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Beten

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Gemeinsam zu beten ist mir seit früher Kindheit vertraut. Samstagabends saßen wir um den Küchentisch, vor allem zu den großen Festtagen wie Weihnachten und Ostern. Besonders lang und gründlich wurde zum Jahreswechsel gebetet. „Danken für das alte Jahr und bitten um ein glückseliges neues Jahr!“ So habe ich die Stimme meiner Mutter im Ohr. Unvergesslich auch unser Beten in der Familie bei Unwettern. Nach der Montage eines Blitzableiters hat das Rosenkranzgebet bei Unwettern allerdings stark nachgelassen, ganz verschwunden aber ist es in meinen Kindertagen nie. Mein persönliches Beten kennt auch heute noch drei Blickrichtungen: nach vorne, nach oben und zurück. Lehrmeister dazu war mir schon zu Schulzeiten der Volksmund: „Drei Blicke tu zu deinem Glück: vorwärts, aufwärts und zurück!“ Beten bedeutet für mich, zum Ausdruck zu bringen, was in mir vor sich geht. Bitten und Danken, Frohlocken und Singen, Weinen und Klagen, das alles ist ein menschliches Grundbedürfnis. „Orare“, das lateinische Wort für „beten“, bedeutet ja im Grunde nichts anderes als „den Mund auftun“ und zum Ausdruck zu bringen, was im Innersten vor sich geht.

Jeder Mensch verdankt sich anderen, er steht auf den Schultern derer, die vor ihm waren und ohne die er nicht auf der Welt wäre. Wer nicht zurückschaut, wer sich um die Wurzel seiner Existenz nicht kümmert, wer so tut, als wäre er ewig aus dem Nichts gekommen oder gar das Produkt seiner selbst, wird im tiefsten Sinn des Wortes „rücksichts-los“. Der Blick zurück ist eine der drei Grundrichtungen menschlichen Daseins. In diesem Blick zurück ist das „Danken“, das bewusste „Daran-Denken“ (aus diesem Wort hat sich das deutsche Wort „danken“ entwickelt) die eine der drei Grundmelodien des Menschen, wenn er seinen Mund auftut und artikuliert, was in ihm vor sich geht. Die zweite Grundrichtung menschlichen Daseins ist der Blick nach vorne und die daraus resultierende Grundmelodie die Bitte. Menschsein heißt zu wissen, dass wir aufeinander angewiesen bleiben. Niemand kann sagen, was morgen sein wird, was von seinen Wünschen und Vorsätzen in Erfüllung geht. Wer glaubt, alles selbst leisten und niemanden um etwas „bitten“ zu müssen, wer das Vertrauen nicht kennt, anderen etwas überantworten zu können, weiß nichts von einem großen Teil der Schönheit des Lebens. Ein armer Teufel, wer das „Bitten“ verlernt hat und schließlich stattdessen eine Versicherung abschließt. Schon seit Jahren stelle ich mir die Frage, was ich eigentlich versichere, wenn ich in der momentan so eklatant unsicheren weltwirtschaftlichen Gesamtlage eine „Lebensversicherung“ abschließe. Was versichern uns Versicherungen? Je unsicherer die Wirtschaftslage, desto höher die Versicherungssumme. Im Grunde versichern wir unsere eigene Verunsicherung und auf diese schließen wir dann noch eine sogenannte „Rückversicherung“ ab.

Die dritte Grundrichtung menschlichen Daseins ist der Blick „nach oben“. Die daraus resultierende Grundmelodie sind Jauchzen vor Freude, Singen, Tanzen und Springen, „Außer-sich-Sein“.

Ihren Gipfel erreicht diese dritte Grundmelodie, wenn es einem Menschen die Sprache verschlägt, wenn er mit offenem Mund und wie angewurzelt vergebens ums Wort ringt und staunt. Wer staunt, gerät nicht in Gefahr, sich mit Gott zu verwechseln. Ihm fehlen die Worte, sein Mund bleibt offen, staunen nur kann er und staunend sich freuen …

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