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Kapitel 2
ОглавлениеEine Viertelstunde später hielt das Taxi an seinem Ziel. Zu seiner Rechten war die Fassade eines dreistöckigen Gebäudes mit hohen Arkaden hinter einer Palmenzeile, zu seiner linken ein Park, in dem, ein Stück von der Straße abgesetzt, ein seltsam anmutendes Gebäude stand. Es erinnerte ihn an eine Burg, oder zumindest an das, was sich die Amerikaner unter einer mittelalterlichen englischen Burg vorstellen. Die Iolani Barracks, erklärte der Taxifahrer. Das Polizeigebäude wäre das Gebäude mit den Arkaden zu seiner Rechten.
Nach einer weiteren kurzen Durchleuchtung per Metalldetektor im Eingangsbereich meldete sich Jeremy bei einer jungen uniformierten Polizistin im Empfangsbereich an. Kurze Zeit später wurde er auch schon von Commissioner Morris in Empfang genommen und in dessen Büro im zweiten Stockwerk geleitet.
Morris war ein etwas stämmiger Weißer, Mitte fünfzig und mit Halbglatze. Zu dem vollendeten Klischeebild, das Jeremy von dem typischen Südsee-Polizei-Captain hatte, fehlte nur noch das Hawaiihemd. Sowohl auf den Straßen als auch hier im Foyer hatte er viele Träger dieses inseltypischen Kleidungsstücks gesehen. Auch fiel ihm auf dem Weg auf, dass es hier im Vergleich zu L.A. sehr viele Asiaten und kaum Schwarze gab.
Obwohl Jeremy den Job schon sicher hatte, führte Morris dennoch ein kurzes Vorstellungsgespräch mit ihm, vorrangig um ihn kennenzulernen. Jeremy war noch nie ein großer Redner, daher hielt er sich mit seinen Ausführungen recht knapp: Er erzählte über seine Kindheit und Jugend in Wisconsin, warum er Polizist geworden war und über seinen Umzug nach Kalifornien. Hier bremste Morris Jeremys Tempo ab und fiel ihm ins Wort.
„In L.A.“, sagte Morris, „haben Sie zwei Menschen im Dienst erschossen, ist das richtig?“
Jeremy fehlten im ersten Moment die Worte. Er war nicht darauf vorbereitet, unterbrochen zu werden, und schon gar nicht bei diesem Thema.
„Ja“, antwortete er. „Ist das relevant?“
„Sagen Sie es mir“, antwortete Morris. „Was bedeutet das für Sie, dass Sie zwei Menschen getötet haben?“
Jeremy fühlte sich in seine Gespräche mit dem Polizeiseelsorger zurückversetzt.
„Es bedeutet“, antwortete er schließlich, nachdem er einige Sekunden überlegt hatte, „dass ich noch lebe. Entweder sie oder ich.“
„Sie haben also in Notwehr gehandelt?“
„Sie hatten Waffen und haben auf mich geschossen. Und ich habe zurückgeschossen.“
„Bereuen Sie es?“
„Sie erschossen zu haben?“, fragte Jeremy.
„Überhaupt. Die Situationen. Wenn Sie die Chance hätten, diese Tage jeweils erneut zu durchleben, mit dem Wissen, was passiert. So wie Bill Murray am Murmeltiertag. Würden Sie mit Absicht den Situationen aus dem Weg gehen?“
„Nein. Ich würde vielleicht früher schießen. Ich hatte jeweils Glück, dass die beiden nicht zielen konnten. Aber ich würde sie erneut erschießen.“
„Warum?“
„Ich verstehe die Frage nicht.“
„Warum würden Sie sie erschießen?“
Die Fragen an sich klangen sehr forsch. Der Inhalt passte aber ganz und gar nicht zur entspannten und lockeren Art, mit der Morris sie stellte.
„Weil es schwere Jungs waren“, antwortete Jeremy schließlich. „Gangmitglieder, Drogenhändler, Mörder. Sie waren skrupellos und kaltblütig. Wenn ich nicht da gewesen wäre, hätten sie es vielleicht mit weniger entschlossenen Kollegen zu tun gehabt. Die hätten vielleicht gezögert und wären erschossen worden. Und auch danach hätten sie noch Chancen gehabt, andere zu erschießen.“
„Sie befürworten also die Todesstrafe?“
„Ich weiß nicht. Zuhause in Wisconsin hatte ich sie noch befürwortet. Da hatten wir sie nicht. Dennoch war ich der Meinung, dass wir sie bräuchten, als Abschreckung und Sühne. In L.A. hingegen herrschte die Gewalt. Mord und Totschlag waren an der Tagesordnung. In Kalifornien gibt es doppelt so viele Tötungsdelikte je Einwohner wie in Wisconsin. Trotz Todesstrafe. Nein, ich glaube nicht, dass sie wirkt.“
Morris, der bisher nach vorne gebeugt saß und seine gefalteten Hände auf dem Tisch ruhen ließ, richtete sich auf und runzelte die Stirn.
„Diese Antwort überrascht mich jetzt“, sagte er. „Sie sind Polizist und haben zwei Tötungen vollzogen. Aber Sie sind ein Gegner der Todesstrafe.“
„Nein, kein Gegner“, sagte Jeremy. „Ich zweifle sie an, durchaus. Sagen wir mal, ich bin unentschlossen. Ich weiß, dass es sie in Hawaii nicht gibt.“
„Ja… nein, darauf will ich nicht hinaus“, antwortete Morris, seine Hände gestikulierten auf der Suche nach den passenden Worten. „Sagen wir es mal so. Einerseits haben Sie anscheinend keine Probleme damit, zwei Leute zu erschießen, andererseits zweifeln Sie die Wirkung der Todesstrafe an. Das passt für mich nicht ganz zusammen. Ich möchte es verstehen.“
Jeremy wusste zunächst auch nicht, wie er darauf antworten sollte. Da ergriff Morris wieder das Wort.
„Folgende Situation. Sie hätten die beiden nicht erschossen, sondern es irgendwie geschafft, sie zu entwaffnen und zu verhaften. Rein theoretisch. Hätten sie es dann verdient, zu sterben?“
„Hätte es was gebracht?“
„Nun, sie hätten nie wieder jemanden töten können.“
„Sie wären lebenslänglich im Knast gelandet. Da hätten sie höchstens andere schwere Jungs getötet. Und die kümmern mich nicht wirklich.“
Morris versuchte, die Antworten zu verarbeiten. Er beugte sich wieder vor, faltete die Hände und stützte sein Kinn darauf ab, während er grübelte.
„Okay“, sagte er schließlich. „Dann folgende Situation: Die beiden hätten nicht mitbekommen, dass Sie in der Nähe sind. Ich weiß aus den Berichten, dass Sie sich ordnungsgemäß als Polizist zu erkennen gegeben haben. Aber darum geht es hier nicht. Die schweren Jungs bedrohen andere, und Sie sind in unmittelbarer Nähe, aber für die nicht zu erkennen und haben eine Waffe. Schießen Sie?“
„Natürlich“, antwortete Jeremy ohne zu zögern.
„Warum?“
„Um das Leben Unschuldiger zu retten.“
„Und das kümmert Sie dann nicht, dass Sie dafür jemanden erschießen müssen?“
Jeremy wurde es langsam unbehaglich. Es kam ihm vor, als drehe man sich hier im Kreis, immer wieder um das alte leidige Thema herum. Mit dem Polizeipsychologen lief es damals genauso. Nur, dass der nicht ganz so forsch war. Dafür hatte der sich mehr Zeit gelassen, was Jeremy auch nicht so geheuer gewesen war. In seinen Augen waren die nach solchen Situationen obligatorischen Versetzungen in den Innendienst und die Pflichtsitzungen beim Seelsorger überflüssig.
„Nein“, antwortete er schließlich mit fester Stimme. „Es kümmert mich nicht. Natürlich wäre es mir am liebsten, niemand würde sterben. Aber wenn ich vor die Wahl gestellt werde, ob jetzt Mörder oder Unschuldige sterben sollen, und genau das wurde ich in jenen Situationen, dann erschieße ich den Mörder. Ohne zu zögern. Und am Abend gehe ich ins Bett und schlafe beruhigt, weil ich weiß, dass ich den Unschuldigen das Leben gerettet habe.“
Morris lehnte sich zurück und lächelte zufrieden.
„Mister Hagen, Sie wissen, warum Sie hier sind?“
„Ja. Weil man mir diesen Job angeboten hatte. Wenn ich mich richtig erinnere, dann kam das Angebot sogar von Ihnen persönlich.“
„Das ist richtig. Und wissen Sie, wie ich auf Sie gekommen bin? Ihr Captain hat Sie mir ausdrücklich empfohlen.“
Das war Jeremy in der Tat neu. Er neigte noch nie dazu, sich zu viele Gedanken zu machen. Zu viel zu hinterfragen führt nur zu Paranoia, hatte sein Vater immer gesagt. Je weniger man weiß, um so leichter lässt es sich leben. Daher hatte er sich auch nie gefragt, wie Morris vor ein paar Wochen auf ihn kam, als er ihm das Jobangebot per Mail zugeschickt hatte.
„Sie werden sich vielleicht wundern, warum ich Sie so intensiv zu den beiden Vorfällen befragt habe“, sagte Morris. „Nun, ich wollte von Ihnen persönlich wissen, wie Sie dazu stehen. Ihr Captain hat mir nämlich zusätzlich zur Empfehlung Ihre Akten zugeschickt, inklusive der Berichte des Psychologen. Danach sind Sie für die Tätigkeit, für die wir Leute suchen, hervorragend geeignet.
Und damit kommen wir direkt zu Ihrem neuen Aufgabengebiet. Ihnen ist bekannt, dass wir hier auf Hawaii die nationale MODAPS-Quarantänestation haben?“
„Ja.“
„Sehen Sie, viele Kranke, die wir auf der Insel aussetzen, sind nicht damit einverstanden. Es gibt immer wieder Fluchtversuche. Die Navy patrouilliert zwar mit mehreren Schiffen um die Insel herum, aber es gelingt immer wieder Einzelnen, unentdeckt die weite Strecke auf die Nachbarinseln Maui, Lana’i oder sogar hierher nach O’ahu zu schwimmen oder mit einem kleinen Boot zurückzulegen.
Diese armen Seelen können zwar nichts für ihre Krankheit, aber sie können sehr wohl etwas dafür, wenn sie die Quarantänebestimmungen vorsätzlich umgehen. Und auch, wenn sie es nicht wollen, so sind sie doch sehr gefährlich. Bedenken Sie, man weiß immer noch nicht, wie MODAPS genau übertragen wird, und auch von einer Heilung sind wir noch weit weg.
Ihre Hauptaufgabe wird es sein, diese Infizierten aufzuspüren und festzusetzen. Und nun kommen wir zum Haken an der Geschichte. Der Grund, warum dieser Job so unangenehm ist, und warum Sie mir für diese Aufgabe als geeignet erscheinen. So eine Verhaftung hat sich noch nie als einfach herausgestellt, wenn es darum geht, dabei weitere Ansteckungen zu vermeiden. Insgesamt neun Polizisten, die eigentlich nur ihren Dienst tun wollten, landeten deswegen bereits selbst auf Moloka’i. Dies hätte vermieden werden können. Tödliche Gewalt ist daher das Mittel der Wahl, wenn es darum geht, weitere Ansteckungen zu vermeiden.“
Morris machte eine Pause, damit Jeremy Zeit hatte, dies sacken zu lassen. Und Jeremy dachte auch scharf darüber nach, was Morris gerade gesagt hatte. Oder genauer, was dieser von ihm erwartete, wenn er den Job antrat. Er atmete tief durch und lehnte sich zurück.
„Sie erwarten von mir, dass ich Unbewaffnete töte“, sagte Jeremy.
„Nein. Die Kranken sind nicht unbewaffnet. Sie tragen das Virus in sich. Und das Tragische daran ist, dass sie mit dieser Waffe nicht wirklich umgehen können. Sie stecken Leute an. Unschuldige. Sie wollen es nicht, aber sie tun es. Es gab auch schon einen Präzedenzfall dazu. Der oberste Gerichtshof in Hawaii hat entschieden, dass alleine die Flucht von Moloka’i den Straftatbestand des versuchten Totschlags in einem besonders schweren Fall erfüllt.
Andererseits sind diese armen Seelen eh dem Tode geweiht. Sie zu töten würde bedeuten, ihr Leben nur um einige Monate zu verkürzen. Zum Teil leidvolle Monate. Sie kennen sicher die Berichte über die Krankheit, die Medien sind ja voll davon. Dann wissen Sie sicher auch, wie die letzten Tage im Leben dieser Kranken aussehen. Wissen Sie, Hagen, wenn ich das wäre, ich würde mir vielleicht wünschen, vorher getötet zu werden.“
Jeremy antwortete nicht. Er überlegte. Beide saßen sich einige lange Sekunden starrend gegenüber.
„Nun?“, fragte Morris. „Hätten Sie ein Problem damit, geflüchtete Kranke zu töten?“
„Unter diesen Umständen: nein“, antwortete Jeremy nach einigen weiteren Augenblicken.
„Aber so sind sie leider, die Umstände. Die Zusage hatten Sie ja schon, aber ich wollte es von Ihnen selbst hören, dass ich den richtigen Mann habe. Nun denn.“
Morris stand auf und reichte Jeremy die Hand. Jeremy tat es ihm nach.
„Willkommen auf Hawaii, Sergeant Hagen.“
Sie setzten sich wieder.
„Sie hatten vorhin angerufen, dass Sie etwas später kommen, weil Sie gerade gelandet wären. Dann nehme ich an, Sie haben noch nicht in einem Hotel eingecheckt?“
„Nein, noch nicht.“
„Sehr gut, denn Sie fliegen heute noch weiter. Ihr Einsatzgebiet wird die Insel Oahu sein. Ich werde einen Flug für Sie buchen lassen und die Kollegen vor Ort informieren. Ihr neuer Partner heißt John Oshiro, er wird Sie vom Flughafen abholen und Ihnen alles Weitere erklären.“
Jeremy fluchte innerlich. Er hatte mit Vielem gerechnet und noch mehr befürchtet, aber er hatte gehofft, erst mal nicht mehr fliegen zu müssen.
„Es wird spät werden. Ich werde noch ein Hotelzimmer brauchen“, sagte er.
„Nicht nötig. Sie bekommen für die ersten Wochen eine Dienstwohnung gestellt. Oshiro ist instruiert und er hat auch den Wohnungsschlüssel, er bringt sie direkt dorthin. Dann können Sie sich in Ruhe eine eigene Wohnung suchen.“
Das Gespräch war damit beendet. Morris begleitete Jeremy wieder zurück ins Foyer. Unterwegs führte Morris noch etwas Small Talk; er versuchte Jeremy von den Vorzügen Hawaiis zu überzeugen. Er lobte das Wetter, die Wellen und vor allem das Essen. Jeremy antwortete wortkarg, aber höflich. Statt über das Essen zu reden wäre ihm lieber gewesen, es zu sich zu nehmen.
Im Foyer verabschiedeten sie sich mit einem Handschlag, Jeremy nahm seinen hier in Verwahrung gegebenen Koffer wieder an sich, verließ das Gebäude, stieg in ein auf ihn wartendes Taxi und ließ sich zurück zum Flughafen fahren.