Читать книгу Völva - Wodans Seherinnen. Von keltischer Götterdämmerung 2 - Astrid Rauner - Страница 10
Die Sklavin
ОглавлениеLorn hatte Aigonn zugesagt, ihm so lange Gastfreundschaft zu gewähren, bis sich wenigstens die wieder angebrochenen Schneefälle legten oder eine der wenigen Handelszüge, die zu dieser Zeit ab und an noch gen Osten reisten, die kleine Fischersiedlung erreichten. Aigonn war somit zum Stillstand gezwungen. Gleichzeitig war er aber froh darüber, seit vielen Tagen das erste Mal zumindest wieder rasten zu können.
Im Gegenzug zu Lorns Angebot für Essen und Unterschlupf hatte er seinen eigenen Teil an Arbeit beizutragen. Im Winter fuhren die Fischer nur noch selten hinaus, sodass sich jegliche Arbeiten auf Holzhacken, Ausbesserung an Gebäuden und die Jagd letzter Wildtiere beschränkten. Die Verköstigung zeigte sich noch karger, als er es aus den Hungerwintern seiner Heimat gewöhnt war. Das schlechte Gewissen, von den Vorräten einer Familie, die ohnehin kaum etwas besaß, zu zehren, hatte ihn mit dem Gedanken spielen lassen, weiter zu ziehen. Das Wetter jedoch blieb so unbeständig, dass er es nicht wagte, sich von der Siedlung zu entfernen.
Aigonn erwachte am zweiten Tag nach seiner Ankunft früh. Das Tageslicht war kaum durch die Schlitze unter der Tür und den Windaugen zu erkennen, sodass lediglich das Herdfeuer rote Helligkeit spendete. Ihm war schleierhaft, was genau ihn geweckt hatte, doch obwohl er gerne die Augen geschlossen und weitergeschlafen hätte, schälte er sich vorsichtig aus seinen Decken und suchte sich seinen Weg durch das Zwielicht, da seine drückende Blase ein Weiterschlafen unmöglich machte. Die leisen Atemgeräusche, die das Haus erfüllten, zeugten davon, dass noch niemand sonst erwacht war – außer Lorn. Sein Lager neben dem von Naane war leer und zerwühlt.
Draußen erhob sich gerade die Sonne über den Horizont. Das Schneetreiben hatte nachgelassen, die dicken, weißen Wolken aber lagen noch immer wie eine Decke über weiten Teilen des Himmels und beschworen Dunstschleier über der nahen Heide. Im Dorf selbst waren erste Fischer erwacht. Ein kleiner Junge verteilte Heu an die Schafe in den Stallungen seiner Eltern und wurde bald auf Lorns Gast aufmerksam. Aus diesem Grund entschied Aigonn sich, noch ein Stück weiter in Richtung des lichten Moorwaldes zu laufen. Bis er sich erleichtert hatte vergingen nur wenige Momente. Gerade hatte er sich wieder dem Langhaus zuwenden wollen, als er auf einmal stutzte.
Aigonn fühlte ihn, bevor er ihn sah. Als hätte ihn eine eisige Hand an der Schulter berührt, fuhr er herum. Sein Blick wanderte zwischen den Bäumen umher, bis sich aus den Nebelschwaden eine Gestalt abzeichnete. Im ersten Moment hatte Aigonn den Gedanken, die Nebelfrau könnte ihm tatsächlich gefolgt sein. In Wahrheit aber war es nur ein Geist, der zwischen den Bäumen schwebte. Ein Geist, den er kannte.
Die sonderbare Frau, die ihm schon am vergangenen Morgen im Langhaus erschienen war, beobachtete ihn mit vielsagendem Blick. Ihr Mantel aus Erinnerungen schien selbst aus solcher Entfernung nach ihm langen zu wollen. Die Bilder folgten ihr wie Schatten von allen Seiten. Ihre Wucht hatte nicht nachgelassen, vielleicht sogar zugenommen, sodass Aigonn nicht wagte, auch nur einen Schritt näher an sie heranzugehen.
Einen Wimpernschlag lang schien die Zeit stillzustehen. Der Geist durchbohrte Aigonn mit seinem Blick. Augenblicklich jagte ihm ein Schauer den Rücken hinab, während er überlegte, ob es klüger war, abzuwarten oder die Flucht zu ergreifen. Dann auf einmal wandte die Gestalt sich ab. Ohne ein Signal, ein Wort, verblassten ihre Umrisse, während sie auf unsichtbaren Beinen in den Moorwald zu laufen schien.
Aigonn wusste nicht, was ihn antrieb. Vielleicht war es eine Torheit, die er später bereuen würde. Doch bevor er über sein Handeln nachdenken konnte, blickte er kurz nach beiden Seiten und folgte dem Geist in den Schatten der Bäume.
Der Wind hatte noch einmal aufgefrischt. Die kalte Brise, die das Meer über die nahe Küste schickte, fuhr Aigonn in jedes Glied. Er bereute es zutiefst, keinen Mantel mitgenommen zu haben. Doch je länger er über das Heidekraut lief und der vertraute Geruch nach Moder und totem Holz immer näher kam, desto mehr glaubte er, hätte ihm hier dicker Wollstoff auch nicht geholfen. Wie eine Blutspur lagen Erinnerungen auf dem Boden verteilt. Unwillkürlich fühlte Aigonn sich an die Seelen erinnert, die er in der Anderen Welt hatte beobachten können; die Bilderspuren, die jedem ihrer Schritte wie ein Schatten gefolgt waren.
Aigonn gab sich Mühe, die Bilder zu ignorieren. Er wusste, er würde sie in ihrer Intensität und Stärke nicht ertragen können. Doch so gut es ihm gelang, sie auszublenden, die Gefühle waren nicht zu übergehen. Sie schienen zu diesem Ort zu gehören. Gewalt, ein dumpfer Schmerz, der sich wie ein gestaltloses Tier um seinen Körper schlingen wollte. Die Verzweiflung kämpfte sich mit aller Kraft in seinen Kopf. Der Drang, einfach davonzurennen, stieg ins Unermessliche. Doch er konnte nicht. Er wollte nicht. Kein Ort war ihm bekannt, der so deutlich und ungedämpft die Erinnerungen eines Menschen bewahrte. Selbst wenn hunderte dahin geschlachteter Krieger unter dieser Erde begraben liegen würden, wären die Gefühle anders. Die Erinnerungen im Krieg Gefallener hatte Aigonn zu ertragen gelernt. Das hier aber war ihm fremd. Und eben diese Fremdartigkeit ließ es beinahe unheimlich werden.
Die Bilder gehörten ein und derselben Person. Aigonn konnte nicht genau sagen, woran er dies festmachte. Doch er wusste es, ohne Grund.
Als hätte jemand versucht, sein ganzes Gedächtnis an diesem Ort zurückzulassen.
Auf einmal blieb der Geist stehen. Auch wenn sein Gesicht im Zwielicht kaum zu erkennen war, fühlte Aigonn sich gemustert. Die Frau schien nicht zu wissen, wie sie sein Verhalten beurteilen sollte. Vielleicht überlegte sie, ob sie ihm etwas verraten konnte. Doch noch bevor Aigonn diese Vermutung bestätigt fand, hörte er es.
Ein Schreien, nein, im Grunde nur ein unterdrücktes, ersticktes Keuchen, das die Luft erfüllte. Aigonn brauchte einen kurzen Moment, bis ihm klar wurde, dass es keiner fremden Erinnerung entsprang, sondern real war. Noch bevor er hören konnte, aus welcher Richtung es kam, wurde es von einem tiefen Stöhnen unterbrochen, einmal nur. Heidekraut raschelte. Aigonn war so gefangen davon, sich auszumalen, was in diesem Moment gerade geschehen war, dass ihm gar nicht klar wurde, wie nah sich diese Szene abspielte. Der Geist blickte in seine Richtung, als wollte er sagen: „Verstehst du jetzt, was hier vor sich geht?“
Ohne nachzudenken, tat Aigonn einen Schritt nach vorn. Als er die Äste eines Strauches beiseite schob, enthüllte der Moorwald zwei Gestalten. Ein Mann lag schwer und mit heruntergelassener Hose auf einer Frau. Die zähflüssige, weiße Flüssigkeit, die zwischen ihrer beider Oberschenkel zu sehen war, ließ keinen Trugschluss zu, was vor kurzem an diesem Ort geschehen war. Als befremdlich empfand Aigonn nur die rötlichen Schlieren, die auf den Schenkeln der Frau zu sehen waren. Ihr Gesicht war für ihn nicht zu erkennen. Als sich aber im selben Moment der Mann des Beobachters bewusst aufrichtete und nach hinten blickte, wich Aigonn schnell hinter den Strauch zurück. Doch man hatte ihn längst entdeckt.
Im ersten Moment erschien Lorn einfach erstaunt. Als müsste er sich davon überzeugen, was Aigonn soeben gesehen hatte, blickte der alte Fischer erst an seinen Beinen und der entblößte Männlichkeit hinab, dann zu der Frau, die noch immer keuchend unter seinem Körper begraben schien. Erst jetzt erkannte Aigonn Tiuhild, die Sklavin, deren verbissener Gesichtsausdruck verriet, wie nah sie den Tränen war und wie viel Kraft sie aufbringen musste, um ihnen nicht freien Lauf zu lassen. Dann schien Lorn die Wut zu fassen.
Hastig sprang er auf und packte seinen Penis in die Hose zurück, während Aigonn endlich der Gedanke kam, vielleicht den Blick abzuwenden. Der jungen Frau, die immer noch mit bebendem Atem am Boden lag, schenkte Lorn keinen Blick mehr, bevor er durch die Sträucher stürzte und Aigonn an den Oberarmen packte. Er selbst war noch zu überrascht, um sich zu wehren, als Lorn ihn gegen den nächsten Stamm presste und auf einmal Zorn aus jeder seiner Poren zu dünsten schien, während ihm der Fischer ins Gesicht spuckte: „Was tust du hier?“
Aigonns Kopf suchte nach einer Antwort, doch bevor er den Mund öffnen konnte, hatte Lorn den Griff um seine Oberarme verstärkt und stieß Aigonns Kopf und Oberkörper unsanft gegen das Holz. „Du spionierst mir nach? Ich werde dir zeigen, was solchen geschieht, die ihre Neugierde nicht zügeln können.“
Seine Hand holte aus. Aigonn sah die Faust bereits auf sich niederrasen, als sein Mund, ohne vorher zu denken, endlich eine Antwort lieferte: „Haltet ein, bitte! Ich habe nicht spioniert! Ich musste …“
„WAS MUSSTEST DU?“
„Ich wollte mich nur erleichtern. Wirklich. Als ich aufwachte, wart Ihr bereits außer Haus. Ich hätte niemals geglaubt, Euch hier anzutreffen!“
Lorn hatte innegehalten. Der alte Fischer schien zu überlegen, ob er nicht seinen zuerst gefassten Gedanken ausführen sollte. Doch nachdem er noch einen kurzen Blick in Tiuhilds Richtung geworfen hatte, ließ er die Faust sinken und packte Aigonn stattdessen am Hemdkragen. Dieser wagte nicht zu atmen, als Lorn sagte, die Lippen so nah an seinem Gesicht, dass er den Speichel riechen konnte: „Ich rate dir, hör auf in meinen Angelegenheiten herumzuschnüffeln! Es braucht dich nicht zu interessieren, was ich mit meinem kleinen Pferdchen anstelle!“
Damit ließ er Aigonn fallen, der das Gleichgewicht verlor und zitternd den Baum als Stütze suchte. Ein letzter Blick von Lorns Seite her unterstützte die Drohung, bevor der Fischer sich umdrehte und in Richtung der Siedlung davonging.
Im ersten Moment kauerte Aigonn einfach nur da, musste verarbeiten, was er soeben gesehen hatte. Nach einer unbestimmten Zeit, stieß er sich ab und lief vorsichtig zu dem Platz, wo niedergedrücktes Moos und mit Samen besudeltes Laub verrieten, was vor kurzer Zeit hier geschehen war. Tiuhild hingegen war verschwunden.
Aigonn hatte sich Zeit gelassen, bis er Lorn zur Siedlung nachgefolgt war. Der Fischer hatte in den Stallungen, die nur durch eine hölzerne Gattertür vom Wohnbereich des Langhauses abgetrennt waren, begonnen, das Stroh der Kühe auszumisten und die in der Kälte dampfenden Fladen hinter dem Haus auf einem Haufen aufzuschichten. Er verlor kein Wort mehr an Aigonn. Auch nicht, als er ihm einige Zeit später einen Spaten reichte und ihm mit kurzen Gesten zu verstehen gab, ihm zur Hand zu gehen. Das Schweigen, das Aigonn somit den Morgen hindurch begleitete, steigerte seine Unbehaglichkeit. Er beneidete Rhaldar schier, der zusammen mit einigen anderen Bauern ins Moor hinausgelaufen war und nicht trotz Schnee und Kälte dazu verdammt wurde, dem finster dreinblickenden Bauern zu helfen.
Was die anderen Männer dort jedoch genau taten, erschloss sich Aigonn noch nicht. Hatte er sie bei ihrer Arbeit richtig beobachtet, stachen sie große Erdsoden aus dem Boden, die sie auf Karren luden, um sie in Schüben immer wieder zur Siedlung zu fahren und dort in Nebengebäuden zu lagern. Kopfschüttelnd hatte Aigonn bereits überlegt, ob sie die Erde den Tieren in den Stall legten. Wenig später war ihm allerdings aufgefallen, dass das Material, das Naane dem Herdfeuer nachlegte, ebenfalls Erde zu sein schien.
Vielleicht würde dieser Umstand auch den beißenden Geruch des Rauches erklären. Aigonn glaubte, sich daran zu erinnern, wie Naane von ihrem Heizmaterial als Torf gesprochen hatte. Er traute sich jedoch nicht, die Hausherrin oder ihren Ehemann dazu zu befragen.
Der wässrige Eintopf aus Bohnen und Kohl, zu dem Naane am Mittag getrockneten Fisch reichte, war nicht der beste, den Aigonn kannte. Er hatte auch mit dem Essen, das er zu Hause genossen hatte, nur durch die Zutaten Ähnlichkeiten. Dennoch brachte er endlich Wärme in den Tag. Aigonn versuchte, jeden Löffel zu genießen, als würde es der einzige Lichtblick bleiben, während Rhaldar heimgekehrt war und mit seiner Mutter und einer Ehefrau eine Diskussion angefacht hatte.
„Naane, Naane …“ Rhaldar hob beschwichtigend die Hände, während Lorns Frau begonnen hatte, fast aggressiv das landwirtschaftliche Konzept ihres Dorfes zu verteidigen. „Naane, ich habe nicht gesagt, dass Fischer keinen Acker und keine Tiere haben dürfen. Ich meine nur, dass es keinen Sinn macht, halbherzig einen winzigen Flecken Land zu bestellen, auf dem bei dem schlechten Wetter der vergangenen Jahre ohnehin praktisch nichts gewachsen ist, und dabei wertvolle Zeit zu vergeuden, in der man auf die See hinaus hätte fahren können. Wenn, dann solltet ihr eure Ackerflächen vergrößern, damit das, was ihr erntet, euch auch durch den Winter bringen kann. Es müssen ja nicht alle Männer in den Dörfern ihr Leben als Fischer verbringen. Weißt du, was ich meine?“
„Ich weiß, was du denkst, junger Mann!“ Naane ließ den Schopflöffel so grob in den Kessel zurückfallen, dass der Eintopf selbst bis an Aigonns Wange spritzte. „Aber seit Generationen haben noch alle Familien hier gefischt und Getreide angebaut. Gerade wegen der schlechten Witterung. Niemand wird sich bei diesen Bedingungen nur auf den Fischfang verlassen. Wenn nämlich die Ernte ausfällt, haben diese Familien gar nichts außer Fleisch vielleicht, wenn sie ihre Tiere schlachten. Jedenfalls werden sie nicht genug Getreide haben, um alle Fischer damit versorgen zu können. Was du vorhast, Rhaldar, gelingt vielleicht in deiner Heimat. Hundert Meilen im Landesinneren. Auf jeden Fall aber nicht an der Küste. Und schon gar nicht auf den Inseln.“
Rhaldar brauchte seine Zeit, bis ihm auf diese Entgegnung eine passende Antwort einfiel. Fast fühlte sich Aigonn an ein schmollendes Kind erinnert, als er die Arme vor der Brust verschränkte und trotzig einwarf: „Ich frage mich ohnehin, was euch an diesem Land hier liegt. Wenn das Wetter weiterhin so schlecht bleibt, würde ich mir einen neuen Ort zum Siedeln suchen. Die Stämme im Norden denken schon lange darüber nach. Von dem Fischfang allein könnt ihr doch nicht leben!“
„SCHLUSS JETZT DAMIT!“ Lorns energisches Eingreifen traf seinen Schwiegersohn so unvermutet, dass er beinahe einen Teil seiner Suppe verschüttet hätte. „Die Dinge laufen, wie sie seit Jahren verlaufen sind. Wie unsere Großväter, unsere Urgroßväter und deren Großväter gelebt haben. Wenn dir unsere Art zu leben nicht gefällt, solltest du deine Sachen packen und nach Hause ins Inland zurückkehren!“
Darauf erwiderte Rhaldar nichts mehr. Aigonn hatte aus dem Gespräch entnehmen können, dass Rinelda ihren Mann sehr bedrängt haben musste, nach der Heirat nicht ihm in seine Heimat folgen zu müssen, sondern stattdessen im Haus ihrer Eltern weiterleben zu können. Aigonn überlegte, ob Rhaldar im Moment diese Entscheidung bereute.
Als sich auf einmal im Viehstall etwas regte, das nicht zu den Kühen und Schafen gehören konnte, sahen die Bewohner des Hauses nur kurz auf. Aigonn spürte einen Herzschlag lang, wie sich sein Magen zusammenkrampfte, als Tiuhild zwischen den Kühen erschien. Unter dem Arm trug sie einen Korb, in dem sich noch Reste von Tierfutter verfangen hatten.
Sie sah nicht auf, als Naane ihr ebenfalls eine Schüssel mit Eintopf füllte und sie kritisierte: „Endlich kommst du auch! Was hast du die ganze Zeit im Stall gemacht?“
„Füttern.“ Die Blicke der Frauen trafen sich nur flüchtig. Tiuhild nahm ihre Schüssel und wollte sich bereits in eine der Ecken verziehen, als ein stummer Blick von Naanes Seite ihr zu verstehen gab, dass sie in dieser Runde zu bleiben hatte. Aigonn gewann den Eindruck, er hätte eben dies gerade nicht bemerken sollen. Die Hausherrin schien ihm ein Bild vermitteln zu wollen, das gewiss von der Realität abwich.
Tiuhild starrte während des Essens ununterbrochen auf ihr Geschirr. Im Grunde war es Aigonn nur recht, da Schuld in seinem Magen wuchs, je länger die Mahlzeit sich hinzog. Die Düsternis, die ihre Miene umfing, tilgte auch den letzten Zweifel daran, die Sklavin hätte sich Lorn unfreiwillig hingegeben. Auch wenn Aigonn sich fragte, was ihn das anging. Die Götter ließen eben geschehen, dass junge Mädchen ihr Leben verwirkten und zu Sklavinnen wurden – ob sie nun selbst dafür sorgten oder ihre Sippe. Nichts änderte sich, wenn er darüber jammerte, wie schlecht die Welt war!
Die Gespräche selbst verliefen sich schnell, sodass die Familie, ihre Dienstbotin und ihre Gäste schweigend beisammen saßen und wortlose Blicke tauschten, die manches Mal mehr verrieten, als Worte es hätten tun können. Nach einiger Zeit, als Rhaldar seinen Teller beinahe geleert hatte, wandte er sich an Aigonn: „Aigonn, Ihr erzähltet, Ihr wolltet noch weiter gen Norden, um die Hinterbliebenen eines Freundes zu suchen. Wo genau leben diese?“
„Warum fragt Ihr?“ Aigonn wusste nicht, was er davon halten sollte. Rhaldar hingegen lächelte gewinnbringend, als er den Hintergrund seiner Frage erläuterte: „Ihr müsst wissen, ich habe Kontakte in Richtung Norden. Händler. Vielleicht können wir Euch helfen, diesen Jemand zu finden, für den Ihr diesen weiten Weg auf Euch nehmt.“
Aigonn zögerte. Er fragte sich einen Moment lang, aus welchem Grund er Rhaldar in dieser Beziehung misstrauen sollte, doch auf eine gewisse Weise fühlte er sich nicht wohl dabei, als er antwortete: „Sein Stamm nannte sich Daukionen. Sehr viel mehr kann ich leider selber nicht darüber erzählen.“
Einen Herzschlag lang schien es, als stutzte Tiuhild, bevor Rhaldar nachdenklich den Mund verzog und anmerkte: „Ich nehme an, sie kommen aus Skandia, diesem Land jenseits der vielen Inseln, von dem viele sagen, es wäre selbst eine. Daukionen jedenfalls …“, er schmunzelte über den Namen, „… sind mir noch nie zu Ohren gekommen. Wer weiß, wie sie sich selbst nennen.“
Mit diesen Worten schenkte er sich Wasser nach und nahm einen tiefen Schluck, sodass ihm ein dünnes Rinnsal das Kinn hinablief.
Aigonn antwortete nichts mehr darauf. Obwohl er sich Mühe gab, Tiuhild nicht anzustarren, bemerkte er doch ab und an, wie sie ihm einen finsteren, verstohlenen Blick zuwarf. Dieser aber war zu kurz, um ihn wirklich deuten zu können.