Читать книгу Blutiger Hibiskus - Arthur Schibetz - Страница 4

Kapitel 1

Оглавление

Durch einen starken Ruck wurde Jeremy Hagen geweckt. Das Flugzeug, das ihn von Los Angeles nach Honolulu bringen sollte, setzte soeben sehr hart auf der Landebahn seines Zielflughafens auf.

„Wir sind gelandet“, sagte der ältere Mann, der neben ihm saß. Er macht es schon wieder, ging es Jeremy durch den Kopf. Er hatte sich in Los Angeles noch nicht richtig hingesetzt, da hatte ihn der alte Mann bereits angesprochen. Und seitdem sprach er bei jeder Gelegenheit. Darüber, dass er Sam Connor heißt, dass er seine Tochter besuchen möchte, die auf Maui lebt, über sein bisheriges Berufsleben bis hin zu Themen wie seinen Lieblingsspeisen und Lieblingsrestaurants. Und vor allem kommentierte er ständig das Offensichtliche. Zum Glück hielt er irgendwo auf halber Strecke für fünf Minuten die Klappe. Jeremy nutze die Zeit, um einzuschlafen.

Jeremy schaute auf seine Armbanduhr. Der Flug war fast eine Stunde hinter dem Plan zurück. Der Kapitän meldete sich über den Kabinenfunk.

„Meine Damen und Herren“, sagte er, „wir sind soeben auf dem Daniel K. Inouye International Airport gelandet. Bitte bleiben Sie angeschnallt, bis wir unsere endgültige Parkposition erreicht haben. Wir hoffen Sie hatten einen angenehmen Flug und würden uns freuen, Sie bald wieder an Bord einer unserer Maschinen begrüßen zu dürfen.“

Jeremy teilte diese Hoffnung nicht. Er hasste das Fliegen. Er hasste es, stundenlang auf einem engen Sitz eingepfercht zu sein, sich von berufsgrinsenden Stewardessen Tomatensaft und Knabbereien aufdrängen zu lassen, und vor allem hasste er verwitwete Rentner, die ihr Bedürfnis nach Gesellschaft damit befriedigen mussten, ihren unbekannten Sitznachbarn in einer Tour zu bequatschen. Jeremy hatte kein Bedürfnis nach Gesellschaft.

„Da, gucken Sie mal. Das ist das Terminal der Verdammten“, sagte Sam und zeigte aus seinem Fenster. Jeremy beugte sich etwas rüber, damit er auch aus dem kleinen Bullauge schauen konnte. Er konnte ein einzelnes, freistehendes weißes Gebäude mit zwei Fluggastbrücken erkennen, an denen je ein Flugzeug angedockt war. Dahinter war das Meer.

„Vor zwei Jahren war es noch nicht da“, sagte Sam. „Da hatten die dafür immer das Inter-Island-Terminal hergenommen, und immer nur nachts, das wurde dafür extra abgesperrt. Aber dann wurden es immer mehr und dann kam die Geiselnahme. Da hatte der Gouverneur beschlossen, dass es ein eigenes Terminal geben müsse. Meine Tochter hatte damals Riesenglück, wissen Sie? Eigentlich sollte sie an jenem Morgen dort sein, weil sie den ersten Flug nach Maui nehmen wollte. Aber sie hatte verschlafen. Ja ja, das Glück der Iren.“

Das Terminal der Verdammten. Ein spezielles, isoliertes Terminal für all jene, die das Pech hatten, sich mit MODAPS zu infizieren.

MODAPS, die Abkürzung für Multiple Organic Dysfunction and Paranoia Syndrome. Eine Krankheit, die vermutlich vor einem Jahrzehnt zum ersten Mal auftauchte, und seit einigen Jahren immer weiter um sich griff. Wissenschaftler waren sich sicher, dass sie durch ein Virus verursacht wurde, aber sie waren bisher nicht in der Lage gewesen, es zu identifizieren. Zumindest sprach die Übertragung dafür, dass es sich um einen viralen Infekt handeln musste. Die Übertragung über Körperflüssigkeiten galt als gewiss, zum Beispiel über Sexualkontakte oder Bluttransfusionen. Aber es gab auch Fälle, in denen solche Übertragungswege ausgeschlossen werden konnten, so dass auch die Schmier- oder sogar die Tröpfcheninfektion in Frage kam. Letztlich konnte der Übertragungsweg ebenso wenig geklärt werden wie der Erreger, und das trieb die weltweit unter Hochdruck forschenden Wissenschaftler fast in die Verzweiflung.

Was man leichter erforschen konnte, das waren die Symptome. Die ersten Anzeichen der Erkrankung konnten vielfältig sein, je nachdem, welche Organe zuerst in Mitleidenschaft gezogen wurden. Bei dem einen war es Übelkeit, beim anderen Müdigkeit und Schwindelgefühl, wieder andere zeigten Veränderungen ihrer Persönlichkeit. Die Organe begannen, langsam aber sicher zu degenerieren, bis sie sechs bis neun Monate nach den ersten Symptomen vollständig versagten und man qualvoll starb. Da auch das Gehirn betroffen war, litten die Erkrankten zusätzlich unter paranoiden Wahnvorstellungen.

Immer mehr Menschen erkrankten. Etwa vor fünf Jahren erreichte die Epidemie ihren ersten Höhepunkt. Einige Regierungen begannen damit, spezielle Quarantäne-Bereiche einzurichten, in die die Erkrankten gebracht wurden. Gegen diese Ausgrenzung wurde von manchen Menschenrechtsorganisationen erfolgreich geklagt, und so änderten diese Regierungen ihre Gesetzgebung zum Teil sehr stark. Individuelle Menschen- und Freiheitsrechte wurden radikal beschränkt, um diese Quarantäne-Bereiche zu ermöglichen.

Die Vereinigten Staaten von Amerika kauften zu diesem Zweck die hawaiianische Insel Moloka’i komplett auf. Dieselbe Insel, auf der bis 1969 Leprakranke in einer isolierten Kolonie lebten. MODAPS-Kranke wurden zwangsweise auf diese Insel gebracht, auf der sie entweder bis zu ihrem Tod oder bis zur Entdeckung eines Gegenmittels leben mussten. Von einigen einzelnen liberalen Stimmen abgesehen akzeptierte die Gesellschaft das, da einerseits die Angst vor der Ansteckung sehr hoch war, und andererseits die Ansteckung mit dieser Krankheit einem Todesurteil gleichkam. Nicht wenige Stimmen wurden laut, dass die Infizierten doch dankbar sein sollten, die letzten Monate noch in Würde leben zu dürfen, nur eben nicht unter den Gesunden.

Im ganzen Land wurden die Kranken mit Flugzeugen nach Honolulu gebracht, und von hier per Boot nach Moloka’i. Hierfür benutzte man bis vor einigen Jahren eines der normalen Terminals des Flughafens; von hier brachte man die Infizierten dann per Bus zum Hafen und von da ging es dann weiter.

Bis vor einigen Jahren eine Gruppe Infizierter nicht damit einverstanden war. Sie überwältigten am Flughafen einige Wachleute, nahmen deren Waffen an sich und hielten mehrere Wachleute, Mitarbeiter des Flughafens und Passagiere als Geiseln. Nach einigen Stunden wurde die Geiselnahme blutig beendet. Insgesamt starben 18 Infizierte, elf Geiseln und ein Polizist.

Daraufhin beschlossen die hawaiianischen Behörden den Bau dieses neuen Terminals an der Südseite des Flughafens, weitab von den anderen Terminals, direkt am Meer. Und auf die Rückseite baute man eine Anlegestelle für die Fähre, so dass die Infizierten direkt aufs Boot verfrachtet werden konnten.

Das Flugzeug rollte noch einige Minuten über das Vorfeld, bevor es stehen blieb und die Anzeichen zum Abschnallen aufleuchteten. Für Jeremy konnte es nicht früh genug kommen, er schnallte sich los.

„Wann fliegen Sie zurück?“, wollte Sam wissen.

„Gar nicht“, antwortete Jeremy, und er fühlte eine Genugtuung beim Gedanken, sich einen zweiten Flug mit ähnlicher Gesellschaft sparen zu können. „Ich trete hier einen Job an und bleibe.“

Sam wünschte ihm noch viel Spaß. Jeremy bedankte und verabschiedete sich höflich und stand auch schon im Gang.

Sofort nach dem Verlassen des Flugzeugs begann eine für Jeremy fast endlos anmutende Reihenfolge unterschiedlicher Sicherheitsprozeduren. Passkontrolle, Fingerabdruck- und Iris-Scan, Körper-Scan, die üblichen Fragen nach Zweck der Reise und ob er ein Moslem wäre oder vorhätte, den Gouverneur oder andere Funktionsträger zu töten, ob er Waffen oder Bomben oder waffen- oder bombenfähige Materialen mit sich führe und so weiter und so fort. Eigentlich dasselbe wie vor dem Abflug in Los Angeles. Er war sich des Sinns dieser Redundanz nicht im Klaren. Vielleicht entscheiden sich manche Passagiere während des Fluges um oder konvertieren zum Islam. Wäre ja möglich, zum Beispiel wenn man neben einem Sam sitzt.

Natürlich hatte Jeremy eine absolut weiße Weste und auch keine Pläne, jemanden zu töten. Zumindest nicht, wenn es nicht sein musste. Denn Jeremy war Polizist, und in der Ausübung seiner Pflicht hatte er schon zweimal tödliche Waffengewalt anwenden müssen. Das war in Los Angeles.

Endlich durfte Jeremy an die Gepäckausgabe. Hier warteten bereits einige Leute aus seinem Flugzeug, Sam war aber nicht darunter. Die Ausgabe hatte schon begonnen. Jeremy hoffte, seinen Koffer zu finden, bevor er Sam wieder über den Weg lief. Diesmal hatte er Glück. Er schnappte sich seinen Koffer und eilte in Richtung Ausgang.

Ein Koffer. Mehr hatte er nicht. Und mehr brauchte er auch nicht. All seine Sachen passten in diesen Koffer. Hauptsächlich Kleidungsstücke, dazu noch einige Hygieneartikel, eine Mappe mit all seinen wichtigen Papieren und sein Laptop. Das war alles, was er sein Eigentum nannte. Mit leichtem Gepäck reiste es sich leichter. Das war schon seine Devise, als er vor acht Jahren aus seiner Heimat Wisconsin nach L.A. gezogen war. Er hatte auch keine Waffe, seine Dienstwaffe würde ihm reichen.

Zuhause in Wisconsin hatte er noch mehrere Waffen. Das war da normal, da hatte jeder zweite mindestens eine Waffe. Jeremy hatte einen Revolver und mehrere Gewehre, letztere hauptsächlich für die Jagd. Er war Polizist und Jäger, genau wie sein Vater. Und genau wie dieser war er leidenschaftlicher Biertrinker. Als sein Vater vor acht Jahren an einer Leberzirrhose starb – zwei Jahre nach dem Unfalltod seiner Mutter -, verkaufte Jeremy das Haus und all sein Hab und Gut einschließlich seiner Waffen, kündigte seinen Job und zog nach Los Angeles. Bereits damals nur mit einem einzigen Koffer.

Auch in Los Angeles arbeitete er als Polizist. Er bewohnte ein kleines möbliertes Appartement in North Hollywood. In seiner Freizeit schaute er viel fern, am Wochenende zog er durch Bars. Nicht um zu trinken, seit dem Tod seines Vaters hatte er keinen Tropfen Alkohol mehr getrunken. Er suchte nach kurzen, unverbindlichen sexuellen Kontakten mit gleichgesinnten Frauen. Es funktionierte nicht immer, in den meisten Fällen musste er wieder alleine nach Hause, aber manchmal hatte er Glück.

Einmal wandelte sich das Glück in Unglück: Eine der Frauen bedeutete ihm mehr, als er wollte, und sie erwiderte seine Gefühle. Ihr Name war Catherine. Ein Jahr später heiratete er sie und sie zogen in eine größere gemeinsame Wohnung nach Sherman Oaks. Aber im Grunde wurde er zum Bigamisten, denn er war schon mit seinem Job verheiratet. Früher hielt Jeremy das immer für einen dämlichen klischeehaften Spruch, bis er seine Bedeutung am eigenen Leib zu spüren bekam. Denn Catherine war nicht die Frau, die diese Nebenbuhlerin längere Zeit aushielt. Und so war Jeremy nur anderthalb Jahre später wieder geschieden. Zum Glück hatte er nicht viel mit in die Ehe gebracht, sieht man mal vom Erlös aus dem Verkauf seines Hauses in Wisconsin ab, so dass die Scheidung schnell und schmerzlos vonstattengehen konnte. Danach bewohnte Jeremy wieder ein kleines möbliertes Appartement, diesmal in Del Rey.

Und erneut verzichtete er auf viel eigenes Hab und Gut, so dass ihm wieder nur ein Koffer genügte, um sein altes Leben in L.A. hinter sich zu lassen und nach Hawaii zu ziehen.

Auf dem Weg durch das Foyer lief Jeremy am Laden einer bekannten Fast-Food-Kette vorbei. Er hatte an diesem Tag noch nichts gegessen, und so überlegte er kurz, ob er einen Burger zu sich nehmen mochte. Da er weder rauchte noch Alkohol, Tabletten oder sonstige Drogen zu sich nahm und er auch nicht spielte, betrachtete Jeremy ungesundes Essen als sein einziges Laster, welches er dann auch gerne als solches akzeptierte. Nur sein Arzt beschwerte sich ständig über seine schlechten Leber- und Cholesterinwerte. Aber auch ihn und seine Nörgeleien ließ Jeremy in L.A. zurück.

Da erblickte er Sam in der Schlange und entschied sich gegen einen Burger. Jeremy drehte sich um und ging zum Ausgang. Er hätte eh keine Zeit gehabt, um etwas zu essen. Zusätzlich zur Verspätung des Flugzeugs hatte er nicht damit gerechnet, nochmal die ganze Sicherheitsprozedur wie beim Abflug zu durchlaufen. Er schaltete sein Mobiltelefon ein und rief beim Polizeipräsidium an, um Bescheid zu geben, dass er wenige Minuten später ankommen werde.

Vor dem Flughafen winkte er sich ein Taxi herbei. Er beauftrage den Fahrer, ihn zum Polizeipräsidium von Honolulu in die 1060 Richards Street zu fahren.

Blutiger Hibiskus

Подняться наверх