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Zur Lektüre von Arno Pötzsch
ОглавлениеIn den Briefen an Käthe Neubauer werden Bücher von insgesamt 155 Autoren erwähnt. Viele Namen sind heute vergessen. An erster Stelle stehen Autoren, zu denen Pötzscheine positive Beziehung hatte und deren Bücher ihm viel bedeuteten: Paul Alverdes (11x), Reinhold Schneider (9x), Matthias Claudius (8x), Karl Benno von Mechow (7x), Gorch Fock (6x), Adalbert Stifter (6x) und Paul Ernst (6x). Es sind überwiegend konservative deutsche oder deutschsprachige Schriftsteller, die Bindung an die christlichhumanistische Tradition, der Bezug zum Militär und zur Seefahrt sind für ihr Schreiben wesentlich.
Aus naheliegenden beruflichen Gründen beschäftigte Pötzsch sich mit biographischen Darstellungen bedeutender Militärs und Staatsmänner v.a. des 19. Jahrhunderts: Freiherr vom Stein (3x), Bismarck (3x) und Moltke (2x). Auch der patriotische Literat und Freiheitskämpfer Ernst Moritz Arndt (1x), der Reformer der Reichswehr von Seeckt (5x) und der Offizier von Rabenau (5x) gehören in diesen Zusammenhang.
Eine Reihe weiterer Autoren ist jenen geistigen Strömungen zuzurechnen, die mit dem Sammelbegriff ‚Konservative Revolution‘ bezeichnet werden. Dazu gehören etwa August Winnig (4x), Oswald Spengler (3x), Ernst Jünger (1x) und, bis Anfang der 1920er Jahre, Thomas Mann (1x). Einige zeichneten sich durch eine völkische Weltsicht aus und befürworteten den Nationalsozialismus wie Erwin Guido Kolbenheyer (2x). Seine von Pötzsch geschätzten Romanbiographien entstanden allerdings vor der Zeit des ‚Dritten Reiches‘.
Pötzsch dachte über geistige Grundfragen, den Sinn des Lebens und der Welt, über Glaube und Wissenschaft nach. Er teilte die tiefverwurzelte deutsche „Sehnsucht …, Obdach unter einer Weltanschauung zu finden.“117 Ein Intellektueller, der sich mit zeitgenössischen Theorien auseinandersetzte, war er ebenso wenig wie die von ihm gelesenen und geschätzten Schriftsteller Reinhold Schneider (9x), Werner Bergengruen (2x), Ernst Wiechert (3x) und Ricarda Huch (1x). Er fühlte sich angesprochen von Erzählern und Lyrikern mit einer ‚feinen‘ Sprache und von Denkern, die ihn durch ihre weltanschaulichen Ansichten überzeugten. Besonders Kultur-, Geschichts- und Naturphilosophen interessierten ihn, neben Spengler etwa Edgar Daqué (4x) und Bernhard Bavink (1x), wie auch Theologen, die zwischen christlichem Glauben und Naturwissenschaftzu vermitteln suchten, z.B. Karl Heim (1x).
Sören Kierkegaard (1x) und Albert Schweitzer (2x) waren für Pötzsch sicher weit wichtiger, als die Häufigkeit der Namensnennung erkennen lässt. Schweitzers Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“ brachte genau seine eigene Grundhaltung gegenüber dem Leben auf den Begriff, Kierkegaard, mit dem er sich gerade in Holland viel beschäftigte, stand ihm nahe in der tiefen gedanklichen Aneignung und Durchdringung des christlichen Glaubens als Existenzweise.
Von den zeitgenössischen evangelischen Theologen werden – vor Otto Dibelius (1x), Johannes Müller (1x), Friedrich Rittelmeyer (1x), Helmut Thielicke (1x) und Helmuth Schreiner (2x) – Ethelbert Stauffer (4x) und Hermann Wolfgang Beyer (3x) am häufigsten erwähnt. Pötzsch wünschte sich vergeblich Stauffers ‚Theologie des Neuen Testaments‘ (1941). Dieses Buch will den, „der in der Bibel die Antwort sucht auf die Urfragen des Lebens, … durch die Gedankenwelt des Neuen Testaments“ führen (so die Einleitung). Es entwirft eine neutestamentliche Theologie in „Gestalt einer apokalyptisch geprägten ‚christozentrischen Geschichtstheologie‘.“118 Pötzsch könnte gerade von dieser Gesamtschau angezogen worden sein, die heute als problematisch erscheint, weil sie die Vielfalt der Texte und Traditionen des NT in eine geschichtstheologische Konzeption hineinzwingt. Doch allem Anschein nach hat er das Buch nicht erhalten.
Beyer, seit 1931 engagierter Nationalsozialist, zählt zu den völkischen Theologen, die im ‚Dritten Reich‘ Karriere machten.119 Er war Pötzsch wohl aus Leipzig bekannt, wo er 1936–1940 Kirchengeschichte gelehrt hatte, bevor er sich freiwillig als Kriegspfarrer an die Front meldete. Durch seine Auffassung, Houston Stewart Chamberlain müsse als Erneuerer des Christentums betrachtet werden,120 konnte Pötzsch sich bestätigt fühlen. Sie fand Zustimmung beim protestantischen Bildungsbürgertum und bei nicht wenigen protestantischen Theologen. Dort galt Chamberlain als „völkischer Seher“, in dem Beyer, wie ein Rezensent lobend vermerkte, den Christen entdeckt habe. Zu tadeln sei nur, dass er die Konsequenzen seines völkischen Denkens abschwäche, indem er z.B. am Alten Testament als heiliger Schrift festhalte.121
Chamberlain ist derjenige Autor, der in den Briefen am zweithäufigsten (10x) genannt wird. Pötzsch hat ihn „sehr geschätzt u. viel gelesen“. Er sah in ihm einen „große[n] Anreger, in Problematik u. Polemik vielfach noch nicht ausgewogen, sondern kühn in Neuland vorstoßend; man muß schon recht tief mit der Sache vertraut sein, wenn man mit H.St. Ch. fertig werden will“ (Nr. 78). Dieses positive Urteil verwundert, da Chamberlain von völkisch-nationalen Kreisen wegen seiner Rasselehre und seines Antisemitismus geschätzt wurde. Zwei Vorträge von 1940 verdeutlichen, dass Pötzsch sich für jenen Teil des Werkes von Chamberlain interessierte, der im NS-Schrifttum ausgeblendet wurde. Nach Oktober 1943 wird dieser Autor in keinem Brief an Käthe Neubauer mehr erwähnt. Wie ist Pötzsch mit ihm „fertig“ geworden?