Читать книгу Das leere Grab - Arya Andersson - Страница 7

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Kapitel 2

2 Jahre später

„Wo ist hier der Kopierraum?“

„Die Treppe rauf, links den Gang entlang, bis zur ersten Türe auf der rechten Seite. Dort stehen drei Kopiergeräte. Vergiss aber nicht, dir vorher eine Kopierkarte zu lösen. Der Automat steht vor dem Kopierraum.“

Ich hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da wandte mir der Student auch schon den Rücken zu. Etwa fünf Sekunden blickte ich ihm nach, um sicher zu sein, dass er meiner Wegbeschreibung fürs Erste richtig folgte. Als er die Stufen hoch schlurfte, widmete ich mich wieder dem Stapel Bücher auf der Theke vor mir.

Lustlos sortierte ich die Wälzer nach ihren Themen. Ingenieurinformatik, Medizin, internationale Literatur und Germanistik, alles Fachgebiete, die in meiner Abteilung für Kunstpädagoik nichts zu suchen hatten. Manche Studenten hatten die lästige Angewohnheit alle Bücher herauszureißen, sich irgendwo niederzulassen, um sie schließlich dort zu vergessen. Meine Aufgabe bestand darin, diese Bücher ausfindig zu machen, zu überprüfen und anschließend wieder richtig einzusortieren. Das heißt, wenn mir die Studenten dafür genügend Zeit ließen.

Heute schien eine besondere Art der Trägheit über den Besuchern der Universitätsbibliothek in Augsburg zu liegen. Sie alle litten wohl an derselben Krankheit: Beschränktheit! Niemand mutete sich heute an, die gewünschten Bücher selbstständig herauszusuchen. Den ganzen Morgen über wuchtete ich Wälzer aus den Regalen heraus, statt sie einzusortieren. Bekümmert blickte ich auf meine Uhr und sehnte die Mittagspause herbei. Der große Zeiger musste nur noch eine halbe Umdrehung hinter sich bringen, um mich zu erlösen. Doch so wie die Studenten, schien auch der Zeiger an Trägheit zu leiden.

„Entschuldigung? Könnten Sie mir bitte sagen, wo ich ein Verzeichnis für historische Quellen in Bezug auf ...?“

Seufzend schnitt ich der jungen Studentin das Wort ab, ohne dabei aufzublicken: „Probiere es in der Abteilung für historische Wissenschaften.“

„Da habe ich schon gesucht, aber ich konnte es nicht finden und die Frau hinter der Infotheke ist nicht da.“

„Dann wird sie wohl in der Mittagspause sein.“

„Könnten Sie mir nicht helfen?“

Innerlich rollte ich mit meinen Augen. Warum konnte sie nicht einfach kurz warten oder selbst suchen? „Du kannst alles von mir haben, nur nichts Historisches.“

„Wie wäre es mit praktisch ausübender Sexualkunde?“

Ein hochgewachsener Student schob sich an der jungen Frau vorbei, knallte ein Buch auf meinen bedenklich schwankenden Bücherstapel und stützte sich angeberisch auf der Infotheke ab. Seine graublauen Augen funkelten mich übermütig an.

„Würde ich gerne, Kleiner, aber wenn ich dich in Sexualkunde einweisen würde, würde man mich wegen Kindesmissbrauch anzeigen. Also schieb deinen Arsch zum Ausleihschalter und lass dieses Buch an der Ausgabe registrieren. Wenn du es nicht haben möchtest, dann räume es gefälligst wieder auf!“

Die junge Studentin vor mir riss entsetzt ihre mandelförmigen Augen auf, während ihr männlicher Studiengenosse weiterhin anzüglich grinste.

„Ich hatte noch nie eine Bibliothekarin.“

„Was studierst du? Betriebswirtschaftslehre?“

„Woran siehst du das?“ Anzüglich grinsend lehnte er sich etwas weiter nach vorne.

„Liegt vielleicht daran, dass mich bisher nur BWL-Studenten angemacht haben.“

Der Studierende lachte laut heraus, schnappte sich sein Buch und winkte mir zum Abschied zu. Seine Mitstudentin floh.

Es gab hier drei Gruppen von Besuchern. Einmal die Studenten, die ihre Sätze mit wo ist oder sag mal begannen und ohne weitere Floskeln wieder verschwanden. Sie fragten nicht, sondern setzten lediglich voraus. Die Wenigsten von ihnen ließen sich zu einem Gespräch, geschweige denn einem Gruß, herab. Woran dies auch immer liegen mochte, das tägliche Bücherstöbern trug mit Sicherheit zu ihren ungehobelten Manieren bei. Die zweite Gruppe bestand aus den Menschen, die ihre Sätze mit Entschuldigung? Oder mit könnten Sie mir bitte sagen ... begannen. Gepaart mit den Höflichkeitsfloskeln vielen Dank oder super, danke konnte man zu 99,9 Prozent davon ausgehen, dass dies wissbegierige Bürger waren.

Ob Laie oder Student, egal ob aus Faszination oder Langeweile angetrieben, sie alle hatten eines gemeinsam: Sie waren hier, um alles zu erfahren. Ausgenommen meiner Person.

Ich war hier, um zu vergessen. Im Zentrum des geballten Wissens versuchte ich, die Geister meiner Vergangenheit zu vertreiben und betrieb auf höchster Ebene Blasphemie, indem ich genau das Gegenteil dessen tat, wozu diese Bibliothek geschaffen worden war: Mein Wissen vernichten!

„Frau Sommer?“

Diese Stimme gehörte mit höchster Wahrscheinlichkeit weder zu einem Studenten noch zu einem wissbegierigem Bürger. Dafür klang sie zu bestimmend, beinahe autoritär und dennoch schwang so etwas wie unglaubliche Ruhe darin mit. Eigentlich hätte mich diese Stimme von meiner derzeit miesepetrigen Stimmung abholen sollen, doch irgendwie sträubte sich alles in mir dagegen.

„Frau Keller, wenn es nicht allzu viele Umstände macht.“ Genervt blickte ich auf meine Uhr, ehe ich mich um die Nervensäge kümmerte. Nach wenigen Überlegungen entschied ich, dass dieser Mann nicht einmal zu der letzten Kategorie, den Dozenten zählte, sondern zu der aller letzten – den Störenfrieden. „Woher kennen Sie meinen Nachnamen?“

„Gestatten? Professor Bachmann!“

Überrascht blickte ich auf. Strahlend blaue Augen, umgeben von kleinen Lachfältchen zwinkerten mir aufmunternd entgegen. Ein schelmisches Lächeln legte sich auf sein wettergegerbtes Gesicht, als er meine verblüffte Musterung über sich ergehen ließ. Er war gut, aber äußerst praktisch gekleidet. Sein grauer Dreitagebart, sowie seine weißen vollen Haare, ließen sich nur schwer mit seinem beinahe jugendlichem Kleidungsstil vereinbaren.

„Professor Bachmann? Der Professor Bachmann? Entschuldigen Sie meine Ungehobeltheit. Freut mich Sie kennenzulernen. Ich habe viel von Ihnen gehört.“

„Das bezweifle ich, ich unterrichte schon seit langem nicht mehr.“

„Das ist mir bekannt. Nach der Verurteilung Ihres Sponsors Professor Dr. Mayer vor zwei Jahren, haben Sie sich aus der Archäologie vollständig zurückgezogen. Soweit ich weiß, haben Sie vor etwa 15 Jahren geschworen, nie wieder einen Hörsaal zu betreten.“

„Vor 17, um genau zu sein. Sie sind gut informiert.“

„Als ich mein Studium begann, waren Sie bereits eine Legende. Sie haben in der Geschichte, Geschichte geschrieben. Was kann ich für Sie tun?“

„Ich bin wegen Ihrer Diplomarbeit hier. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann würde ich Sie gerne zum Mittagessen ausführen.“

Verlegen schielte ich auf den gigantischen Stapel Bücher. Ich würde eine Stunde brauchen, um diese einzusortieren – das bedeutete: Meine ganze Mittagspause würde drauf gehen. „Ich möchte heute Abend keine Überstunden schieben, daher kann ich Sie nicht begleiten. Es tut mir leid, Professor Bachmann. Es war schön Sie kennengelernt zu haben.“

Der ehemalige Dozent runzelte nachdenklich seine Stirn. Sein Blick musterte die Bibliothek beinahe feindselig. „Wollen Sie den Rest Ihres Lebens mit Büchereinsammeln verbringen? Oder versuchen Sie, wenigstens ein bisschen Sinn in Ihr Leben zu bringen?“

„Ich glaube nicht ...“

„Sie waren eine ausgezeichnete Studentin, Sie haben mit den besten Noten Ihr Studium absolviert. Sie galten als ein vielversprechender Nachwuchs. Mir kam zu Ohren, dass Sie an Feldforschung interessiert seien.“

„Das war bevor ich ...“ Ich stockte. Ich schuldete diesem Mann keine Rechtfertigung. „Dieser Job ist okay. Es bringt mir Geld ein, ohne dass ich mich abschinden muss. Vorerst genügt es.“, schloss ich lahm.

„In ein paar Jahren werden Sie für die Feldforschung zu alt sein, außer Sie gehören einem erfolgreichem Archäologenteam an. Ich biete Ihnen eine Chance.“

„Ich hatte in meinem Leben einige Chancen, Professor Bachmann, so viele, dass es für zwei Leben reicht.“ Mit einer forschen Bewegung blickte ich auf meine Uhr. Mittagspause! „Wenn Sie mich entschuldigen würden? Ich muss weiterarbeiten.“ Genervt packte ich so viele Bücher, wie ich nur tragen konnte, und verschwand mit ihnen hinter den Regalen.

Professor Bachmann folgte mir. „Anhand Ihrer Lebensgeschichte stellt sich mir die Frage, was Ihnen wohl als Chance vorgelegt worden ist? Ihre Kindheit? Ihre flatterhaften Freunde oder Ihre Eheschließung? Wohl kaum!“

„Sind Sie unter die Psychiater gegangen, Professor?“

„Ich bin Archäologe. Ich finde Dinge, setze sie zusammen und interpretiere sie. So habe ich es mit Ihrem Lebenslauf getan. Ich habe gegraben, Fetzen gefunden und sie zusammengefügt. Was bleibt, ist eine brillante, aber leider etwas gestörte Archäologin. Nichts, was man nicht restaurieren könnte.“

Professor hin oder her, Legende oder nicht, dieser Mann machte mich wütend. „Sie haben kein Recht in meinem Leben herumzustöbern. Sie sind Archäologe, ihre Dienste gelten ausschließlich den Toten und nicht den Lebenden. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden?“ Zornig sortierte ich, ohne es zu bemerken, ein Buch falsch ein. Professor Bachmann nahm es wieder heraus und folgte mir in die nächste Reihe. Wortlos sah er mir zu, wie ich gegen die Wälzer ankämpfte, um ein weiteres Buch einzusortieren. Innerlich fluchend, warf ich die Lektüren mit fehlendem Respekt zu Boden, um mich meinem Zweikampf mit dem Wälzer intensiver widmen zu können. Schließlich gelang es mir, das dicke Buch zwischen zwei seiner Kollegen zu schieben. Mit einem triumphierendem Schnauben kniete ich mich nieder und sammelte die lieblos behandelten Werke wieder auf.

Plötzlich legte sich eine Hand auf meinen Arm. Erschrocken blickte ich in Professor Bachmanns Antlitz. Ich hatte ihn im tiefen Groll völlig vergessen. „Wollen Sie alles wonach Sie gestrebt haben vergraben?“ Sein wettergegerbtes Gesicht drückte große Besorgnis aus. Er wirkte völlig zeitlos und sein vollkommen weißes Haar bestärkte diesen Eindruck. Schlagartig fragte ich mich, wie alt er wohl sein mochte. Ein zaghaftes Lächeln schlich sich auf seine Züge und seine Augen verrieten mir, dass er meinen Gedanken erraten hatte. „Ich bin mitten in der Midlifecrisis, zähle 55 Jahre und ich bin ein gebrochener Mann, der seine ganze Hoffnung in eine neue Lebensaufgabe gesetzt hat. Sie sind Bestandteil meiner Zuversicht. Geben Sie mir eine Chance, leihen Sie einem alten, verstaubten Archäologen Ihr Ohr.“

Unwillkürlich musste ich lachen. Professor Bachmann war der Inbegriff des Lebens. „Sie erwähnten meine Diplomarbeit.“, ging ich schließlich auf ihn ein.

„Darf ich Sie nun in die Mensa ausführen, oder lassen Sie mir keine andere Wahl, als Sie zu entführen?“

„Sie können sehr charmant sein. In meiner Studienzeit galten Sie allerdings als verstockt und ehrgeizig.“

„Ist das ein Ja?“

„Wenn Sie darauf bestehen.“, seufzte ich.

Der Professor nahm mir die Bücher aus der Hand, legte sie auf den Boden und zog mich hoch. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg in die Kantine. Während dieser Zeit sprachen wir kein einziges Wort. Ab und an schielte ich verstohlen zu dem Professor. Er schien zufrieden zu sein. Denn er spazierte aufrecht, mit einem leisen Lächeln neben mir her und wirkte gelassen. Kaum in der Mensa angekommen, drückte er mich auf einen Stuhl und verschwand anmutig zwischen den hungrigen Studenten, nur um kurz darauf mit zwei Portionen Spaghetti Bolognese und Café Macchiato zurückzukehren.

„Möchten Sie noch ein kühlendes Getränk?“

„Später vielleicht, danke.“

Mit einem exquisitem Lächeln fiel der Professor über seine Spaghetti her, welche eher an lieblos eingelegte Schlangen erinnerten. Während ich ihm schon beinahe angewidert zu sah, widmete er sich ausschließlich der Befriedigung seines Hungers.

„Sie haben einen ausgeprägten Appetit, Professor.“

Mit vollem Mund zwinkerte er mir über den Spaghettiberg hinweg zu. „Wenn Sie zwei Monate in Ägypten gewesen wären, dann würden Sie sich sogar über eine Packung anständiger Chips freuen.“

„Ich dachte, die arabische Küche hätte so einiges Kulinarisches zu bieten.“

Dieses Mal schluckte er erst herunter, bevor er mir antwortete. „Die Ägypter hantieren mit scharfen Gewürzen, wie die Amerikaner mit Zucker.“

„So schlimm?“ Ich hob eine Augenbraue, während er eine abfällige Handbewegung machte.

„Schlimmer!“

Verblüfft bemerkte ich, dass ich ausgesprochen guter Dinge war. Übermütig grinste ich den Akademiker an.

Dieser lächelte schalkhaft zurück. „Ich habe eine Frage, die sich schon unzählige Professoren zuvor gestellt haben. Warum haben Sie massenhaft archäologische Befunde in den Sand gesetzt?“

Ich musste keine Wahrsagerin sein, um zu wissen, dass er auf meine Diplomarbeit anspielte. Verlegen begann ich mit den Fingern zu spielen. „Das ist etwas kompliziert.“

„Erklären Sie es mir.“

„Die Beweggründe mögen etwas zwiespältig erscheinen.“ Um meine Finger zu beschäftigen, griff ich nach der Gabel, nicht um zu essen, sondern um damit in den Nudeln herumzustochern. Ich versuchte, mich ganz dem verschlungenem Knoten auf meinem Teller zu widmen, aber der unnachgiebige Ernst in Bachmanns Stimme, ließ es nicht zu.

„Überzeugen Sie mich.“

Ich unternahm einen letzten Versuch den Wirrwarr auf meinem Teller noch mehr ins Chaos zu stürzen, ließ aber dann seufzend die Gabel sinken. „Also gut. Auf Ihre Verantwortung!“

Räuspernd schob ich mich gerade, senkte jedoch meinen Blick auf die Finger, die es nun den Spaghettinudeln gleichtaten und sich ineinanderschlangen. „Als ich das Thema für meine archäologische Diplomarbeit wählte, war ich gerade mal im ersten Semester. Während meine Studienkollegen nach sensationellen Aufdeckungen gierten, um Doktorarbeiten schreiben zu können, habe ich alles zusammengetragen, was ich ausschließlich für die Diplomarbeit benötigen würde. Kurz vor Ende des Studiums hatte ich so viel Material gesammelt, dass es für fünf Arbeiten gereicht hätte, aber ich blieb meinem Grundsatz treu. Ich wollte einen perfekten Abschluss hinlegen.“ Meine Stimme klang seltsam, irgendwie von ganz unten herausgequetscht. Behutsam schielte ich zum Professor hoch. Seine blauen Augen wirkten ernst und fragend. Ich atmete tief ein und erzählte weiter. Doch dieses Mal schaute ich nicht weg. „Eine Mitstudentin entschied sich für dieselbe Thematik, fand aber kaum Material – außer dem meinem. Drei Tage vor dem Abgabetermin bekam ich heraus, dass sie meine Arbeit kopiert und an zwei weitere Studentinnen weitergeleitet hatte. Zunächst war ich furchtbar zornig. Mein ursprüngliches Thema wollte ich nicht mehr abliefern. Doch ich konnte mir keinen Aufschub leisten. Da mir die Zeit davonlief, habe ich nicht, wie üblich, die Fakten aufgelistet oder kommentiert, sondern in Frage gestellt und neu interpretiert.“

Plötzlich spürte ich seine warme Hand auf der meinigen. Erst jetzt bemerkte ich, wie furchtbar kalt diese waren. Dadurch aus dem Konzept gebracht registrierte ich auch, dass der alte Zorn wieder Besitz von mir ergriffen hatte. Fort waren mein Grinsen, meine Stärke und meine Überheblichkeit.

„Innerhalb von drei Tagen?“

Ich konnte meinen Blick einfach nicht von seiner warmen feingliedrigen Hand nehmen. Wie hypnotisiert starrte ich darauf, während ich antwortete. „Und zwei Nächten. Die Dozenten waren völlig entsetzt über meine Arbeit, aber der Magister gab zu, dass er diese Thesen weder widerlegen noch bestätigen konnte. Und da die Jury ebenfalls so dachte, erhielt ich eine faire Note. Im Endeffekt ist meine Diplomarbeit Schund…“ – ich zuckte mit den Schultern. – „… aber bisher hat sie niemand in Frage gestellt oder die Thesen hundertprozentig widerlegt.“

Bachmann nahm seine Hand fort und begann wieder zu essen. Er rollte einige Spaghetti zusammen und schielte mich über seine Gabel hinweg an. „Es gibt Schriften, die Ihre Ansichten unterstützen.“

„Es gibt unzählige Thesen, die meiner gleichkommen, aber letztlich halten die Autoren es doch für unwahrscheinlich. Archäologen scheuen vor Vermutungen zurück. Sie wollen Beweise, Fakten oder Funde. Ohne diese Dinge zeichnen sie keine Bilder von der Vergangenheit. Ich weiß nicht, warum sie vor unbestätigten Schlussfolgerungen zurückschrecken.“

„Eine Thematik für sich. Ich muss gestehen, dass ich mir die Gründe für Ihre Diplomarbeit etwas anders vorgestellt habe.“

Beinahe schwach zuckte ich mit meinen Schultern. „Tja, ich muss Sie enttäuschen. Ich bin nun mal sehr kindisch veranlagt.“ Sein leises Lachen löste Verwirrung in mir aus. Irritiert schielte ich in seine Richtung.

„Geboren aus Trotz und Ehrgeiz, aber deswegen nicht minder brillant. Und da Sie selbst nicht wissen, ob Sie nun richtig oder falsch liegen, biete ich Ihnen die einmalige Chance, sich vor Ort von Ihrer These zu überzeugen.“ Mit dem Kaffeebecher auf halber Höhe und mit überrumpelt geöffnetem Mund, bot ich bestimmt ein seltsames Bild. Professor Bachmann lachte erneut auf seine sehr angenehme Art. „Sie haben nicht an Ihre These geglaubt, nicht wahr?“

„Sie haben eine Grabanlage gefunden?“ Nur mit Mühe konnte ich verhindern zu stottern. Mit einem Schlag war ich aufgeregt.

„Dschabal Katrina“

Meine Hand, welche den Kaffeebecher hielt, knallte herunter. Eine Milchschaumflutwelle ergoss sich auf den Tisch und bahnte sich in Form eines kleinen Wasserfalls einen Weg auf meine helle Jeans. Hektisch riss ich die Serviette vom Tisch und begann das Unglück auf der Hose zu bearbeiten, während ich nachdenklich die Stirn gerunzelt hielt. „Dschabal Katrina? Aber das ist unmöglich!“

„Wieso? Haben Sie nicht selbst diesen Ort und ein paar weitere äußerst unwahrscheinliche Oasen genannt?“

„Dschabal Katrina ist keine Oase, sondern der höchste Gipfel Ägyptens. Dort herrscht ausschließlich Wüste. Außerdem ergibt das keinen Sinn. Warum sollte ein Pharao seine heimliche Grabanlage auf der falschen Seite des Nils bauen und wieso ausgerechnet auf der Sinai Halbinsel?“

„Sie selbst wagten die Vermutung, dass dieser Pharao geahnt haben muss, nach seinem Tod von dem Thronfolger gelöscht zu werden, indem dieser seine Tempel und Grabanlagen überfallen und seine Namen ausmeißeln lassen würde. Des Weiteren stellten Sie klar, dass der Pharao eine zweite geheime Anlage abseits aller Gräber erbauen ließ, um sein Leben im Jenseits zu garantieren. Sie nannten revolutionäre Orte, unter anderem Dschabal Katrina auf Sinai.“

„Ich erwähnte diesen Ort nicht aus Überzeugung, sondern aus Trotz heraus. Ich hatte bereits alles in Frage gestellt, da wollte ich gründliche Arbeit leisten, indem ich einfach alles auf den Kopf stellte. Der Mosesberg ist unsinnig.“

Eine kurze Pause entstand. Während ich dem Professor mit aufmüpfig vorgeschobener Unterlippe meinen Trotz entgegenschleuderte, zogen sich seine Augen herausfordernd zusammen.

„Pharao Maatkare, so lautete die Inschrift meiner Ausgrabungsstätte. Nennen Sie mir auf Anhieb einen Pharao, der diesen Thronnamen trug.“

Der Thronname Pharao Maatkare war einem herrschenden Pharao vorbehalten, dem einzigen Pharao, der je weiblich gewesen war. Meine Antwort erfolgte prompt ohne, dass ich mich großartig anstrengen musste: „Hatschepsut.“

„Gerechtigkeit und Lebenskraft, ein Re! So nannte sie sich selbst und so lauten ihre Inschriften.“

Ich schüttelte leicht den Kopf und begann wieder den Kaffeefleck auf meiner Hose zu bearbeiten. „Es könnte aber auch einen weiteren Pharao Maatkare gegeben haben.“

Professor Bachmann lehnte sich zurück und verschränkte seine Arme vor der Brust. Beinahe triumphierend verkündete er sein letztes Ass im Ärmel. „Was würden Sie sagen, wenn wir eine Inschrift gefunden hätten, die besagt: Ich bin der rechtmäßige Pharao, gezeugt von Amun. Von ihm bestimmt die Doppelkrone des Unteren und Oberen Reiches zu tragen. Ich, Pharao Maatkare.“

Der Kaffeefleck auf meiner Hose war vergessen. Ungläubig sah ich zu, wie der Professor sich vorbeugte, um die Schaumlache vor mir mit seiner Serviette aufzuwischen. „Warum wenden Sie sich nicht an das Archäologenteam, welches Hatschepsuts Tempel und Grabanlage im Tal der Könige rekonstruiert hat?“

Der Professor winkte knapp ab. Sein Gesicht nahm einen leicht verärgerten Zug an. „Ginge ich zu ihnen, dann würde man mich übergehen. Ich habe die Grabanlage gefunden. Diese Archäologen würden mir mein Lebenswerk zerstören.“ Seufzend schüttelte er seinen Kopf. „Außerdem behaupte ich auch gar nicht, dass dies die Anlage von Hatschepsut ist – noch nicht. Um es endgültig zu beweisen brauche ich jemanden, der diesen Pharao intensiv studiert hat. Sie haben sich Hatschepsut gewidmet und darüber hinaus wurden Sie bislang durch keinen einzigen Fund beeinflusst. Sie sind in der Lage nüchtern an die Sache heranzugehen. Zwar haben Sie kaum Erfahrung in der Feldforschung, aber das macht nichts. Ich grabe, Sie forschen.“

Verdattert blickte ich ihn an. Ich kam nicht umhin seine Gesichtszüge nach Lügen zu durchforsten. Es klang alles so absurd. Ich hatte voller Trotz Thesen aufgestellt, wovon ich dachte, dass sie völliger Nonsens seien. Und nun kam dieser renommierte Mann daher und behauptete, dass er genau das gefunden hatte, was ich mir zusammengereimt hatte.

War das ein Witz? Eine Reality Show? Irgendein Gag von den Studenten, die ich des Öfteren angeraunzt hatte? Unsicher fuhr ich mir mit meinen Fingern über die Augen und bemerkte nebenbei, dass sie nun nach Kaffee rochen. „Wie sind Sie auf mich aufmerksam geworden?“

„Über das Internet.“

„Wie bitte?“

„Als ich in Ägypten den Eingang fand, war ich mir nicht sicher, ob dies eine ausgeschlachtete Ruine sei. Daher suchte ich im Internet alles zusammen was über Dschabal Katrina zu finden war. Unter anderem wurden Sie erwähnt. Allerdings nicht im rühmendem Rampenlicht, sondern in der Kritik eines deutschen Journalisten, der Sie mit Ihrer Theorie als lächerlich und inkompetent hinstellte.“ Meine Kinnlade klappte herunter. Professor Bachmann lächelte beruhigend. „Geben Sie nicht allzu viel darauf. Dieser Journalist belächelt die Archäologie im Allgemeinen. In Ihnen sah er lediglich den Beweis für seine Geringschätzung.“

„Na, super! Nicht genug, dass ich mir eh schon wie eine Idiotin vorkomme, jetzt hält mich die ganze Welt für bescheuert.“

„Eines muss ich noch wissen, Frau Keller. Sie hatten vor zwei Jahren einen schweren Unfall. Inwieweit haben Sie sich davon erholt?“

Ich konnte spüren, wie ein rabenschwarzer Nebel aufzog. Verzweifelt klammerte ich mich an das Licht. Genauso gut hätte ich mich an rieselndem Sand festhalten können. „Woher wissen Sie davon?“

„Ich habe mit Ihrer Mutter gesprochen. Sie gab mir Ihre Adresse, vorher erzählte sie jedoch von dem Unfall. Sie meinte, harte Arbeit würde Sie töten.“

Seufzend stützte ich die Ellbogen auf die Tischplatte und grub meinen Kopf resigniert in die Hände. „Es war ein Autounfall. Ich verbrachte ein halbes Jahr im Krankenhaus. Nicht weil ich zusammengeflickt werden musste, sondern weil ich mich kaum noch bewegen konnte. Da eine Operation zu risikoreich war, entschieden sich die Ärzte dagegen. Stattdessen wurde ich in eine Rehabilitationsanstalt geschickt. Dort lernte ich, meinen Körper wieder zu kontrollieren. Die Mediziner vermuten, dass die Nerven irgendwo in einem Engpass eingeklemmt sind. Bei großer Aufregung schwillt die schmale Stelle an und eine bestimmte Nervenbahn wird abgedrückt. Wenn das passiert, bin ich vorübergehend in meinen Bewegungen eingeschränkt. Alles kribbelt wie verrückt und treibt mich fast in den Wahnsinn. Erst wenn ich es geschafft habe, den Stresspegel deutlich zu senken, schwillt der Engpass wieder ab. Danach ist der ganze Spuk vorbei, als wäre nie etwas gewesen. Was bleibt, ist ein minimales Kribbeln, welches kaum spürbar ist.“ Ich ließ meine Arme sinken und nahm den Kaffeebecher vor mir in die Hände, als könne dieser mir Trost spenden. „Motorische Ausfallerscheinungen nennen sie es.“

„Wie oft hatten Sie einen derartigen Anfall?“

„Zweimal im letzten halben Jahr.“

„Wie lange dauern diese Störungen an?“

„Unterschiedlich. Von einem Tag bis zwei Stunden war bisher alles dabei.“

„Hatten Sie währenddessen irgendwelche Atmungsstörungen? Verdauungsprobleme?“

„Nein, es betrifft nur Arme und Beine.“

Professor Bachmann lehnte sich nach vorn, packte meine Handgelenke und zwang mich so, den hängenden Kopf zu heben. Seine Augen wirkten derart mitleidig, dass ich auf Anhieb ein ungutes Gefühl hatte. „Was hat diese Anfälle ausgelöst?“

„Ich war zu Ihnen sehr offen, Professor. Bisher habe ich mit niemandem darüber gesprochen, nicht einmal mit meinem Mann.“

Professor Bachmann ließ mich los und lehnte sich wieder zurück. „Was uns gleich zur nächsten Frage bringt. Haben Sie sich von ihm scheiden lassen?“

„Mutter hat Ihnen wohl alles erzählt!“, giftete ich, ließ den Kaffeebecher los und verschränkte meine Arme vor der Brust.

„Ja, hat sie und falls es Sie beruhigt, ich habe nicht mit ihr geschlafen, obwohl sie eine sehr schöne Frau ist.“

Seufzend griff ich wieder nach meinem kalt gewordenen Kaffeebecher und drehte ihn in den Händen. Dabei stierte ich auf die unansehnliche Brühe, welche sich bedenklich dem Ende zugeneigt hatte. „Jan möchte sich nicht scheiden lassen. Ich habe ihm versprochen, noch einmal über alles nachzudenken. Wahrscheinlich bin ich einfach nur zu feige es auf einen Streit ankommen zu lassen.“, gab ich zerknirscht zu.

„Aber Sie sind ungebunden!“

„Ich frage ihn nicht um Erlaubnis, wenn Sie das meinen.“

Mit einem Schlag wirkte der Professor sehr zufrieden. Er lehnte sich wieder lächelnd zurück, dabei hakte er seine Finger auf der Tischkante ein und lächelte aufmunternd. Alles in allem schmunzelte der Professor sehr gerne, was wohl seine vielen Lachfältchen in seinem Gesicht erklärte. „Dann bleibt nur noch zu klären, wann Sie Zeit hätten, um mit mir nach Ägypten zu reisen.“

Schmerzlich grinsend schüttelte ich meinen Kopf. „Ich kann Sie nicht begleiten. Die motorischen Ausfallerscheinungen können mich jederzeit überfallen. Ich glaube nicht, dass aufregende Funde mir guttun würden.“

„Gehe ich richtig in der Annahme, dass die erste Ausfallerscheinung ausgelöst wurde, als Sie sich Gedanken über eine eventuelle Scheidung machten?“ Erschrocken schloss ich meine Augen, eine Geste, um den Professor abzuschrecken. Jedoch sprach er unbeeindruckt weiter: „Das zweite Mal, passierte es, als Ihr Mann bei Ihnen auftauchte, nachdem Sie ihm schriftlich mitgeteilt hatten, dass Sie die Scheidung einreichen würden. War es so?“ Den Tränen nahe richtete ich mich in meinem Stuhl auf und versuchte, einen Blick aus dem Fenster zu erhaschen. „Frau Keller, ich glaube nicht, dass Ihr Körper Sie bei einer freudigen Aufregung verraten würde. Und ich werde nicht zulassen, dass irgendjemand oder irgendetwas Sie zu einer bewegungsunfähigen Puppe macht. Kommen Sie mit mir nach Ägypten und verwirklichen Sie Ihre Träume.“

Ich zwang mich ruhiger zu atmen. Tausende von Emotionen schlugen wie eine Flutwelle über mir zusammen, so dass ich kaum in der Lage war, diese zu interpretieren. Nur ein Gefühl konnte ich hundertprozentig filtrieren: Angst! „Es tut mir leid, Professor. Ich glaube nicht, dass ich die Richtige für diesen Job bin.“ Ich versuchte, meine Stimme nicht zittern zu lassen. Die Angst kroch wie eisige Klauen an mir hoch. Ich bekam weniger Luft und irgendwie bemerkte ich auch, dass die Welt um mich herum grauer wurde. Die Farben verblassten und hinterließen eine wüstenhafte Düsternis in mir. Am liebsten hätte ich geweint, aber ich konnte es nicht.

Der Professor nahm seine Finger von der Tischkante. So wie seine Stimme, so senkte sich auch sein Blick. „Schade, denn genau das hat mir Justin prophezeit. Er diktierte mir sogar Wort für Wort Ihre Ausrede.“

„Wer ist Justin?“ Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte bei dieser Frage geschnieft.

„Justin Schreiber, der deutsche Journalist, der Ihre Thesen im Internet veröffentlicht hat.“

Blinzelnd vertrieb ich die Düsternis in mir, um das eben Gesagte zu hinterfragen. „Was hat er mit Ihrer Ausgrabung zu tun?“

Bachmanns Miene verzog sich leicht. Sein Tonfall ließ sich durchaus in der Kategorie angewidert einteilen. „Ein penetranter Kerl, unausstehlich und verbissen wie eine Zecke. Irgendwie hat er Wind von meinem Projekt bekommen. Er tauchte aus dem Nichts auf und lässt sich nicht mehr abwimmeln. Andererseits ist er eine große Hilfe, auch wenn ich das nicht gerne zugebe. Er hat archäologische Grundkenntnisse und unterstützt uns bei den Ausgrabungen.“

„Zweifellos, um die ersten Sensationsfotos schießen zu können.“

„Mit Sicherheit, aber er ist ein verdammt guter Fotograf. Als uns eine Serie von Aufnahmen abhandenkam, hat er uns seine zur Verfügung gestellt. Es waren erstklassige Bilder, teilweise besser als unsere eigenen. Mittlerweile fotografiert ausschließlich er.“

„Sie scheinen ihn dennoch nicht zu mögen.“

Professor Bachmann zwinkerte mir schelmisch zu. „Habe ich das etwa gesagt?“ Seine Miene wurde wieder ernst. „Fakt ist, dass er uns mit den Fotografien sehr unterstützt.“

„Sind sonst noch irgendwelche Journalisten vor Ort?“

„Ein Italiener. Im Gegensatz zu Justin ein Waschlappen. Mich wundert nur, dass die Amerikaner oder die Polen noch nicht Wind von der Sache bekommen haben. Normalerweise sind sie die Ersten, die auf einer Ausgrabungsstätte anrücken.“

„Was Sie natürlich sehr bedauern.“

Der Professor lachte laut heraus. „Frau Keller ...“

„Habe ich es mir doch gedacht!“

Eine wütende Stimme ließ mich wie von der Tarantel gestochen vom Stuhl hochschnellen. Mein Chef! Sein Gesicht wie immer tadelnd und missbilligend gefurcht, die Augen wie stets kalt und ungnädig auf mich gerichtet. Ich hasste seinen grauen Anzug, ich verabscheute seine herabschauende Haltung und noch viel mehr verachtete ich seine dünnen widerlichen Lippen, die verächtlich zusammengepresst waren. Doch am meisten widerte mich sein betont langsames Sprechen an. „Herr Miller ...“

Ohne es zu wollen, zog ich meinen Kopf ein, als seine kalte Stimme über mich drüberfuhr.

„Das ist nun schon das fünfte Mal in diesem Monat, dass ich Sie dabei erwische, wie Sie Ihre Mittagspause überziehen. Es waren bereits sieben Studenten bei mir, die sich massiv über Sie beschwert haben. Sie werden jetzt augenblicklich zu Ihrer Arbeit zurückkehren. Hüten Sie sich, heute pünktlich Feierabend zu machen. Wenn wieder Ordnung in Ihrer Abteilung herrscht, werden Sie mich in meinem Büro aufsuchen. Bitte scheuen Sie keine späte Stunde, ich werde extra für Sie Überstunden machen.“ Drohend hob er den Zeigefinger.

Panisch schloss ich die Augen, als ich es doch tatsächlich schaffte, meinem Vorgesetzten zu widersprechen. „Ich habe die Mittagspause noch nie überzogen.“

Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Werden Sie nicht frech, ansonsten könnte ich mir überlegen Sie hinauszuwerfen.“

Wenn mich etwas mutig werden ließ, dann der Gedanke von Ungerechtigkeit oder übler Nachrede. Zitternd ballte ich die Hände, drückte meinen Rücken durch und starrte ihm direkt in die Augen. Betont langsam erklärte ich: „In der Regel arbeite ich während der Mittagspause.“

„Erzählen Sie keinen Unsinn.“ Er machte eine abfällige Handbewegung. „Ich habe Sie höchstpersönlich fünfmal erwischt.“

Vergessen war meine Angst, vergessen meine Unterwürfigkeit und vergessen war meine Abscheu vor diesem Menschen. Meine Stimme überschlug sich beinahe vor Zorn. „Wenn Sie eine Minute abgewartet hätten und nicht jedes Mal zum Direktor gerannt wären, um mich anzuschwärzen, dann hätten Sie zweifellos festgestellt, dass ich mir nur schnell ein Sandwich oder einen Kaffee geholt habe.“

„Junges Fräulein, ich ...“

„Ich bin 29!“, fiel ich ihm ins Wort. „Und wenn ich Hunger habe, dann hole ich mir mein Essen, wann immer es mir passt, vor allem, wenn ich keine Mittagspause gemacht habe und auch dann, wenn ein paar verwöhnte Studenten mich bei Ihnen anschwärzen.“

„Das war’s!“ Wütend presste Herr Miller seine Worte zwischen den Lippen hervor. „Ihr Betragen ist absolut inakzeptabel. Wenn Sie heute Abend in mein Büro kommen, dann erhalten Sie von mir die fristlose Kündigung.“

Meine Kinnlade sackte herunter. Seine glühenden Augen streiften den Professor, ehe er uns den Rücken kehrte und von dannen rauschte.

„Tja! Sieht ganz so aus, als wären Sie jetzt arbeitslos.“, riss mich die Stimme Bachmanns aus meinen Gedanken.

„Was?“ Der Professor machte eine flüchtige Handbewegung in die Richtung, in welche mein Vorgesetzter davon gerauscht war. Wie chloroformiert sank ich auf den Stuhl und versuchte, mich zu fassen. „Dieser Mistkerl! Seit ich hier bin, habe ich nur viermal Mittagspause gemacht. Mehr als siebzig Arbeitsstunden, die ich ihm geschenkt habe. Scheiße!“ Wütend trat ich mit meinem Fuß gegen ein Tischbein. Sofort klirrte das Besteck auf den Tellern protestierend auf.

„Frau Keller, hiermit wiederhole ich mein Angebot: Begleiten Sie mich nach Ägypten und bringen Sie Licht ins Dunkle.“

Ich seufzte geschlagen. „Sie glauben nicht, dass es Hatschepsuts Grab ist, dennoch nehmen Sie es an. Warum? Was macht Sie so sicher, Professor?“

„Sie wissen, dass Thutmosis III. Hatschepsuts Gemahl war?“

Ich atmete tief durch und bemühte mich, meine Gedanken auf das Sachliche zu konzentrieren. Überlegend zog ich die Stirn in Falten. „Sie hatte zunächst die Regentschaft inne, da er noch nicht regierungsfähig war. Anschließend hat sie ihn geheiratet und ihm die Krone geraubt, indem sie sich selbst die Doppelkrone aufgesetzt hat.“

Der Professor nickte bestätigend. „Durch diesen Raub, hat sie ihm nicht nur den Pharaonentitel gestohlen, sondern auch das Mann sein. Dies wird durch die Manneskraft, also den Hoden, symbolisiert. Thutmosis III. erlangte nach Hatschepsuts Tod seinen Titel Mann zurück, indem er den Thron bestieg“, erklärte Bachmann.

„Worauf wollen Sie hinaus?“

„Als man die Mumie von Thutmosis III. fand, fehlten seine Hoden. Weder in der Mumie selbst noch in einer der Kanopen entdeckte man sie. Irgendwie müssen sie verloren gegangen sein.“

„Was hat das mit Ihrer Ausgrabungsstätte zu tun?“ Ich lehnte mich nach vorn. Langsam weckte der Professor meine Neugier.

„Im Sanktuarium der Grabanlage fanden wir fünf Kanopen. Was sehr bemerkenswert ist, da regulär nur vier für die Organaufbewahrung vorgesehen sind. Auf vier dieser Gefäße ist das Zeichen von Pharao Maatkare eingemeißelt. Eine enthält die Leber, die Zweite die Lunge, die Dritte den Magen, die Vierte den Darm, sowie sonstige organische Kleinigkeiten. Die fünfte Kanope fasst Hoden und nun raten Sie mal, welches Zeichen auf dieser Kanope eingemeißelt ist.“

„Thutmosis III.?“

„Prinzregent!“, antwortete der Professor. Hilflos starrte ich ihn an. Ein triumphierendes Lächeln zierte sein Gesicht. „Fassen wir die Tatsachen zusammen: Thutmosis herrschte zu Pharao Hatschepsuts Lebzeiten, welche den Thronnamen Maatkare innehatte, als Prinzregent. Seine Mumie wurde ohne Hoden geborgen. Ich entdeckte eine Grabanlage, welche einem gewissen Pharao Maatkare geweiht worden ist. In diesem Grab fanden wir eine Kanope, auf welcher das Zeichen Prinzregent eingemeißelt worden ist. Eine Kanope, in welcher sich die Hoden eines Prinzregenten befinden. In Anbetracht dieser Fakten spekuliere ich, dass diese Grabanlage durchaus von Hatschepsut erbaut worden sein könnte. Irgendein treuer fanatischer Anhänger der Pharaonin muss nach Thutmosis Tod, dessen Kanope mit den Hoden in aller Stille entwendet und in die Grabanlage gebracht haben. Vielleicht ein heimlicher Geliebter, der den Tod seiner Angebeteten rächen wollte. Klingt doch romantisch.“

„Was ist mit dem Sarkophag? Die Kanopen stehen meist davor.“

„Das ist das Problem. Wir haben keinen gefunden.“

„Keine Mumie?“

Der Professor schüttelte den Kopf. „Kein Sarkophag – keine Mumie! Fast wie in Hatschepsuts offizieller Grabanlage. Dort fand man zwar keine Leiche, aber einen Sarkophag.“

„Das ist bemerkenswert.“

„Das, meine Liebe, ist mysteriös. Setzt man alle Fakten zusammen und interpretiert sie, dann spricht nur eines für den Tod der Pharaonin: die Tatsache, dass Thutmosis sie abgelöst hat. Betreibt man Haarspalterei, dann würde ich sagen, dass es keinerlei Beweise für Hatschepsuts Tod gibt. Nichts spricht dagegen, dass sie lebt.“

„Diese skandalöse Äußerung könnte von mir stammen. Wollen Sie mir vielleicht damit sagen, dass Sie glauben, dass die Pharaonin noch lebt?“

„Nein! Genaugenommen stammt die Haarspalterei von Justin. Er neigt zum Sarkasmus. Er warf mir diese Behauptung mit der Absicht, uns Archäologen lächerlich zu machen, an den Kopf. Aber in einem hat er recht. In Anbetracht der Jahrtausende muss man davon ausgehen, dass Hatschepsut tot ist und solange deren Mumie, die den endgültigen Beweis ihres Todes darstellt, nicht gefunden wird, stellt sich die Frage, ob sie tatsächlich existiert hat.“

„Sie hat existiert, dafür gibt es genug Hinterlassenschaften.“

„Kaum ein Vermächtnis trägt Ihren Namen, da Thutmosis nach seiner Thronbesteigung all ihre Namen löschen oder übermeißeln ließ.“

„Hatschepsut wird in unzähligen Kartuschen erwähnt und als Kind beschrieben.“

„Das ist richtig, aber ohne Leiche fehlt der endgültige Beweis.“

„Thutmosis könnte ihre Mumifizierung verhindert haben. Vielleicht ist ihr Körper irgendwo vermodert oder er hat ihren Leichnam den Krokodilen vorgeworfen.“

„Möglich, aber unwahrscheinlich.“

„Warum?“

„Erst nach der Bestattung, wenn der Pharao ins Totenreich übergetreten ist, kann ein Neuer den Thron besteigen.“

„Gut, wir haben eine Kanope mit Hoden und eine Grabanlage, welche Maatkare geweiht wurde.“

„Wir?“, fragte Bachmann und hob eine Augenbraue.

Ich zuckte zur Antwort mit den Schultern. „Ich bin arbeitslos, geben Sie mir einen Job.“

Professor Bachmann schlug begeistert in seine Hände. Er schien sich zu freuen. Ich verkniff mir ein Lächeln. Er sollte nicht dem Glauben verfallen, dass ich auf dieses absurde Abenteuer Lust hatte. „Wann kann es losgehen? Morgen?“

„Heute! Glauben Sie ernsthaft, ich würde heute noch in die Bibliothek zurückgehen, um aufzuräumen? Mein aufgeblasener Chef hat mir fristlos gekündigt, soll er doch das Chaos persönlich beseitigen!“

Der Professor lachte enthusiastisch auf. „So gefallen Sie mir! Justin wird sich die Zähne an Ihnen ausbeißen.“

Sofort verdüsterte sich meine Stimmung. „Auf ihn bin ich schon mal gespannt. Er hat was gut bei mir!“

„Das muss gefeiert werden. Ich lade Sie auf ein Abendessen ein und anschließend brechen wir auf!“

Plötzlich durchströmte mich eitler Sonnenschein. Zum ersten Mal seit meiner Hochzeit fühlte ich, wie Wärme sich in mir ausbreitete und mein Körper sich entspannte.

Gemeinsam mit Professor Bachmann stieß ich auf unsere gemeinschaftliche Zusammenarbeit an. Insgeheim befürchtete ich jedoch, dass die reibungslose Teamarbeit, wie sie mir von meinem neuen Chef garantiert wurde, nicht ganz so unkompliziert ablaufen würde. Ich spürte ein leises Brodeln unter meiner Haut. Dieser deutsche Journalist hatte mich als lächerlich hingestellt. Etwas, das ich nicht einfach ignorieren konnte. Denn vor einem halben Jahr hatte ich mir einen eisernen Grundsatz zugelegt: Niemand würde sich je wieder auf meine Kosten amüsieren!

Das leere Grab

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