Читать книгу Das verschwundene Gold. Der Frankfurter Fettmilch-Aufstand 1612-1616 - Astrid Keim - Страница 4

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Auf der Brücke nach Sachsenhausen gibt es kein Fortkommen mehr. Von beiden Seiten drängeln sich zahlreiche Schaulustige. Auf der östlichen Seite haben Fischer ihre Nachen an zahlungskräftige Kunden vermietet, die das Geschehen hautnah mitverfolgen wollen. Es ist das Jahr 1612. Der frühe Morgen verspricht einen heißen Tag, ungewöhnlich für Ende April. Kein Lüftchen regt sich. Schweißgeruch überlagert die mannigfaltigen Ausdünstungen der zusammengepferchten Leiber. Martin Fettmilch hat sich mit seinem Freund Hans Gerngroß rechtzeitig auf den Weg gemacht, um einen guten Platz in der Nähe des Brückenturms zu ergattern, wo die zum Tode Verurteilten in Gesellschaft eines Geistlichen ihre letzten Stunden verbringen.

Die beiden Burschen könnten unterschiedlicher nicht sein. Martin ist groß und kräftig, mit blonden Haaren und hellen Augen, die fast ins Grünliche spielen. Während die breite, hohe Stirn und das ausgeprägte Kinn von Willensstärke sprechen, mildert der volle, geschwungene Mund diesen Eindruck. Unter der sanften jugendlichen Glätte dieses Gesichts, ahnt man bereits die kantigen Züge des erwachsenen Mannes.

Hans ist weniger hoch gewachsenen, aber von verblüffend gutem Aussehen. Himmelblaue Augen stehen in Kontrast zum dunkelbraunen Haar, das in Wellen über die Schultern fällt. Seine Erscheinung ist von geschmeidiger Schlankheit, und wären da nicht die kräftigen, von harter Arbeit zeugenden Hände, könnte man ihn für einen empfindsamen Poeten halten. Der einzige Schönheitsfehler sind seine schadhaften Zähne. Um die zu verbergen, hat er sich seit einiger Zeit angewöhnt, nicht herauszulachen, sondern mit geschlossenem Mund zu lächeln.

Die Freunde sind ohne Erlaubnis ihrer Väter hier, denn an diesem Tag soll ein Exempel statuiert werden, das diese nicht gutheißen. Ein Diener hatte beim letzten Festessen der adligen Gesellschaft Limpurg eine silberne Weinkanne mitgehen lassen. Es wurde kurzer Prozess gemacht und die Todesstrafe durch Ertrinken verhängt. Manche lachten über das feinsinnige Urteil. Andere konnten das nicht. Der Mann war bitterarm und wusste nicht, wie er das Überleben von Mutter und Schwester sichern sollte. Er sah den Überfluss, die hemmungslose Prasserei und griff zu, in der Hoffnung, es würde schon nicht auffallen.

Die Väter der beiden jungen Männer hatten ein gewisses Verständnis gezeigt, auch wenn sie die Tat selbst nicht billigten, denn die Abgabenlast wird mit jedem Jahr schlimmer. Die Frankfurter Bürger verelenden, während der Rat in Saus und Braus lebt. Früher konnte man von der Stadt für fünf Prozent Zinsen Geld leihen, aber seit einiger Zeit wird dies verweigert. Man muss sich von den Juden das nötige Geld beschaffen, zu einem wesentlich höheren Zinssatz. Wozu die Steuern verwendet werden, weiß keiner, es wird aber gemunkelt, dass büttenweise Gulden in die Judengasse geschafft und dort zu einem Zins von fünf Prozent angelegt werden. Obwohl der Magistrat also über Geld verfügt, profitieren die kleinen Leute nicht davon, im Gegenteil, die Abgaben werden so rigoros eingetrieben, dass nicht wenige im Schuldturm sitzen und ihre Familien vom Ruin bedroht sind.

Trotz alledem wollen die Freunde das Spektakel auf keinen Fall verpassen, wollen vor allem nicht behandelt werden wie kleine Kinder, denen vorgeschrieben wird, was sie zu tun oder zu lassen haben. Unter dem Vorwand, Besorgungen zu machen, haben sie sich davongestohlen. Bei vielköpfigen Familien gibt es immer etwas zu erledigen, und so schöpfte niemand Verdacht.

Das Schauspiel hat fliegende Händler angelockt, die Zuckerstangen und Salzgebäck feilbieten. Zauberer führen ihre Tricks auf, ein Hütchenspieler mit einem Frettchen an der Leine als Blickfang zieht den Leuten Geld aus der Tasche. Zwei Jongleure bringen das Publikum mit ihren Bällen und Ringen zum Staunen. Man plaudert miteinander und ist guter Dinge.

Als sich das Tor des mächtigen Turms öffnet, geht ein Raunen durch die Menge. Ein elendes Häuflein Mensch, das sich kaum auf den Beinen halten kann, gefesselt und mit einem Strick um den Hals blinzelt ins grelle Sonnenlicht. Sogleich bahnen Bewaffnete eine Schneise und räumen den Platz der Hinrichtungsstätte. Als der Weg frei ist, treten zwei Henkersknechte hinzu und schleifen ihn zur Mitte der Brücke. Robuste Männer sind es, mit speckigen Lederkollern, bauschigen, geschlitzten Kniehosen und Stülpstiefeln, deren erbarmungslosen Gesichtern man ansieht, dass sie dieses Handwerk nicht zum ersten Mal verrichten.

Hans zeigt zur Brückenmitte. Dort, wo das Wasser am tiefsten und die Strömung am stärksten ist, befindet sich ein Kreuz mit einem vergoldeten Hahn darauf. »Das hat mir mein Vater erklärt«, sagt er. »Das Kreuz steht für die Gnade, der Hahn für die Buße. So weiß jeder arme Sünder, dass es auch Hoffnung gibt, und kann seinem Ende gefasst entgegensehen.«

Martin hat Zweifel an dieser Aussage. »Gefasst? Das kann ich mir nicht vorstellen. Sieh dir den armen Teufel doch an. Der macht sich ja vor Angst in die Hose.«

Auch die Umstehenden haben es bemerkt, Gelächter und schadenfrohe Bemerkungen machen die Runde, aber auch eine andere Stimme erhebt sich. »Hohn und Spott, sonst habt ihr nichts übrig? Die Todesstrafe für ein wenig Silber, aus der Not genommen, um hungrige Mäuler zu stopfen, genommen von der Tafel eines Patriziers, dessen Truhen davon überquellen, ist das Gerechtigkeit?«

»Nein, das ist keine Gerechtigkeit«, ruft ein Tagelöhner mit gekrümmtem Rücken in löchriger Kleidung, »und deshalb bin ich gekommen, aus Mitleid, aus Anteilnahme, um mit Gebeten das Scheiden dieses armen Menschen zu begleiten.«

Zustimmende Rufe sind zu hören, sogar ein zögerliches Klatschen.

An diesen Aspekt hatten die beiden Freunde noch gar nicht gedacht. Aber doch, so kann man es auch sehen. Hans spricht es aus und grinst. »Eine gute Idee. Sollte uns jemand auf die Schliche kommen, können wir einfach sagen, wir wären aus Anteilnahme hier gewesen.«

Martin kraust die Stirn und wirft dem Gefährten einen schrägen Blick unter gesenkten Lidern zu. Die Worte der beiden Männer haben ihn nachdenklich gemacht. War das wirklich Gerechtigkeit? Die ganze Angelegenheit kommt ihm nicht mehr geheuer vor. Warum die Todesstrafe, warum nicht das übliche Abhacken der Hand? Er hätte auf den Vater hören und nicht hingehen sollen. Da seinen Freund jedoch keine Gewissensbisse zu plagen scheinen, behält er diese Gedanken für sich. Als Schwächling will er schließlich nicht gelten.

Er hält den Atem an, als die Schergen den halb ohnmächtigen, wimmernden Todeskandidaten grob packen und ihn mit gefesselten Händen und Füßen bäuchlings auf eine Planke legen. Der Pastor tritt hinzu, bittet Gott um Gnade für den armen Sünder und spricht ihm Mut zu. Nun waltet der wartende Henker in schwarzer Robe seines Amtes, befestigt die um den Hals liegende Schlinge an den Fußfesseln und schiebt das Brett über die Brüstung.

Martin wird flau im Magen. Ein Aufseufzen geht durch die Menge, dann beginnen einige zu klatschen. Der Jubel allerdings fällt verhaltener aus als sonst, wenn dem Gesetz Genüge getan wird. Ein Schatten hat sich über die Zuschauer gelegt. Von der Volksfeststimmung ist kaum noch etwas geblieben, die Menge beginnt, sich zu zerstreuen. Auch die beiden Freunde machen sich auf den Heimweg. Keiner spricht ein Wort, und Hans ist das Grinsen vergangen. Erst in der Nähe des Doms bricht er das Schweigen. »Ob er wohl schnell gestorben ist?«

»Hoffentlich. Wenn ihn die Strömung sofort auf den Grund gezogen hat, ist es bestimmt schnell gegangen. Wahrscheinlich wird er vom Wasser weggetragen. Vielleicht findet man ihn bei Höchst. Dort landen ja viele an. Dann braucht sich hier niemand um ihn zu kümmern.«

Hans nickt. »Das wäre dem Rat am liebsten. Wird er schnell ans Ufer getrieben, muss man ihn auf dem Schandfriedhof am Gutleuthof begraben. Das kostet Geld.«

Das verschwundene Gold. Der Frankfurter Fettmilch-Aufstand 1612-1616

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