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Die Briefe an Käthe und Hans Neubauer
ОглавлениеAls Marineseelsorger in den Niederlanden hat Pötzsch während der fünf Jahre seines Dienstes dort kein Tagebuch geführt. Wahrscheinlich waren persönliche Aufzeichnungen zu riskant. Die 1918 begonnenen Tagebücher reichen bis Anfang 1940; der Band 1941 enthält nur eine Eintragung zur Jahreswende 1940/41. Erst 1947 werden die Tagebuchaufzeichnungen fortgesetzt, die bis 1955 reichen.103 So sind es vor allem seine Briefe, Gedichte und Lieder, in denen Pötzsch formuliert hat, was ihn in den Kriegsjahren bewegte.
Einblick in die Verhältnisse in den Niederlanden, in denen Pötzsch sein Amt zu versehen hatte, gibt uns das Erinnerungsbuch von Aart van der Poel (1917–2001) (Abb.16), der ihn als junger Theologiestudent in Den Haag kennenlernte.104 Nach van der Poel hat Pötzsch dort mit drei Pfarrern zusammengearbeitet, die an Konflikten zwischen Niederländern und deutschen Nazis und ihren niederländischen Handlangern beteiligt waren. Gerrit Bos war Pfarrer im Stadtteil Valkenboosbuurt und zugleich Gefängnispfarrer in Scheveningen. Dirk Arie van den Bosch war Pfarrer in den Arbeitervierteln von Den Haag, wo seine Gottesdienste stets überfüllt waren. Van den Bosch wurde 1940/41 als politischer Gefangener der Nazis in Scheveningen inhaftiert und hatte in dieser Zeit viel Kontakt zu Arno Pötzsch. Im Oktober 1941 wurde er ins KZ Amersfoort verbracht, wo er nach Misshandlungen und Krankheit im März 1942 starb. Paul Kaetzke war seit 1936 Pfarrer der Deutschen Evangelischen Gemeinde (DEG) in Den Haag, in den Jahren der deutschen Besatzung ein Zentrum kirchlichen Widerstands. Unter seiner Leitung gelang es, zahlreiche Juden und andere Flüchtlinge vor dem sicheren Tod zu retten. „Er sah sich selber jedoch nicht als Held, sondern als jemand, der nur ‚seine Pflicht‘ tat.“105 Als die Nazis ihn zu boykottieren versuchten, setzte Amtskollege Pötzsch sich für seinen Freund ein. Er erreichte, dass die Wehrmacht Kaetzke zum „Marinepfarrer i.N.“ ernannte. Gestapo und SS lasen das irrtümlich als „in den Niederlanden“, es bedeutete aber „im Nebenamt“.106 Rückblickend schrieb van der Poel später: „Obwohl er in der Uniform des Feindes war, habe ich Arno Pötzsch doch schätzen gelernt als treuen Christen, guten Seelsorger und mutigen Menschen. Das Wort Zivilcourage beschreibt sein Verhalten am besten.“107
Pötzsch bekam sein Büro mit eigenem Mitarbeiterstab im ehemaligen Hotel ‚De Wittebrug‘ an der Grenze zu Scheveningen. Hier hatte er die Möglichkeit, sich nach seinen Vorstellungen einzurichten. Man nahm an, er habe mit einer eigenen Feldpostnummer, 30450, unzensierte Briefe versenden können.108 Bert van Gelder berichtet dagegen, dass Pötzsch dieselbe Feldpostnummer hatte wie sein katholischer Kollege, Marinepfarrer Bernhard Nieberding. Formell konnten sie zwar „unzensiert Post verschicken und bekommen.“109 Da sie jedoch gewusst hätten, dass die Briefe geöffnet und gelesen wurden, hätten sie den Marinedekanen nur unverfängliche Nachrichten geschickt. Wäre dies der Fall gewesen, müsste allerdings erklärt werden, wie es Pötzsch gelang, mit seiner Feldpostnummer über mehrere Jahre persönliche Briefe zu versenden und zu empfangen, die wenig verhüllt Einblick in seine Situation und seine Gedanken gewährten.
In ‚De Wittebrug‘ (Abb.17) gab es auch genügend Raum für eine Bibliothek. Diese wuchs stetig an, weil immer neue Paketsendungen mit Büchern und Zeitschriften aus Deutschland eintrafen. Im Gefängnis für politische Gefangene der Nazis in Scheveningen, das die Niederländer ‚Oranjehotel‘ nannten, hatte Pötzsch viel zu tun, um Häftlinge seelsorglich zu betreuen. Die Bestände der dortigen Bibliothek versorgte er ebenfalls mit Nachschub. Die Häftlinge, die sich Bücher ausleihen konnten, waren nicht an Romanen und anderer Literatur zur Entspannung interessiert, aber an Studienliteratur (z.B. auch an theologischen Büchern), die außerhalb des Gefängnisses nicht erhältlich war.
Im Vorwort zu seinem 1947 in Hamburg erschienenen Büchlein „Von Gottes Zeit und Ewigkeit“ wird Arno Pötzsch schreiben: „Seit Jahren durch einen umfangreichen Dienst an Lebenden und Toten bis an die Grenzen der Kraft beansprucht, habe ich jeglichen außerdienstlichen Briefwechsel, auch den mit den nächsten Freunden, aufgeben müssen.“110 Ein bisher nur auszugsweise bekannter Briefwechsel nötigt dazu, diese Aussage im Blick auf die Jahre bis 1945 zu relativieren. Während des Zweiten Weltkriegs hat Pötzsch nämlich immer wieder Briefe nach Cuxhaven gerichtet, die dienstliche Angelegenheiten eher am Rande und in notgedrungener Kürze streifen. Sein Hauptinteresse galt den Büchern, die er für sich oder zur Weitergabe an andere benötigte.
Pötzsch hatte zwar regen Kontakt zu einem holländischen Buchhändler, der Bücher für ihn bestellte.111 Doch dies war nicht die einzige Quelle, von der er sich Literatur besorgte. Rund 120 Briefe, die er in den Jahren 1938 bis 1945 an seine Buchhändlerin Käthe Neubauer schrieb, bieten Einblick in seine Tätigkeit und seine persönlichen Gedanken. Hans und Käthe Neubauer betrieben zusammen seit 1931 in Cuxhaven, Schillerstr. 33, eine Buchhandlung („Der kleine Buchladen“), die dann bis 2007 von ihrem Sohn Frank Neubauer weitergeführt wurde.112 Arno Pötzsch und seine Frau Helene waren mit dem Ehepaar Neubauer gut bekannt. Die Briefe lassen ein vertrauensvolles Verhältnis erkennen, das auch sehr persönliche Anliegen mitzuteilen erlaubte. Daneben geht es immer wieder um geschäftliche Dinge, vor allem die Bestellung und den Versand von Büchern. Ein Brief und eine Karte aus den Nachkriegsjahren ergänzen die Sammlung.
Die Briefe der Buchhändlerin (Abb.18) sind nicht mehr vorhanden, da Pötzsch sie jeweils nach dem Empfang verbrannt hat (vgl. Brief Nr. 105). Die Originalbriefe von Pötzsch lagen jahrelang in einem Schrank in der St. Petri Gemeinde Cuxhaven, ohne dass man dort über ihren Verbleib etwas wusste. Sie wurden erst im Oktober 2018 wiedergefunden.113 Die hier vorgelegten Transkriptionen beruhen auf Briefkopien, die dem Herausgeber von Frau Kathrin Schlee, geb. Pötzsch, zur Verfügung gestellt wurden. Die Kopien sind unvollständig und z.T. unleserlich. Die große Mehrzahl der Briefe ließ sich jedoch aus ihnen rekonstruieren, unlesbare Teile konnten nach den Originalen ergänzt werden.
Sonja Matthes hat in den 1990er Jahren Einsicht in die Originalbriefe an Käthe Neubauer erhalten, die ursprünglich im Besitz des Sohnes Frank Neubauer waren, und sie in ihrem 2000 erschienenen Lebensbild von Pötzsch ausgewertet, allerdings oft ohne Datumsangabe und z.T. in vom originalen Wortlaut abweichender Wiedergabe.114 In ihrer Darstellung finden sich einige wertvolle Bemerkungen über die Situation der Briefpartner. Da die Briefe viele Informationen enthalten über die Umstände, unter denen Pötzsch als Marinepfarrer in den Niederlanden tätig war, und detailliert über seine Lektüre und seine Interessen an literarischen und theologischen Büchern Auskunft geben, sind sie eine wertvolle Quelle für das Verständnis von Leben und Werk des Lieddichters. Es erschien daher sinnvoll, die Briefe an Käthe Neubauer, die zum weit überwiegenden Teil handschriftlich abgefasst wurden, zu transkribieren und sie in einer mit Erläuterungen versehenen Form interessierten Lesern möglichst umfassend zugänglich zu machen. Eine solche kritische Edition liefert außerdem eine zuverlässige Textbasis für weitere Forschungen zu Leben und Werk von Arno Pötzsch.
Die Personen, die Pötzsch verschiedentlich nennt, gehören zunächst zum Familienkreis: seine Frau Helene und seine vier Töchter Kathrin, Christiane, Sabine und Renate. Die ältere Schwester Magdalene Bernd, geb. Pötzsch, lebte in Chemnitz (Nr. 89). Mehrfach wird in den Briefen „Anni“ erwähnt. Anni Tietje, geb. Heinsohn, war über 30 Jahre als Hausgehilfin für die Familie Pötzsch tätig. Eine Frau von Stosch, Ehefrau eines Offiziers, wohnte in Cuxhaven. 1943, während der mehrwöchigen Sanatoriumskur von Helene Pötzsch, führte eine Frau von Dossow den Haushalt der Familie in Goslar. Sie blieb der ältesten Tochter als „Drachen“ und hagere Frau mit NSDAP-Parteiabzeichen in Erinnerung. Mehrfach nennt Pötzsch auch die Namen der beiden Söhne des Ehepaars Neubauer, Frank und Michael.
Bei der Erledigung seiner dienstlichen Korrespondenz in Den Haag wurde Pötzsch von der Schreibkraft Johanna Heuser (vgl. Nr. 119) unterstützt. Sie war bei ihm seit Januar 1943 als weibliche Hilfskraft beschäftigt.115 Nach dem Krieg wurde sie Sekretärin im Pfarramt in Cuxhaven, wohnte auch im Pfarrhaus und hatte Kontakt zur Familie Pötzsch.
Wiederholt wird ein Frl. Engelenberg erwähnt. Sie war vermutlich eine Niederländerin, die 1944/45 bei Pötzsch im Büro arbeitete. Zu Max Bleicken, dem ersten Bürgermeister von Cuxhaven, und seiner Frau hatte Pötzsch guten Kontakt. Elisabeth („Bezzie“) Stelter war möglicherweise die Mutter des jungen Mannes, der Pötzsch als Ordonnanz zugeteilt war (Nr. 17). Ein Ehepaar Uehleke (Nr. 119) gehörte zum näheren Bekanntenkreis.
Was hat Arno Pötzsch von Krieg und Besatzung wahrgenommen? Wie verhielt er sich? In vorsichtigen Andeutungen und wenigen Sätzen lässt er gelegentlich erkennen, was in seiner Umgebung vorgeht und was ihn besonders belastet. Er sieht „mit Grausen“ das zerstörte Rotterdam (Nr. 3; vgl. 53; 94), die Zerstörung in Hannover (Nr.105) und in seiner Geburtsstadt Leipzig (Nr. 109). Er sorgt sich um die Menschen im bedrohten Cuxhaven: „Wenn nachts die feindlichen Maschinen, nicht mehr einzeln, sondern wie Hornissenschwärme über das Land brausen, um in das Reich einzufliegen, denkt man mit Bangen an die, die das Ziel des Angriffs werden. Möge Cuxhaven von solchem Großangriff bewahrt bleiben!“ (Nr. 75). Die menschliche Not des Hungerwinters 1944/45 im besetzten Land wird mit wenigen Worten anschaulich: Holland „hungert, es friert u. hat kein Licht. Kinder betteln um Brot. Jedermann hackt sich irgendwo Bäume ab“ (Nr. 116; vgl. 118). Am 3. März 1945 wurde Den Haag durch Verbände der britischen Luftwaffe „versehentlich“ bombardiert. Drei Tage danach schildert Pötzsch als Augenzeuge, was an diesem „schrecklichen Katastrophentag“ (Nr. 119) geschah. Das Entsetzen ist seinen Worten noch abzuspüren.
Die zahlreichen Beerdigungen gefallener Soldaten, Besuche bei den Hinterbliebenen, die Begleitung von zur Hinrichtung verurteilten Todeskandidaten, all das macht ihm zu schaffen. Über die näheren Umstände verliert er kein Wort. Es bleibt dem Leser überlassen, sich vorzustellen, wie es gewesen sein mag. Wie es Pötzsch dabei erging, ist den sparsam eingestreuten Äußerungen über sein Befinden zu entnehmen: dunkel und rätselhaft erscheint ihm das Leben (Nr. 27), „die Rätselhaftigkeit, die dunkle Unerkennbarkeit u. Unentrinnbarkeit des Lebens“ (Nr. 41) erschüttern ihn. Hinrichtungen lasten schwer auf ihm (Nr. 27; 74), das Übermaß an Arbeit erschöpft ihn (Nr. 27; 99; 110), er fühlt sich todmüde (Nr. 28; 96), spürt körperliche Schwäche (Nr. 38; 41). Die Abendmahlsfeier mit einem Todeskandidaten und seiner Frau im Gefängnis (Nr. 51) erschüttert ihn. Er betreut einen Holländer vor seiner Erschießung und bekommt deswegen Schwierigkeiten (Nr. 82). So „viel schwere Erlebnisse, die Kraft verbrauchen“ (Nr. 59; vgl. 82)! Er lebt aus der Wahrheit von Bibelworten (vgl. Nr. 115) und tröstet andere mit diesen Worten.
Aus seinen stets knappen Erlebnisberichten wird erkennbar, unter welchen Bedingungen Pötzsch als Seelsorger arbeitete und wie schwer ihn manche Erlebnisse belasteten: Beerdigungen von Gefallenen, Hinrichtungen meist unschuldig zum Tode Verurteilter, die Begleitung der Hinterbliebenen. Die Bücher, die Käthe Neubauer ihm zusandte, waren ihm Begleiter auf dem Weg (vgl. Nr. 26, 30) und „Therapeutikum“ (Viktor E. Frankl); sie boten in existentiell bedrängenden Situationen geistige Lebenshilfe, Stärkung und Trost. „Ob Sie ahnen, wie sehr Sie mich mit Ihren Büchern im Laufe dieser Jahre erfreut und erquickt haben?“ (Nr. 115), fragt er seine Buchhändlerin einmal und fügt hinzu, sie habe „einem Menschen auf seinem Wege beigestanden“ (ebd.). Es ist anzunehmen, dass auch ihre Briefe und ihr „treues Gedenken“ ebenso wie das Gedenken der Freunde und Angehörigen für Pötzsch eine Art Lebenshilfe bedeuteten, zumal die Päckchen nicht nur Bücher, sondern hin und wieder auch persönliche Geschenke wie eine Kerze, ein „Kränzchen“ oder sogar einen Kuchen enthielten. Andererseits ging er fürsorglich und behutsam auf Selbstzweifel seiner Briefpartnerin ein und nahm Anteil am Ergehen ihres kranken Sohnes Frank.
Als Marinepfarrer mit einem großen Arbeitsbereich war Pötzsch häufig auf Dienstreise unterwegs. Gelegenheit zum Briefschreiben gab es selten, manchmal nur bei einer Bahnfahrt oder spätabends. Die Briefe an Käthe Neubauer sind oft in großer Eile geschrieben, wofür Pötzsch sich wiederholt bei der Adressatin entschuldigt. Ihm, der kalligraphisch schreiben konnte, musste es peinlich sein, dass die Handschrift seiner Briefe oft schwer leserlich war.
Erstaunlich ist, dass er trotz seines viel Zeit und Kraft fordernden Dienstes als Seelsorger überhaupt noch so viel lesen konnte. In einem Brief vom Mai 1944 (Nr. 111) spricht er einmal von „ernsthaften, bücherfreudigen Menschen.“ Pötzsch war selbst ein solcher ernsthafter, bücherfreudiger Mensch, ein Vielleser, dessen Interesse sich auf viele Bereiche erstreckte. Romane, Erzählungen, Gedichte, Literaturwissenschaft, Theologie, Philosophie, Naturwissenschaften, Landeskundliches, Militärgeschichte, Erlebnisberichte von Soldaten, Biographien bedeutender Offiziere und Ärzte, Beiträge zur Ahnenforschung usw. umfasste seine Lektüre.
Der deutsch-jüdische Kulturkritiker Walter Benjamin (1892–1940), ein passionierter Bücherliebhaber und -sammler, war überzeugt, dass Bücher viel über ihren Besitzer verraten – über seinen Geschmack, seine Interessen und seine Gewohnheiten. Die Bücher, die wir lesen, sagen etwas darüber aus, wer wir sind.116 Was sagen die von Pötzsch gesammelten und gelesenen Bücher über ihn als Leser?