Читать книгу Das verschwundene Gold. Der Frankfurter Fettmilch-Aufstand 1612-1616 - Astrid Keim - Страница 9

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Mathias, König von Böhmen und Ungarn, der künftige Kaiser, ist mit seiner Gemahlin in der Stadt eingetroffen. Überall wehen Fahnen der Habsburger mit dem schwarzen Doppeladler auf goldenem Grund, den Römer zieren die Fahnen der Stadt mit weißem Adler auf rotem Feld.

Auf dem Rossmarkt empfingen ihn kniend die Mitglieder des Rates und reichten ihm den Schädel des Heiligen Bartholomäus zum Kuss, bevor sie das Paar in den Römer geleiteten. Dort stehen repräsentative Räumlichkeiten zur Verfügung, wo sie ihrem Stand angemessen untergebracht werden können. Die sieben Kurfürsten sind schon ein paar Tage länger da. Ein langer Tross von Wagen mit sämtlichem Hausrat wurde ihnen vorausgeschickt, mit ihm Handwerker, Musiker, Lakaien, Reitknechte, Geistliche und Ärzte. Die Stadt ist zum Bersten voll. Jeder Kurfürst hat ein Gefolge, das in die Hunderte geht, darunter fünfzig Bewaffnete.

Heute, am 16. Mai des Jahres 1612, sind die Einwohner männlichen Geschlechts auf den Römerberg beordert, um ihren Eid vor der Krönung abzulegen. Nicht als Bürger, als Untertanen wurden sie vom Rat bezeichnet, eine Anmaßung, die heftigen Unmut, Versammlungen und Proteste hervorrief.

Vincenz Fettmilch steht, umgeben von seinen Freunden, vor dem Rathaus, um den Treueid abzulegen. Nach einem ausführlichen und sehr ernsten Gespräch hatte Martin das Vertrauen des Vaters gewonnen und durfte ihn begleiten. Er ist stolz darauf, dabei zu sein. Und auch stolz auf die stattliche Erscheinung des Vaters. Groß ist er und kräftig. Oberlippen- und Kinnbart sind sorgfältig gestutzt, das lockige, bis zu den Ohren reichende volle Haar lässt die gefurchte, energische Stirn frei. Die leicht hochgezogene rechte Augenbraue verleiht dem Gesicht einen skeptischen Ausdruck, der auch seinem Charakter entspricht. Den Hals umgibt eine vierlagige, blendend weiße Halskrause, jede Woche gewaschen, gestärkt und gebügelt von der Mutter. Ja, Sohn eines solchen Mannes zu sein, der in den Zünften großen Respekt genießt, um Rat gefragt wird, dessen Nähe alle suchen, ist ein großes Glück.

Die Stimmung ist verhalten und gleichzeitig angespannt. Keiner spricht laut, aber Gemurmel und Füßescharren sind zu hören. Als der Bürgermeister den Eid verliest, ist es mucksmäuschenstill.

»Wir, Bürger von Frankfurt, schwören bei Gott, dem Allmächtigen, dass wir die gnädigsten und durchlauchtigsten Kurfürsten insgemein und jeglichen schützen und schirmen wollen bei der Strafe des Meineids und Verlust aller Rechte, Freiheiten, Privilegien, Gnaden und Hulden.«

Gedämpftes Murren breitet sich aus, dann eine aufgeregte Stimme. »Warum wir? Sollen sie sich doch selbst schützen!«

Vincenz hebt den Arm, um sich Gehör zu verschaffen. »Den Treueid, ja, den Treueid, den müssen wir wohl leisten, so steht es in der Goldenen Bulle. Aber was ist mit unseren Privilegien? Man droht uns damit, sie aufzuheben, aber wir kennen unsere Privilegien überhaupt nicht. Man soll sie verlesen, dass wir wissen, was uns zusteht!«

»Richtig, Fettmilch, genau das wollen wir!«, schallt es aus der Versammlung und: »Wir sind freie Bürger und keine Untertanen!« Und: »Man behandelt uns wie Leibeigene ohne Rechte, das muss aufhören!«

Ein Altgeselle der Weber spuckt auf den Boden und deutet auf den Gerechtigkeitsbrunnen in der Mitte des Römerbergs. »Welch ein Hohn. Vor kaum einem Jahr wurde die Justitia aufgestellt, aber nicht sie, sondern die Herren im Rat bestimmen, was Gerechtigkeit ist. Die Schöffen von der ersten Bank, die Limpurger und Frauensteiner sprechen Recht, wie es ihnen gefällt. Und denen sollen wir jetzt auch noch Gehorsam schwören.«

Gewappnete, die sich bis jetzt im Hintergrund hielten, rücken näher, die Hände an den Waffen.

Nein, entscheidet Vincenz, jetzt ist nicht der richtige Augenblick, um Widerstand zu leisten. Eine Verhaftung zu riskieren, würde der Sache nichts nutzen. Er breitet beschwichtigend die Arme aus. »Wir werden uns dieser Dinge annehmen, wir werden unsere Privilegien einfordern. Wenn wir uns einig sind, können wir viel erreichen, aber den Eid müssen wir schwören, so ist es seit Jahrhunderten Brauch.«

Als sich die Versammlung auflöst, tritt auch Martin den Heimweg an. Lieber wäre er beim Vater geblieben, aber der hat Grenzen gesetzt, an den Beratungen darf er nicht teilnehmen. Zu schade, denn jetzt wird es erst richtig spannend. Sehnsüchtig folgen ihm seine Blicke, als er in Begleitung von Conrad Schopp, Conrad Gerngroß und Georg Ebel den Weg zum Hirschgraben nimmt. Dort bauten viele zu Wohlstand gekommene Handwerker vor einigen Jahrzehnten Häuser. Sie sind fast alle noch in Familienbesitz, aber die Instandhaltung ist schwer geworden. Selbst für dringende Reparaturen ist kein Geld da, und so muss man sich mit Behelfslösungen zufriedengeben. Auch Hermann Geiß wohnt dort mit seiner Familie, und bei ihm wollen sie ein Gesuch aufsetzen. Die Fertigkeit des Hausherrn als Schneider hatte ihm gutes Geld eingebracht, in der Werkstatt arbeiteten mehrere Gesellen. Heute ist es nur noch einer, der auf seine Bezahlung so manches Mal warten muss. Das Auskommen der Familie ist unsicher, sie leben von der Hand in den Mund.

Auch der Buchdrucker Johann Sauer stößt zu ihnen. Zu sechst sitzen sie am großen Tisch in der guten Stube. Sie haben Geld zusammengelegt und den ältesten Sohn der Familie losgeschickt, um zwei Kannen Wein zu holen. Etwas später hat jeder einen gefüllten Becher vor sich, doch kaum einer trinkt etwas. Sie wollen einen klaren Kopf behalten, vorerst zumindest. Vor Vincenz liegt Papier, daneben steht ein Tintenfass mit zugespitzter Feder. Er nimmt sie in die Hand und sieht seine Freunde an. »Was also sind unsere wichtigsten Forderungen an den Rat? Ich schreibe in Stichpunkten mit.«

»Unsere Privilegien sollen verlesen werden.« Als Erster meldet sich Gerngroß zu Wort. »Das müssten ja viele sein, wenn sie uns mit dem Verlust aller Rechte, Freiheiten und Gnaden drohen.«

»Jawohl«, unterstützt ihn der Hausherr. »Das ist der wichtigste Punkt. Außerdem müssen Steuern gesenkt werden, vor allem die auf Getreide und Wein, und auch das Wachtgeld. Früher haben wir Bürger unsere Stadt bewacht, jetzt sind für viel Geld Söldner angeworben worden. Warum? Traut der Rat uns nicht zu, selbst für Sicherheit zu sorgen, oder traut er uns etwa nicht? Sollen die Söldner vielleicht uns überwachen?«

»Gut gesprochen, Hermann.« Georg Ebel dreht das Ende seines feuerroten Bartes zwischen Daumen und Zeigefinger und nickt anerkennend. »Daran habe ich auch schon gedacht. Uns wird gesagt, die Stadtkasse sei leer, aber für dieses Pack ist Geld da. Woher kommt es, frage ich euch. Kaum einer von uns hat noch genügend Arbeit, und was wir verdienen, reicht nicht zum Leben.«

»Und als wäre das noch nicht genug, verliert auch noch das Geld an Wert.« Conrad Gerngroß zieht die Augenbrauen zusammen, sodass sich die Furchen auf seiner Stirn noch vertiefen. »Die ganze Stadt ist mit minderwertigen Münzen überschwemmt.«

»Aber die Steuer wird mit eiserner Hand in harter Währung eingetrieben«, ereifert sich Hermann Geiß.

»Genau.« Gerngroß fährt sich durchs schüttere Haar. »Fast jeder ist darauf angewiesen, sich etwas zu leihen, obwohl ihn die Zinsen erdrücken. Zwölf Prozent, das ist Wucher, die Juden saugen uns aus. Überall im Reich sind fünf Prozent üblich, nur nicht in Frankfurt. So geht das nicht weiter. Statt den Juden einen niedrigeren Satz vorzuschreiben, lässt der Rat es zu, dass wir ausgeplündert werden. Am besten, sie würden ganz vertrieben.«

»Du weißt, dass das nicht geht«, gibt Fettmilch zu bedenken. »Sie stehen unter kaiserlichem Schutz. Ihnen den Wucher zu verbieten, würde genügen, denn ansonsten lassen sie sich nichts zuschulden kommen.«

»Nun, nun, da hört man aber auch anderes.« Ebel will das Argument nicht gelten lassen. »Man munkelt, dass sie für ihre dunklen Bräuche christliche Kinder schlachten, um ihr Blut zu trinken. Außerdem sind sie hochmütig und sprechen von sich als Gottes auserwähltem Volk, obwohl sie doch die Mörder unseres Herrn sind. Das wird wohl keiner bestreiten.«

»Nein, dies Letzte will auch ich nicht bestreiten, aber alles andere halte ich für ausgemachten Unfug, denn einen Beweis dafür ist bis jetzt jeder schuldig geblieben.« Fettmilch klopft nachdrücklich mit dem Zeigefinger auf den Tisch, Ungeduld liegt in seiner Stimme. »Gerüchte sind Gerüchte und keine Wahrheiten.«

»Es sind aber zu viele, weit mehr als zweitausend«, beharrt Ebel, »dann soll wenigstens ihre Anzahl halbiert werden.«

Als die anderen zustimmend nicken, Gerngroß und Sauer, die besonders hohe Schulden vor sich herschieben, sogar Beifall klatschen, lenkt Fettmilch ein. »Gut, wir nehmen diesen Punkt auf. Gibt es weitere Vorschläge?«

»Ja«, Conrad Schopp meldet sich zu Wort. »Die Bauern sollen ihr Korn wie früher selbst in der Stadt verkaufen dürfen, dann regeln Angebot und Nachfrage den Preis, und nicht der Rat. Lasst uns die Einrichtung eines wöchentlichen Kornmarkts verlangen.«

Damit sind alle einverstanden. Fettmilch schreibt die aufgezählten Punkte ins Reine und liest sie noch einmal vor.

»Jetzt ist nur noch die Frage zu klären, wie wir das Gesuch formulieren. Sollen wir bitten oder fordern?« Schopp schaut in die Runde. »Was meint ihr?«

Gerngroß fährt auf. »Wieso bitten? Was Vincenz protokolliert hat, steht uns auch zu. Warum katzbuckeln um Selbstverständlichkeiten? Wir müssen Druck machen, sonst verschwindet die Eingabe im Abort.« Sein Gesicht rötet sich, er ballt die Hand zur Faust. »Es ist Zeit, die Karten auf den Tisch zu legen. Wir lassen uns nicht mehr länger belügen und hinhalten. Der Rat muss spüren, dass wir es ernst meinen.«

»Willst du ihm drohen?« Fettmilch runzelt die Stirn. »Das halte ich für keine gute Idee. Die Macht liegt im Römer, auch die Befehlsgewalt über Söldner und Büttel. Allzu leicht würden sie einen Anlass finden, sie auf uns zu hetzen. Vergiss nicht, wer das Sagen hat. Es sind die Adligen und Patrizier bei den Limpurgern und Frauensteinern. Die zwölf Zunftmeister auf der dritten Bank sitzen doch nur von ihren Gnaden im Rat. Auf sie ist kein Verlass.«

»Recht hast du«, springt Johann Sauer Fettmilch zur Seite. »Womit können wir denn schon drohen? Etwa mit Messern und Äxten? Die Musketen sind in den Händen der Söldner, und an die kommen wir nicht heran. Alle schweren Waffen liegen im Zeughaus. Der Zeugherr wird sie uns nicht aushändigen und wenn wir noch so schön darum bitten. Nein, so geht das nicht. Wir müssen nach einem Mittelweg suchen. Vielleicht«, er überlegt einen Moment, »würde es mehr bringen, wenn alle unser Schreiben bekommen würden: der Kaiser, die Kurfürsten und der Rat. Natürlich schreiben wir sie ihrem Rang gemäß an, aber mit gleichem Inhalt. Dann müssten sie sich damit auseinandersetzen, und wir könnten in wohlgesetzten Worten unser Begehren darlegen.«

»Ja, das könnten wir.« Gerngroß ist noch nicht überzeugt. »Aber reicht das aus? Der Rat hat uns als Untertanen bezeichnet, als Untertanen. So etwas gab es noch nie. Wir sind freie Bürger einer freien Reichsstadt und nur dem Kaiser untertan. Wenn wir uns allzu ehrerbietig zeigen, könnte das als Schwäche aufgefasst werden.«

Sauer widerspricht. »Wir werden unsere Forderungen ganz klar ausdrücken, aber die Form wahren. Wie wäre es mit folgendem Beginn? Wir, die freien Bürger der Stadt Frankfurt, bitten und begehren …, dann werden die Punkte aufgezählt.«

»Bravo.« Der Beifall kommt von Fettmilch. »Das halte ich für einen guten Mittelweg. Wie steht es mit dir, Hermann? Du hast dich bis jetzt zurückgehalten.«

Geiß nickt. »Einverstanden. Auch ich bin hin und her gerissen, denn wir haben Rechte, die uns verweigert werden, andererseits aber kein Druckmittel, um sie einzufordern. Probieren wir es also auf diese Weise. Wenn das nichts nützt, können wir uns immer noch andere Möglichkeiten überlegen. Es gibt viele, die unserer Meinung sind, aber wie viele werden wirklich hinter uns stehen, wenn es hart auf hart kommt?«

»Was der Allmächtige verhindern möge. Wer ist also dagegen?« Als sich keine Gegenstimme meldet, selbst Ebel sich jeden Kommentar verkneift, hebt Fettmilch seinen Becher und die Freunde tun es ihm nach. Sie stoßen an und alle nehmen einen tiefen Schluck. Die Spannung hat sich gelegt, sie sind zufrieden mit ihrem Werk. Fettmilch stellt seinen Becher zurück auf den Tisch. Er nimmt das Schreiben in die Hand und sieht seine Freunde feierlich an. »Bringen wir die Sache also auf den Weg.«

Das verschwundene Gold. Der Frankfurter Fettmilch-Aufstand 1612-1616

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