziehungen zur Polizei weiter auszubauen.

„Nun?“ fragte Crocks rauh, ohne von seinem Glas aufzublicken.

„Er wird kommen“, raunte das Männchen heiser.

Crocks fischte einen schmierigen Dollarschein aus der Tasche und warf ihn auf den Tisch.

„Aber Sie sagten doch, ich bekäme zehn ... zehn schöne Dollar“, wandte der schmächtige Mann schüchtern ein.

„Er ist noch nicht gekommen“, schnitt Crocks ab. „Wir reden später darüber.“ Plötzlich drehte er sich heftig dem Mann zu. „Was willst du noch? Scher dich zum Teufel!“

Das kleine Männchen zog sich erschrocken zurück und setzte sich in die äußerste Ecke an ein freies Tischchen. Von hier aus konnte man, ohne aufzufallen und ohne jemanden zu belästigen, alles beobachten, was an der Bar vorging.

Crocks rückte ein wenig beiseite, so daß er den Blick von nun an auf die Eingangstür gerichtet hielt. Es verging aber noch eine lange Zeit, bis er endlich den Mann erblickte, dessen Kommen ihm angekündigt worden war.

Es war George Wessley. Crocks wußte es sofort, als er ihn erblickte, obwohl er ihn noch nie im Leben gesehen hatte. Aber Wessley sah nicht nur genau so aus wie auf den Lichtbildern, die Crocks in der Tasche hatte, sondern er trug sogar denselben feinen Mantel und Hut wie auf einem der Bilder. Auch das Stöckchen fehlte nicht, denn Wessley hatte sich inzwischen ein neues gekauft.

Er war durch die hohe Drehtür getreten und sah sich suchend um. Bestimmt bemerkte er das kleine Männchen in der Ecke, das er ja kennen mußte, aber er beachtete es nicht, sondern schritt ruhig auf einen freien Tisch in der Nähe der Bar zu. Er legte den nagelneuen Hut neben sich auf einen Stuhl, zog die gelben Handschuhe aus, bestellte sich etwas zu essen und zu trinken und vertiefte sich ins Lesen einer mitgebrachten Zeitung.

Die vornehme Erscheinung Wessleys fiel in dieser Umgebung nicht auf, denn es verkehrten hier viele Männer, deren durch die Steuerbehörde nicht nachweisbares Einkommen eine ebenso feine Kleidung erforderlich machte. Aufgefallen wäre nur, wenn Wessley sich hier viel umgesehen und andere Leute beobachtet hätte; aber davor hütete sich der junge Kapitän, denn er wußte genau, in welcher Art Bar er sich befand.

Der Tip, den ihm der kleine schwarzbärtige Mann gegeben hatte, war gut. Es fragte sich nur, ob der Mann auch die Wahrheit gesprochen hatte. In dieser Bar sollte nach seinen Angaben Sherbourgh vor der Verhaftung viel verkehrt haben, und wenn das stimmte, war es nicht unwahrscheinlich, daß Sherbourgh hier auch den „Mann mit dem schwarzen Hut“ kennengelernt hatte. War es da nicht möglich, diesen Mann auch jetzt noch hier zu treffen oder etwas über ihn zu erfahren?

Wessley las seine Zeitung, und er las sie wirklich: Er wußte, daß die meisten Besucher dieser Bar es unschwer erkennen würden, falls er nur so tat, als lese er. Und Wessley war so sehr ins Lesen vertieft, daß er gar nicht bemerkte, wie und woher die Dame gekommen war, die jetzt mit einer schüchternen Entschuldigung an seinem Tisch Platz nahm.

„Oh, bitte, Sie stören mich gar nicht“, sagte der Kapitän freundlich und rückte ein wenig zur Seite. Mit dem geübten Auge des Kriminalbeamten betrachtete er unauffällig und doch aufmerksam das bleiche, etwas müde Gesicht des vielleicht zweiundzwanzigjährigen jungen Mädchens an seinem Tisch. Innerlich stellte er etwas befremdet fest, daß dieses Mädchen in keiner Weise hierher paßte. Weder konnte sie die Freundin eines der hiesigen Geschäftemacher sein, noch war es denkbar, daß sie zu jener Art Frauen gehörte, die sich um diese Zeit mit Vorliebe an den Tisch eines einsamen Herrn setzen.

Sie sah ängstlich aus, und ihre großen blauen Augen blickten mit einer stummen, erschreckten Frage bald den einen, bald den anderen der lebhaften und etwas auffallenden Gäste an. Sie trug ein graugestreiftes Jackettkostüm, das sie wohl vorzüglich kleidete, aber doch einen etwas abgetragenen Eindruck machte. Das fiel um so mehr ins Auge, als die meisten der anwesenden Damen in großer Abendkleidung waren.

„Was darf es sein?“ erkundigte sich der Ober bei der Fremden in einem so herablassenden Ton, daß Wessley an sich halten mußte, um eine scharfe Rüge zu unterdrücken.

„Kaffee“, sagte sie leise, kaum hörbar.

Fünf Minuten darauf brachte der Ober den verlangten Kaffee. Er stellte das Geschirr mit betonter Absichtlichkeit geräuschvoll und nachlässig auf den Tisch, wie es ein Ober nur dann tut, wenn er von vornherein die Hoffnung auf ein anständiges Trinkgeld aufgibt.

„Darf ich gleich um Kasse bitten?“ erkundigte er sich darauf gleichmütig und sah starr nach der Tür.

In das blasse Gesicht der Fremden stieg jähe Röte. Hastig nestelte sie an ihrer Handtasche und suchte ein Geldstück hervor.

Wessley räusperte sich drohend. Er war empört, aber er wollte in dieser Bar einen Auftritt nach Möglichkeit vermeiden. Schließlich befand er sich ja hier in dienstlicher Eigenschaft und durfte sich nicht die Aussichten auf den Erfolg seiner Nachforschungen mutwillig verderben.

Achtlos strich der Ober das Geldstück ein und sah Wessley abschätzend von der Seite an.

„Wünscht der Herr vielleicht einen anderen Tisch?“ erkundigte er sich zuvorkommend und bewies mit dieser Frage, daß er Wessley ganz und gar falsch verstanden hatte.

„Ich wünsche keinen anderen Tisch“, sagte der Kapitän beherrscht, aber streng. „Ich wünsche einen anderen Ober, der seine Gäste nicht so niederträchtig behandelt.“

„Mein Herr! ...“

„Verschwinden Sie!“ warnte Wessley. „Sie kennen mich wohl noch nicht ...“

„Mein Herr! ... Diese Dame ...“

Mit einem Ruck stand Wessley auf.

„Guter Mann“, begann er langsam. „Lassen Sie es sich gesagt sein, daß es mir gar nicht darauf ankommt, meine Himbeerlimonade auf Ihre weiße Hemdbrust zu schütten.“

Mit gekränkter Würde ging der Ober von dannen. Wessley setzte sich und glättete die Zeitung, die er im Zorn zerknüllt hatte. Als er zu seiner Nachbarin aufblickte, gewahrte er mit jähem Schrecken, daß sie den Blick starr auf ihre Handtasche gesenkt hielt, und daß auf diese alte, abgenutzte Handtasche ein paar große Tränen fielen.

Wessley war ratlos.

„Entschuldigen Sie, wenn ich Sie irgendwie verletzt habe“, brachte er stockend hervor. „Aber dieser Lümmel von einem Ober ...“

Sie antwortete nicht, sondern schüttelte nur stumm den Kopf.

„Fehlt Ihnen etwas?“ forschte er. „Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?“

Einen Augenblick schien sie zu überlegen, aber dann schüttelte sie wieder abwehrend den Kopf.

In diesem Augenblick schlenderte Crocks an dem Tisch der beiden vorüber. Weder das Mädchen, noch Wessley beachteten ihn, obwohl er sie beinahe streifte. Dann aber sah Wessley mit Staunen, daß der Fremde einen vielfach zusammengefalteten Zettel neben die Tasse des Mädchens legte.

Prüfend musterte Wessley den sich langsam, mit leicht wiegendem Schritt entfernenden Fremden. Es gab keinen Zweifel: das war einer von der Stammkundschaft dieses Hauses. Und dieser Mann kannte das sonderbare Mädchen an Wessleys Tisch?

Mit einem furchtsamen Blick sah sie Crocks nach.

Was aber der Kapitän gar nicht begriff, war der Umstand, daß sie den Zettel unbeachtet neben ihrer Tasse liegen ließ.

„Kennen Sie den Menschen?“ fragte Wessley herrisch und überlegte gar nicht, daß er kein Recht zu dieser Frage und zu diesem Ton hatte.

„Nein, nein, bestimmt nicht“, antwortete sie, und es klang genau wie eine Rechtfertigung einem Menschen gegenüber, dem sie eine Erklärung schuldig war.

„Würden Sie dann vielleicht gestatten, daß ich den Zettel lese?“ fragte er rasch.

Sie nickte, aber sie rührte den Zettel nicht an. Er mußte selbst hinüberlangen und ihn sich holen.

Verblüfft las er:

„Kleine, verdufte sofort, sonst setzt’s was!“

Sekundenlang dachte Wessley nach.

„Und Sie kennen den Mann wirklich nicht?“ fragte er dann noch einmal.

„Nein, ich habe ihn noch nie gesehen.“

„Na, jetzt wird’s heiter!“ rief Wessley erbost. „Wissen Sie, was der Kerl Ihnen schreibt?“

„Nein, nein, und ich will es auch gar nicht wissen“, antwortete sie hastig, und Wessley begriff, daß sie auf diesem Zettel eine ganz andere Botschaft vermutete.

„Er schreibt, Sie sollen sofort von hier verschwinden“, erklärte er finster.

Erschrocken sah sie auf.

„Dann ... dann ist es wohl besser, ich gehe ...“

„Nein“, versetzte Wessley fest. „Sie bleiben. Ich betrachte Sie jetzt als meinen Gast, als meine Schutzbefohlene — nennen Sie es, wie Sie wollen. Ich möchte jedenfalls den Mann kennenlernen, der ungestraft die Schutzbefohlene des Kapitän ... hm .. des Baron Steinitz belästigen darf!“

In ihren Augen leuchtete es flüchtig auf, aber sogleich wurde der Blick wieder furchtsam und erschrocken: Neben ihr stand die große stämmige Gestalt Crocks’.

Mit dem Fuß rückte er sich den Stuhl zurecht und setzte sich ungefragt an den Tisch. Die dicke, halbaufgerauchte Zigarre glimmte zwischen seinen Lippen, der schwarze Hut saß ihm schief und verwegen auf dem Kopf, und sein Gesicht hatte einen dreisten und drohenden Ausdruck.

Zunächst sprach keiner von den dreien ein Wort. Wessley wartete ab. Als er aber merkte, daß das Mädchen Anstalten machte davonzulaufen, griff er ein.

„Verlassen Sie augenblicklich diesen Platz!“ wandte er sich scharf an Crocks.

„Nur immer mit der Ruhe, junger Mann“, erwiderte Crocks grollend. „Will Sie ja nur warnen. Die Kleine hier ist nämlich ein ganz gerissenes Frauenzimmer. Sie wären nicht der erste, dem sie die Moneten aus der Tasche zieht. Hab’s selber erlebt ...“

„Schämen Sie sich!“ sagte das Mädchen heftig und beinahe weinend. „Sie kennen mich ja gar nicht. Wie können Sie so lügen, so gemein lügen ...“

„Sachte, sachte“, wehrte er ab. „Und ob ich dich kenne, Kleine ...“

„Sie lügen!“ erklärte Wessley wütend. „Und wenn Sie jetzt nicht sofort ...“

„Was regen Sie sich denn auf, junger Mann?“ fragte Crocks erstaunt. „Fragen Sie doch die Kleine, ob sie auch Fred Maising nicht kennt. Ich meine den Maising, den sich heute die Polizei zur näheren Besichtigung abholte! Fragen Sie sie doch!“

Das Mädchen sah den Fremden so entsetzt und so — schuldbewußt an, daß Wessley sich die Frage ersparen konnte. Er fing noch einen flehenden Blick aus ihren großen blauen Augen auf, dann war sie aufgesprungen und lief davon, an der Bar vorbei und durch die Drehtür hinaus.

Achtung! Totes Gleis

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