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Carnuntum
Am 11. November 308 findet in Carnuntum unter der Leitung von Diokletian die sogenannte „Kaiserkonferenz“ statt. Die dabei neu aufgeteilten Machtverhältnisse im Römischen Reich etablieren eine Viererherrschaft („Tetrarchie“) mit Galerius als Augustus und mit Maximinus als Caesar im Osten sowie mit Licinius als Augustus und Konstantin als Caesar im Westen. Zweieinhalb Jahre später, am 30. April 311, erlässt Galerius das „Toleranzedikt von Nikomedia“ und anerkennt damit das Christentum als „religio licita“ und duldet damit offiziell als erster Kaiser das Christentum. Zwei Jahre danach verfassen Konstantin und Licinius gemeinsam die „Vereinbarung von Mailand“, welche als sogenanntes „Mailänder Toleranzedikt“ im Römischen Reich die Freiheit der Glaubensentscheidung für alle Religionen bedeutet. Somit hat sich vor über 1700 Jahren innerhalb kurzer Zeit durch die Kaiser von Carnuntum ein unvorstellbarer Wandel vollzogen, der unsere Welt und unsere Kultur radikal verändert und bis zum heutigen Tag geprägt hat. Religiöse Toleranz hat also schon sehr frühe Wurzeln, wenngleich ein kurzes Gedächtnis. Als nämlich das Christentum 381 n. Chr. unter Theodosius im Römischen Reich zur Staatsreligion erklärt wird, ist die Dankbarkeit über die Auswirkungen des Toleranzediktes vergessen. Die vor 313 verfolgte Kirche wird rasch zur eifrigen Verfolgerin der Un- und Andersgläubigen.
Der von Galerius, Konstantin, Licinius und Maximinus in Carnuntum gelegte Grundstein für religiöse Toleranz hat durch die momentan in Europa ankommende Flüchtlingswelle eine neue Aktualität erhalten. Immer öfter höre ich, dass wir in Europa aufpassen müssten, nicht von anderen Religionen „überschwemmt“ zu werden. Moslems zum Beispiel, sagte mir vor Kurzem jemand, hätten Kinder, wir dagegen Hunde. Es wäre also nur mehr eine Frage der Zeit, bis die Christen in Europa in der Minderheit wären. Ich halte dagegen, selbst auf die Gefahr hin, von meinen Leserinnen und Lesern ob meiner „Blauäugigkeit“ milde belächelt zu werden, dass in diesen Fragen wie auch sonst so oft, die Angst zwar die stärkere, aber immer die schlechtere Ratgeberin ist.
Wenn Menschen aus purer Not und tiefster Verzweiflung nach Europa flüchten, werden wir weiterhin gut beraten sein, uns gerade diesen Menschen gegenüber in erster Linie als Menschen zu erweisen und ihnen so gut es geht behilflich zu sein. Damit geben wir diesen Menschen die Hoffnung auf eine bessere Welt zurück. Aber: Nicht nur wir sind ihre Hoffnung, auch sie sind unsere! Diese Menschen geben uns die Chance, von ihren Traditionen und religiösen Überzeugungen zu lernen und dadurch unseren Horizont zu erweitern. Erst wenn ein Mensch die Gelegenheit bekommt, seine innersten Gefühle zum Ausdruck zu bringen, und sich in seiner religiösen Praxis wertgeschätzt, geachtet und gefördert fühlt, erst dann wird er spüren, dass er hier als Mensch willkommen ist. Niemandem wird dadurch etwas weggenommen. Im Gegenteil. Praktizierte religiöse Toleranz bedeutet Bereicherung und Horizonterweiterung auf beiden Seiten. In Österreich gibt es derzeit sechzehn staatlich anerkannte Kirchen und Religionsgemeinschaften. Sie nehmen einander nichts weg, und schon gar nicht denjenigen, die keiner dieser Gemeinschaften angehören.
Fragt man Buddhisten nach ihrer Ansicht über die Bedeutung von Religion, so antworten sie sinngemäß, dass derjenige, der seiner eigenen Religionsgemeinschaft Ehre erweist und aus Anhänglichkeit der eigenen Religion gegenüber andere Gemeinschaften verachtet, in Wirklichkeit damit seiner eigenen Gemeinschaft schwersten Schaden zufügt. Religion ist Herzenssache. Religion ist eine Sache der Intimität jedes einzelnen Menschen. Und Menschen zu ehren bedeutet immer auch, ihre religiösen Gefühle zu achten und sie zu fördern. Wer sich heute rund 1700 Jahre später an die Kaiserkonferenz von Carnuntum erinnern lässt, mag stolz sein auf die frühen Wurzeln der Achtung, des Respekts, der Toleranz Andersdenkenden und Andersfühlenden gegenüber, er mag aber nach dem gründlichen Studium der Geschichte vorsichtig geworden sein und sich fragen, was religiöse Toleranz in seinem persönlichen Umfeld heute bedeutet und wie sie dort gelebt wird! Ich bin (leider) überzeugt davon, dass in diesem Zusammenhang in Mitteleuropa zumindest mehr (vertröstende) Worte gemacht als (konkrete) Taten gesetzt werden. Aus ganzem Herzen aber freue ich mich über Menschen, die, wo auch immer in der Welt, durch ihren engagierten Einsatz diese meine Vermutungen in beeindruckender Weise zu widerlegen imstande sind.
Christine Lavant
Am 4. Juli 2015 jährte sich zum 100. Mal der Geburtstag von Christine Lavant. Vom Fluss des Tales leiht sie sich ihren Künstlernamen. Mit ihrem bürgerlichen Namen heißt sie Christine Holdernig, geb. Thonhauser. In ihren Gedichten und Prosatexten durchwandert sie die ganze Welt samt Himmel und Hölle, in ihrem Leben aber verlässt sie das Lavanttal fast nie. Mit den Menschen in ihrer Umgebung spricht sie im Dialekt. Von Kindheit an mit Krankheit geschlagen, von kaum jemandem wirklich verstanden, bleibt ihr, so scheint es, als einzig verlässlicher Partner nur ein verborgener Gott, gegen dessen Schweigen sie ankämpft mit der unerhörten Sprache einer vom Leben und Leiden Geplagten. Sie ruft, bittet, klagt, stellt Fragen, wartet, so scheint es, vergeblich auf Antwort, will aber, wie der biblische Hiob, durch alle Bedrängnis hindurch nicht von Gott los, sie will nur wissen, was mit Gott los ist. Dabei zeigt sie sich in ihrer Zwiesprache mit ihm als ebenbürtige Gesprächspartnerin in Augenhöhe, selbstbewusst, unerschrocken und mit heiligem Zorn, nicht demütig, ergeben und dem Schicksal ausgeliefert, sondern leidenschaftlich und punktgenau in ihrer Wortwahl. Sie sucht, findet aber nicht, sie ruft, niemand scheint ein Ohr für sie zu haben. „Hören, hören! – O du mein Gott – nur Taube wissen, wie Hören tut, und warten im Eisblock des Schweigens auf dein lebendiges Wort“,4 formuliert sie in einem ihrer Gedichte. Mit neunzehn Jahren scheitert ihr erster Versuch, freiwillig aus dem Leben zu gehen. Sie bleibt und kämpft weiter mit ihrer feinen, zärtlichen Wahrnehmungsfähigkeit. Ihr scharfer Verstand nährt sich an ihrer immensen Belesenheit. Einer ihrer Lieblingsautoren, den sie im Rucksack durchs Lavanttal trägt, ist Rainer Maria Rilke. Er spricht gegen jede Psychotherapie die Warnung aus, dass man Dichtern erst recht die „Engel“ austreibe, wenn man ihnen die „Teufel“ nehme. Diese künstlerische Verteidigung der Krankheit weiß darum, dass man die „süße Melancholie“ der Krankheit „melken“ kann. Diese Melancholie, die wir heute „Depression“ nennen, kann Christine Lavant noch „melken“. Der bloße Misanthrop oder Hypochonder kommt über die Grenze seines „An-sich-selber-Leidens“ nicht hinaus. Sie aber vermag ihr Leiden in die Wortbilder ihrer großen Lyrik umzusetzen, schreibt sinngemäß Hans Weigel als Herausgeber eines Buches über sie.5
In einem Brief an ihre Freundin Ingeborg Capra-Teuffenbach schreibt sie Mitte Jänner 1948: „Wir befinden uns auf Erden u. zw. ganz u. gar auf Erden u. alles, was wir vom Himmel wollen, muß hier vor sich gehen. Deshalb ist jede Begegnung so wichtig, jedes Menschenwort so ausschlaggebend. Jede Güte mehrt den Himmel auf Erden.“6
Und am 19. Juli 1948: „Wasser sollen wir einander sein, worein wir unsere alle fremde Landschaft legen, damit wir sie endlich zu sehen bekommen, lange zu sehen, solange, bis wir darin daheim sind, so sehr daheim, daß wir sie abends betreten mögen, leise am Saum eines Waldes, der innen vielleicht eine Wiese enthält, in deren Mitte unsere Rindenhütte steht. Denn: wir brauchen Obdach! Und wir müssen alle so lange gehen, bis wir es einmal haben, das ganz Unsrige, das Unverlierbare.“7
Das ist das Großartige im literarischen Werk der Christine Lavant: Aus der Ohnmacht ihrer Verzweiflung wachsen die bedeutendsten Texte deutschsprachiger Literatur. Sie alle atmen die Sehnsucht nach Liebe, nach unverlierbarer Bleibe. In der Schlusszeile eines ihrer Gedichte heißt es:
Du weißt, ich brauch kein Himmelshaus
zeig mir das Obdach einer Maus
bevor der Tag mich steinigt. 8
Am 3. Juni 1973, kurz vor ihrem 58. Geburtstag, stirbt Christine Lavant in Wolfsberg an einem Schlaganfall. Was von ihr bleibt, ist ein beeindruckendes literarisches Vermächtnis. Die poetische Tiefe ihrer Lyrik und ihrer (bisher viel zu wenig beachteten) Prosatexte atmen alle die abgrundtiefe Sehnsucht nach einem „Fünklein Liebe“.9
Constantin Rudolf
Am 22. August 2015 um 4 : 57 Uhr hat Constantin Rudolf das Licht der Welt erblickt. Er ist gerade einmal neun Stunden alt, als Jutta und ich ihn besuchen, vor ihm niederknien und ihn mit einem behutsamen Kuss an die Wange in unserer Welt willkommen heißen. Noch wagen wir es nicht, ihn in unsere Arme zu schließen und ihn an unsere Brust zu nehmen, so majestätisch klein und in himmlischer Ruhe liegt er da vor uns. Schon bei der elektronischen Nachricht über seine Geburt muss ich an das schöne Wort von Anton Wildgans denken: „Wer bist du, Mensch, dass du nicht niederknien müsstest vor dem neuen Menschen!?“
Hier ist er also, dieser neue Mensch, einer, der gerade beginnt, so wie wir alle einmal begonnen haben, einer, von dem der Wandersmann aus Nazareth seinen Begleitern sagt, dass sie den Himmel nie begreifen könnten, wenn sie nicht würden und blieben wie er, hilflos, klein, angewiesen auf andere und dabei im Augenblick seiner Geburt schon so geheimnisvoll groß, ein Wesen in Fülle. Wunderbare Paradoxie des Lebendigen: Der Himmel besucht die Erde, im Kleinen zeigt sich das Große, in seiner Schwachheit liegt seine Kraft.10
„Staunen nur kann ich und staunend mich freuen!“ Ein einzigartig wunderbar-lebendiges Geschenk liegt vor mir, das alles bereits in sich trägt, was später aus ihm noch werden wird. Zum Abschied muss ich Constantin Rudolf ein Kreuz auf die Stirn zeichnen, nicht um ihn zu segnen, sondern um mich von ihm segnen zu lassen. Deutlicher nämlich spricht der Himmel nie zu den Menschen als durch die Geburt eines Kindes.