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Caeleon II

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Knud und Mouad wurden erst nach einigen Minuten durch das nervtötende Summen des Intercoms geweckt. Der Professor, der schon ungeduldig vor dem Quartierzugang wartete, fragte in etwas ungehaltenem Tonfall, ob sie denn nicht auch dem Anflug auf Caeleon II beiwohnen wollten.

Mouad schnellte hoch. Dabei stieß er Knud ungewollt aus dem Bett. Dieser hatte sich von den vergangenen 50 Stunden ununterbrochener Wachzeit immer noch nicht vollständig erholt.

„Was ist denn nun schon wieder los?”, wollte Mouad, etwas verwirrt, wissen. Noch schlaftrunken übersah er einen Suspensorensessel. Aber bevor Mouad auf dem Boden aufschlug, wurde sein Sturz schlagartig von zwei kräftigen Armen abgebremst. Sein Freund hob ihn ohne sichtbare Anstrengung, fast wie eine Feder, empor und setzte ihn auf die Bettkante. Erst jetzt spürte Mouad, wie ungeheuer kräftig sein Mann war. Er dachte daran zurück, wie Knud ihm direkt nach der Flucht an Bord des Schiffes eröffnet hatte, welche körperliche Schwerstarbeit er zu leisten hatte, um Mouad zu säubern, nachdem dieser erschöpft zusammengebrochen war. Aber hatte er sich wirklich dabei so verausgabt, wie er behauptet hatte? Erneut eines der so zahlreichen Rätsel, die Knud umgaben.

,Jetzt begreife ich auch, warum er Kanei mühelos überwältigen konnte; er scheint fast eine perfekte Kampfmaschine zu sein’, stellte er zugleich beeindruckt und etwas entsetzt fest, während er respektvoll seinen durchtrainierten Freund betrachtete.

Der schien seine Gedanken zu erraten.

„Ich bin durchaus in der Lage, dich zu verteidigen, falls du in Schwierigkeiten geraten solltest. Aber ich denke, das wird in der Föderation niemals nötig sein, sondern eher auf deiner Heimatwelt, wenn wir uns dazu entschließen sollten, dorthin irgendwann einmal zurückzukehren.”

Er schmunzelte über Mouads verblüfften Gesichtsausdruck. Dann fuhr er fort:

„Heute habe ich noch eine besondere Verpflichtung zu erfüllen: Ich muss dieses Schiff Admiral Worssorrgh übergeben. Die Tradition gebietet es, dass ich, dem Anlass entsprechend, zurechtgemacht werde. Ich befürchte nur, dass mein Aufenthalt auf der Erde meine Figur nicht positiv beeinflusst hat; ich habe etwas zugenommen. Würdet ihr mir bitte helfen, mich in dieses steife, formale Kleidungsstück hineinzuzwängen?”

Seine Freunde nickten. Denn sie wollten so schnell wie möglich der Annäherungssequenz beiwohnen.

Wie befürchtet, konnte Knud die Galauniform nur unter kräftigem Zerren und Straffen des Stoffes und mit tatkräftiger Hilfe Fatimas, die an der Seite des Professors das störrische Kleidungsstück zu bändigen versuchte, überstreifen. Der Uniformstoff war purpurrot, mit goldenen Litzen verziert und synthetischen Diamanten an den Kragenspiegeln besetzt, dazu spannten altmodische silberne Knöpfe über Knuds muskulöser Brust.

Knud verfluchte dabei innerlich formale Ereignisse und war ziemlich ungehalten über den Gedanken, dass diese ganze Verkleidung nur dem einen Zweck diente: Dass Astrid, Youness und er nämlich in weniger als zwei Stunden das Kommando an Admiral Worssorrgh, seine Führungsoffiziere und deren neuer Mannschaft in einer formalen Zeremonie abzugeben hatten.

Aber auf der anderen Seite - und diese Überlegung dämpfte seinen aufkommenden Frust - hatte sich die jetzige Besatzung ihren Urlaub, auch wenn die meisten sich um die terranischen Flüchtlinge zu kümmern hatten, nach mehr als vier Jahren Dauereinsatz redlich verdient.

Knud wechselte erneut seinen Gedangengang: ,Wer sich diese steife, an eine Operettenaufführung erinnernde Paradeuniform für die menschlichen Führungsoffiziere bloß ausgedacht hatte!’ Dies war Knud bis zum jetzigen Zeitpunkt verborgen geblieben, da er es stets vermied, dieses unbequeme Schaustück menschlicher Eitelkeit überzustreifen.

Aber Admiral Worssorrgh war als ein durch und durch penibler Formalist verschrien. Er hatte sich in der Vergangenheit stets geweigert, einen Kommandoposten anzutreten, wenn die Übergabe nicht ohne würdevolles, offizielles Zeremoniell über die Bühne ging.

Endlich hatte sich Knud in die Galauniform gezwängt. Im Stechschritt verließ er seine Kabine - eine andere Gangart ließ die Hose einfach nicht zu. Dabei konnten es sich weder Fatima, der Professor, Elias und Mouad verkneifen, diesen eitel wirkenden Auftritt mit ironisch-bissigen Kommentaren zu begleiten. Als ihm auch noch Mahmoud, Ajaz, Yossi, Saleh und Aaron sowie wenig später Mary, Can, Davin und Xsochegar entgegenkamen, in prustendes Gelächter ausbrachen und irgend etwas von verschnürtem Pfau murmelten, begriff er, wie dämlich er wohl daherkam. Er machte kehrt, eilte so rasch er konnte in sein Quartier zurück und kam einige Minuten später in der üblichen dunkelblauen, an irdische Outdoor-Freizeitkleidung erinnernde Borduniform zurück. Er hatte die Galabekleidung in eine altmodische, irdische Ledertasche hineingestopft, die er von nun an mit sich führte. Und er war entschlossen, sich erst kurz vor der Zeremonie in diese schrecklich unbequeme Hülle hineinzuzwängen.

Al-gaddatu und die vier anderen Syrer grinsten ihn zudem etwas belustigt an.

Knud mumpfte etwas von formalen Verpflichtungen und Empfängen, aber man sah, dass er sich so eingekleidet viel wohler fühlte. Außerdem merkte er zum ersten mal selbst, wie viel muskulöser und durchtrainierter er auf der Erde geworden war. Seine sportlichen Aktivitäten wie Laufen, Wandern und Joggen, die er schon Jahre, bevor er Mouad kennen lernte, absolvierte, hatten seinen Bein-, Arm- und Brustumfang deutlich anwachsen lassen.

Endlich erreichten sie das Restaurant. Es glich nun einem riesigen Versammlungsraum: Tausende von Besatzungsmitgliedern blickten erwartungsvoll in die diamantenbesetzte, samtene Schwärze des Alls. Sie näherten sich dem Herz der Kleinen Magellanschen Wolke. Unzählige bläuliche, gelbliche und rötliche Sterne funkelten vor ihnen, deren Dichte je Kubikparsec hier viel größer war als in einem gleich großen Raumbereich um die Erde. Das Raumschiff beschrieb eine sanfte Linkskurve und hielt auf einen zunächst winzigen orange, weiß, braun, und bläulich gestreiften Gasplaneten zu. Dieser wurde allmählich größer.

Hinter dem Gasriesen konnten sie, grünblau leuchtend, abgesetzt gegen die Schwärze des Alls, eine merkwürdige bandförmige Struktur erkennen, die sich scheinbar grenzenlos rechts und links in der Unendlichkeit verlor. Mouad schaute das fremdartige Objekt besonders fasziniert und zugleich verwirrt an.

,Das kann doch nicht wahr sein’, schoss es ihm durch den Kopf. Aber er war nicht im Stande, diese Anlage näher zu benennen. Er hatte lediglich das Gefühl, irgendwo, in einem phantastischen Roman, über diese Bauwerke bereits etwas gelesen zu haben.

Schließlich verdeckte der ins scheinbar Unermessliche wachsende Himmelskörper diese rätselhafte Erscheinung vor ihnen vollständig. Ausgedehnte Wirbelstürme, Flecken, mäanderförmige Wolkenstraßen und aufschießende Cumulonimbustürme, die von Blitzen gekrönt waren, füllten fast die gesamte ausgedehnte Fensterfront des Raumes aus, in dem sie sich befanden. Am rechten Rand dieser Welt tauchten plötzlich zwei gigantische braunrote Sturmspiralen auf, die allmählich immer weiter ins Zentrum des Panoramas wanderten. Aber ob deren scheinbare rasche Positionsänderung von der Bewegung des Raumschiffes relativ zur Planetenoberfläche oder durch die rasche Rotation der Gaswelt selbst verursacht wurde, ließ sich von ihrer augenblicklichen Perspektive nicht ausmachen. Jede von ihnen besaß auf jeden Fall den mehrfachen Erddurchmesser. Und immer wieder zuckten tausende von Kilometern lange elektrische Entladungen durch die unterschiedlich strukturierten Wolkenschichten, aus denen die Randbereiche der Zyklone aufgebaut waren. Dadurch war es dem Betrachter möglich, die räumliche Ausdehnung dieser kolossalen Wirbelstürme zumindest grob abzuschätzen.

Knuds Freunde starrten wie gelähmt auf das Schauspiel, das sich ihnen bot: Immer wieder wurden kochende Wolkenmonster in die beiden unersättlichen Mäuler gesogen, die rasch den Widerstand der aufquellenden Cumulonimbusgebirge brachen und sie in Stücke zerfetzten. Reste dieser Strukturen wurden in Spiralbahnen in tiefere Schichten der Atmosphäre hinabgesaugt, in denen sich die letzten Wolkenfragmente endgültig auflösten.

Als das Schiff auf die Nachtseite der Welt einschwenkte, erstrahlten prächtige Auroren über den magnetischen Polen. Ähnlich dem irdischen Nord- bzw. Südlicht sah man flirrende Lichterscheinungen in Blau, Türkis, Rot, Gelb und Violett, wo Teile des Partikelstroms, der von der Sonne dieses Systems - Caeleon - erzeugt wurde, in die Hochatmosphäre des Planeten gelangten und dort die Gasmoleküle zum Leuchten anregten.

Eine Woge aus ,Ooohs’ und ,Aaahs’ der Entzückung, Faszination und Überwältigung kam aus unzähligen Kehlen, Sprechwerkzeugen und Schallorganen der Föderationisten, die andächtig das Schauspiel beobachteten.

Knuds Freunde jedoch wurden zunehmend nervös, je gewaltiger diese unwirtliche Welt vor ihnen aufragte.

„Dort sollen wir landen?”, stieß der Professor entsetzt hervor und störte damit die Stille, die den Raum erfüllte und mit den Händen greifbar zu sein schien.

„Schschscht” und „pssssst” war von den Umstehenden zu hören. Auch Knud legte den Finger auf seinen Mund und bedeutete so, dass Wahid schweigen möge.

„Dies ist Caeleon II. Wir haben beinahe das Ziel unserer Reise erreicht”, flüsterte Knud ihm ins Ohr.

„Natürlich können wir auf dieser Welt nicht leben. Das wäre so, als wenn man versuchen wollte, in eurem Sonnensystem auf dem Jupiter ein gemütliches Plätzchen zu finden, was natürlich, wie auf jedem Gasriesen, völlig unmöglich ist. Dieser hier hat zudem etwa achtmal mehr Masse als der größte Planet des Sol-Systems bei etwa doppeltem Durchmesser. Aber hab’ doch Geduld und genieße doch einfach das faszinierende Schauspiel.”

Knud spürte jedoch, wie die Terraner von Minute zu Minute immer nervöser wurden. An den angsterfüllten Gesichtern merkte er, dass dieser scheinbar in die Katastrophe führende Anflug sie bis an die Grenzen ihrer psychischen Belastbarkeit führte.

Knud wandte daher seine Aufmerksamkeit von dem kochenden Gasriesen ab und beruhigte erneut seine Freunde.

Er ging leise zwischen ihnen hindurch und legte mehrfach seine Hände auf ihre Schultern. Immer wieder erklärte er ihnen im Flüsterton, dass sie nichts zu befürchten hätten.

Schließlich ergriff er die Hände von Ajaz und Saleh und gab ihnen dadurch zu verstehen, dass kein Unheil drohte. Er hieß sie, auch die anderen Freunde auf diese Weise zu berühren. Schließlich standen sie in einer Reihe Hand in Hand da und bestaunten das kolossale Schauspiel, dem sie beiwohnten.

Wahid dachte dennoch unwillkürlich: ,Werden wir in selbstmörderischer Absicht auf diesen Planeten stürzen und von dem mörderischen Atmosphärendruck zerquetscht?’

Das Raumschiff schien ins Bodenlose zu fallen. Immer gigantischer, immer furchteinflößender türmte sich diese riesige, tobende, chaotische Wolkenwand vor ihnen auf. Selbst einzelne Wolkenreste, an ihren Rändern durch die gewaltigen Stürme zerfasert, tauchten vor ihnen auf. Die Orkane selbst wiesen Windgeschwindigkeiten bis zu 2 000 Kilometer pro Stunde auf; jeder irdische Tornado und jeder Hurrikan wirkte im Vergleich dazu nur wie eine sanfte Brise.

Yossi und Aaron hatten zudem den Eindruck, jeden Moment in den Wolkencocktail einzutauchen; denn wenn man schon so detailreiche Einzelheiten ausmachen konnte, sollte es bis zur Atmosphärenobergrenze nicht mehr weit sein.

Ihre Verzweiflung und Angst nahm immer mehr zu. In Todesfurcht wandten sich die beiden Iraner ab und begannen vor Entsetzen ihr Gesicht in den Händen zu verbergen bis...

Ja - bis Saleh, Davin und Assiz plötzlich ein winziges, blaues, wie ein Saphir funkelndes Pünktchen, das oberhalb der Atmosphärenhülle erschien, entdeckten. Es wurde rasch größer.

Bald gab es keinen Zweifel mehr: Ein Planet, bedeckt mit Ozeanen, Kontinenten, Vegetation und Wüsten tauchte vor ihnen auf. Und endlich konnte man an Hand des Planetendurchmessers Rückschlüsse auf die Größe der Wolkenfetzen auf Caeleon II ziehen: Sie mussten die mehrfache Größe von irdischen Landmassen kontinentaler Ausdehnung haben.

Knud stellte erleichtert fest, wie die Anspannung aus den Gesichtern seiner Freunde verschwand und einer gewissen Faszination Platz machte. Auch die anderen Betrachter des planetaren Infernos, das auf dem Gasriesen tobte, begannen sich wieder leise zu unterhalten. Langsam zerstreute sich die Menge.

„Du hättest uns vielleicht vorwarnen sollen, auf was für ein Wechselbad der Gefühle wir uns gefasst machen mussten. Das war ja atemberaubend und besser als jede Achterbahnfahrt mit Riesenloopings”, meinte Aaron, der als einziger während der ganzen Zeit des Anflugs den Blick nicht abgewandt hatte. Er warf Knud einen vorwurfsvollen Blick zu und führte seine Augen in Richtung auf die beiden iranischen Jungen sowie Saleh, die immer noch kreidebleich dastanden und sich auf den Boden gesetzt hatten, die Hände vor den Augen verschränkt, um die scheinbare Katastrophe nicht mit ansehen zu müssen. Erst durch gemeinsames gutes Zureden von Mary und Fatima erhoben sie sich und wagten es, wieder aus dem Fenster zu blicken.

„Dies ist meine Heimatwelt, der Saphir, Sitz der Zentralregierung der Föderation und des Galaktischen- bzw. Föderalen Rates”, erklärte Knud feierlich und mit einem Leuchten in seinen Augen. „In etwa 48 Stunden werdet ihr bei mir zu Hause sein.”

Der obere Teil des Planeten im Bereich des Nordpols war von ausgedehnten Eismassen bedeckt, die offensichtlich ringsherum von hohen Gebirgsketten umschlossen waren. Südlich dieser geologischen Formation lag ein sehr auffälliger See, dessen kreisrunde Form an einen mächtigen Asteroideneinschlagkrater erinnerte. Von hier aus konnte man, da diese Struktur bereits in der Dämmerungszone der Tag-Nacht Grenze lag, die Feuerfontänen und Rauchwolken eines tätigen Vulkans erkennen, der sich in der Mitte des Binnenmeeres erhob. Unterhalb des Sees waren weite Wüstenregionen auszumachen, durch die sich eine grüne Flussoase schlängelte, die schließlich knapp nördlich des Äquators in einem Ozean endete.

Schließlich schwenkte das Raumschiff in eine äquatornahe Umlaufbahn ein, die etwa 2 000 Kilometer über der Oberfläche lag. Von hier aus konnte man auch die untere Hälfte des Planeten in Augenschein nehmen.

Im Gegensatz zur nördlichen bildete die südliche Hemisphäre nur eine einzige Wasserwüste. Auf ihr gab es nur einen, an ein Trapez erinnernden Kontinent. Dessen Inneres wurde von einem Hochplateau beherrscht, das von mächtigen Gebirgsketten, die von Vulkanen bekrönt wurden, umschlossen war. Beide Kontinentalmassen waren über eine, durch verschieden breite Meeresstraßen unterbrochene, Inselkette verbunden. Diese war offenbar ebenfalls vulkanischen Ursprungs, wie einige Rauchsäulen tätiger Feuerberge verrieten.

Mouad sah seinem Freund in die Augen. Er spürte, wie Knud sich sehr zusammennehmen musste, um vor Freude, Rührung und Erleichterung nicht die Fassung zu verlieren.

„Dieser Anblick des Saphirs ist jedes Mal einfach nur wunderschön, die absolute Erleichterung, nachdem man den aufwühlenden Anflug hinter sich gebracht hat”, flüsterte er.

Auch Mary und Youness standen dicht davor, von Gefühlen überwältigt zu werden.

„Dies wird für alle Zeiten meine Heimat sein...”, flüsterte Knud.

Der Kurator, Band 3

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