Читать книгу Das verschwundene Gold. Der Frankfurter Fettmilch-Aufstand 1612-1616 - Astrid Keim - Страница 10
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ОглавлениеDie Stadt steht ganz im Zeichen der bevorstehenden Krönung. Zur Unterhaltung der Gäste gab es schon seit Tagen Umzüge, Empfänge, Maskenbälle und Festessen. Bei den Spielen durften auch die Bürger zuschauen. Viel Beifall bekam das Türkenkopfrennen, bei dem Reiter versuchten, mit Degen und Lanzen nachgebildete Türkenköpfe zu treffen, aber auch beim Fischerstechen war die Begeisterung groß. Anfeuerungsrufe erschallten von beiden Ufern über das Wasser, als sich die Mannschaften zweier Schiffe mit Stangen bemühten, den Gegner in den Main zu stoßen.
Auf das Turnier der Adels- und Patrizierhäuser auf dem Rossmarkt hatten sich die älteren Söhne schon lange vorbereitet. Farbenfroh aufgeputzt mit edlen Pferden, so waren sie angetreten, um ihre Geschicklichkeit zu beweisen. Möglichst viele aufgehängte kleine Ringe sollten mit der Lanze eingefangen werden. Dem Sieger überreichte die zukünftige Kaiserin persönlich eine silberne Schale.
Vorige Nacht wurde am Hafen ein Feuerwerk gezündet und wider Erwarten hatte Frau Straub Martin angeboten, sie und Lene dorthin zu begleiten. Als männlichen Schutz sozusagen, wie sie lächelnd bemerkte, denn ihr Mann müsse im Christophel die Stellung halten. Um ihnen das Gedränge zu ersparen, habe er bereits vor Wochen ein Fenster im Brückenhaus für einen ordentlichen Batzen Geld angemietet.
Wenn Martin daran zurückdenkt, ist er immer noch voller Staunen. Auch die Älteren erzählten, dass es landauf, landab noch nie so ein Spektakel gegeben hätte. Mitten im Main auf einem verankerten Floß stand ein hölzernes Schloss mit Feuerwerkskörpern befüllt, die von zwei Booten aus mit Lunten gezündet wurden. Unter ohrenbetäubendem Krachen explodierten sie am Himmel, und Kaskaden von bunten Sternen sanken herunter, die Nacht wurde zum Tag.
Jetzt ist er endlich gekommen, der große Tag der Krönung. Man schreibt den 17. Juni 1612 und es ist Kaiserwetter in Frankfurt. Die Sonne strahlt vom wolkenlosen Himmel, in jeder Hecke, in jedem Baum zwitschert es, Mauersegler jagen in pfeilschnellem Flug nach Insekten für ihre Brut, auch einige Schwalben. Ihre Nester werden an den öffentlichen Gebäuden nicht geduldet und auch von den Bewohnern der vorkragenden Fachwerkhäuser nur ungern gesehen. Auf dem Land dagegen gelten Schwalben als Glücksbringer, sie halten die Ställe von Ungeziefer rein.
Die Stadt hat sich herausgeputzt. Alle Häuser sind mit Birkengrün geschmückt, der Unrat ist von den Straßen verschwunden. Die Tore der Judengasse sind verschlossen. Den Bewohnern ist es untersagt, an den Feierlichkeiten teilzunehmen. Auf der Schirn mussten die Metzger schon lange vor Mittag ihre Stände schließen, stinkende Haufen von Fleischabfall, verkrustetes Blut und Blutrinnsale entfernen. Den Fuldern, aus der Fuldaer Rhön stammende Tagelöhnern, viele von ihnen grobschlächtige und rauflustige Gesellen, die sich gewöhnlich auf dem Dallesplatz am Ende der Zeil auf Handschlag vermieten, ist schon seit einer Woche der Aufenthalt verboten, um Pöbeleien zu verhindern.
Vor dem Rathaus wurde bereits im Morgengrauen ein großer Haferberg aufgeschüttet, von dem sich später jeder bedienen kann, daneben steht eine Holzhütte, in der sich ein mächtiger Ochse am Spieß dreht. Vor zwei Tagen wurde er mit vergoldeten Hörnern, einem Kranz um den Hals und goldener Decke von den Metzgern durch die Gassen geführt und dann geschlachtet. Jeweils zwei Männer aus der Zunft der Weinschröter, muskelbepackt vom Transport der schweren Fässer, bedienen die großen Handkurbeln in Schichten. So ehrenvoll diese Arbeit, so anstrengend ist sie auch. Ihre nackten Oberkörper glänzen vor Schweiß, und Schweiß rinnt über ihre Gesichter. Sie erheben Anspruch auf die besten Stücke, genauso wie die Metzger. Man erzählt sich, dass die beiden Zünfte schon mehrmals aneinandergeraten sind, regelrechte Kämpfe austrugen, bei denen es zu vielen Verletzten, sogar Toten kam. Um das zu verhindern, ist die Schweizer Garde der Kurfürsten von Mainz und Sachsen zum Schutz aufmarschiert.
Trotzdem haben sich um die Hütte bereits hungrige Mäuler versammelt, vor allem Kinder von Tagelöhnern, barfuß und in löchriger Kleidung, die den Beginn des Festschmauses nicht erwarten können. Der Duft ist zu betörend und man weiß, dass im Inneren des prallen Leibes ein Kalb, ein Schwein und mehrere Arten von Geflügel versteckt sind. Die Vorfreude auf diese Herrlichkeiten steht in ihren glänzenden Augen, auch wenn es nicht sicher ist, ob jeder etwas abbekommt.
Martin und Hans haben sich bereits vor Stunden Plätze in der Nähe des Römerportals gesichert. Dieses Ereignis wollen sie hautnah verfolgen, wer weiß, wann die nächste Kaiserkrönung stattfindet. Auch ihre Väter sind gekommen. Wie alle Zunftmeister wurden sie zur Festlichkeit einbestellt. Schon seit Tagen bedrängten ihre Söhne sie um Erlaubnis, ebenfalls teilnehmen zu dürfen, und erhielten sie mit der strikten Anweisung, sich beim kleinsten Anzeichen beginnender Auseinandersetzungen aus dem Staub zu machen. Obwohl die Bürgerschaft in Feststimmung ist, kann doch nicht ausgeschlossen werden, dass Unruhestifter versuchen Schlägereien anzuzetteln, um ihr Mütchen zu kühlen.
Gern hätte Martin Lene dabeigehabt. Im Notfall hätte er sie beschützen können, davon ist er überzeugt. Doch seine zaghafte Anfrage wies Frau Straub entschieden zurück. Sie behandelt ihre Nichte wie ihr eigenes Kind, liebevoll und mit sehr wachsamem Auge. Kein Gast würde es wagen, dem Mädchen im Wirtshaus zu nahe zu treten, nicht nur in Hinsicht auf das scharfe Mundwerk der Hausherrin, mehr noch wegen der Drohung eines Hausverbots. Die Schankmädchen allerdings nehmen die Derbheiten und Anzüglichkeiten mit stoischer Gelassenheit hin, in Erwartung eines ordentlichen Trinkgelds. Und im Wissen, dass die Wirtin eingreift, wenn die Übergriffigkeiten zu weit gehen.
Was sollen die Leute denken, hielt sie Martin vor, wenn Lene allein mit einem jungen Mann gesehen werde? Außerdem, eine ehrbare Jungfrau in einer Menschenansammlung, das gehöre sich nun wirklich nicht.
Immerhin nicht Junge, sondern junger Mann, hatte Martin mit einem Anflug von Befriedigung registriert, bevor er den nächsten Rüffel einstecken musste. Ob ihm denn nicht klar sei, dass es an diesen Tagen im Großen Christophel drunter und drüber geht? Da könne man keine Hand entbehren.
Das saß. Martin hatte sich kleinlaut davongemacht, ärgerlich über sich selbst, weil er diese naheliegenden Dinge außer Acht ließ. So etwas würde ihm nicht mehr passieren.
Der Römerplatz füllt sich mehr und mehr. Ein niedriger Holzsteg aus vorgefertigten Teilen ist vom Rathaus bis zum Dom verlegt. Bewaffnete Söldner haben zu beiden Seiten Stellung bezogen, damit er nicht von Dieben gleich wieder abgebaut wird. Weitere kommen hinzu, als Ballen kostbaren roten Tuches darauf ausgerollt werden, um zu verhindern, dass es nicht zerschnitten und geraubt würde, bevor das Kaiserpaar auch nur einen Fuß darauf gesetzt hätte wie bei früheren Gelegenheiten. Die Leute werden sich bis zum Ende des Schauspiels gedulden müssen, denn danach sind Holz und Tuch freigegeben. Hans und Martin wurden von ihren Vätern vor der dann einsetzenden gnadenlosen Rauferei um diese Kostbarkeiten gewarnt, und mussten versprechen, sich nicht daran zu beteiligen.
Als sich die Türflügel des Rathauses endlich öffnen, bricht ein Sturm der Begeisterung los. Hurra- und Vivatrufe erschallen, die Glocken von Sankt Bartholomäus, der Nikolai- und der Leonhardskirche beginnen zu läuten. Mit unbedecktem Haupt als Zeichen der Achtung, schreiten die weltlichen Kurfürsten der Prozession voran. Es folgen der Erzschatzmeister mit der Reichskrone, der Erzkämmerer mit dem Szepter, der Erztruchsess mit dem Reichsapfel und der Erzmarschall mit dem blank gezogenen Reichsschwert. Unter einem purpurnen Baldachin treten nun Mathias von Habsburg und seine ihm angetraute Cousine, Erzherzogin Anna von Tirol, aus dem Römer, begleitet vom Hofstaat. Ein Gewühl entsteht, als mehrere Leute versuchen, das Gewand des Herrschers zu küssen, um damit Heil und Gesundheit durch die ihm innewohnende magische Kraft zu erlangen. Keinem gelingt es jedoch, sich durchzudrängen, die Leibgarde schirmt ihn rigoros ab.
Hans und Martin sind überwältigt von der Erscheinung des Herrscherpaares. Mathias hat bereits das Kaiserornat angelegt, Reichsapfel, Zepter und Krone wird er im Dom empfangen. Das Untergewand an dessen Seite sich ein kleiner Schlitz zum Betupfen des Leibes mit dem heiligen Öl befindet, verdeckt die Dalmatika. Sie liegt um die Schultern und wird über der Brust von einem Band gehalten. Ihre Ränder schmücken Rubine.
Die Pracht der Ausstattung seiner Gemahlin ist überwältigend. Ihre Halskrause ist nicht gefältelt, sondern die einzelnen Lagen der hauchfeinen Spitze biegen sich zart wie Schmetterlingsflügel ganz leicht nach oben. Das Kleid, aus silbergrauem, golddurchwirktem Damast gefertigt, ist übersät mit Perlen. Es sind Tausende, die vom engen, spitz zulaufenden Mieder, über ein senkrechtes Zierband bis zum Saum aufgenäht sind und den Rand des ausgestellten Rockes umlaufen. Die Ohren schmücken riesige Perlen in Tropfenform. Die beiden Freunde staunen mit offenem Mund und versuchen, sich alle Details zu merken, denn das haben sie den Schwestern versprochen.
Als sich die Ratsmitglieder in ihren besten Roben dem Zug anschließen, wird der Jubel leiser, ärgerliches Gemurmel macht sich breit und dann aus der Ecke der Tagelöhner deutlich hörbar: »Nieder mit den Pfeffersäcken!« Einem der Herren klatscht eine tote Ratte vor die Füße, einen anderen verfehlt ein fauliger Apfel um Haaresbreite. Sofort rücken die Söldner enger zusammen und greifen nach ihren Waffen. Sie versuchen, die Werfer auszumachen, aber von den Tätern fehlt jede Spur, die Menge hat sich vor ihnen geschlossen. Als wäre nichts geschehen, setzen wieder Hochrufe ein, die Bewaffneten schauen in harmlose Gesichter.
So kurz dieser Zwischenfall auch war, die Stimmung bleibt angespannt und kann jederzeit wieder kippen. Noch immer stehen die Söldner alarmiert dicht vor der Menge, noch immer sind die Musketen angelegt. In dieser brenzligen Situation löst sich Fettmilch aus den Reihen der Zunftmeister und tritt hinzu. Mit seinem dröhnenden Bass verschafft er sich Gehör.
»Ihr, hier vorne, gebt es nach hinten weiter. Bewahrt Ruhe, keine Beleidigungen und Tätlichkeiten mehr! Dies ist ein freudiger Anlass für unsere Stadt. Der Kaiser wird uns anhören und uns Gerechtigkeit verschaffen.« Und zum Hauptmann: »Ich bitte Euch, haltet Eure Männer zurück. Niemand hat Schaden genommen. Ich verbürge mich dafür, dass nichts mehr passiert.«
Der Söldnerführer zögert einen Moment und gibt den Befehl, die Waffen zu senken. Er geht auf Fettmilch zu und tippt ihm auf die Brust. »Ihr, Euch persönlich mache ich haftbar, wenn noch etwas geschieht, und sei es auch nur der kleinste Vorfall.«
Das war knapp. Fettmilch atmet auf und geht wieder an seinen Platz. Er kann nur hoffen, dass seine Worte Wirkung zeigen. So etwas darf nicht wieder vorkommen. Allzu gefährlich sind Provokationen, gerade jetzt nach Abgabe des Schreibens. Sie könnten als Vorwand dienen, Verhandlungen abzulehnen. Heute Abend noch muss ein Ausschuss mit offiziellem Sprecher gebildet werden, der das Vertrauen aller besitzt. Nur so können sie die Forderungen durchsetzen und Eigenmächtigkeit verhindern.