Читать книгу Völva - Wodans Seherinnen. Von keltischer Götterdämmerung 2 - Astrid Rauner - Страница 11

Versammlung

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Der erste Glanz des Tages hing über der Wiese. Die Dämmerung brachte die feinen Eiskristalle der Schneedecke zum Glänzen, als würde ihnen nichts Gefährliches anhaften, nicht die drohende Gewissheit unzähliger Toter. Fast hätte Rowilan glauben können, die Zukunft würde Hoffnung bringen. Wie konnte ein solcher Morgen, der in hellen Gelb- und Rosétönen über dem entlaubten Wald hing, keine Hoffnung versprechen? Der Gedanke daran tat gut. Auch wenn er nicht recht daran glauben konnte.

Eines seiner Schafsfelle als Unterlage missbraucht saß Rowilan vor seinem Zelt unweit der ausgeglühten Feuerstelle. Die Hitze der Flammen hatte in der vergangenen Nacht Gras und Moos unter der Schneedecke freigelegt, sodass die weißen Eiskristalle, die nachgefallen waren, um die Zelte herum nur zwei Finger breit an Höhe gewonnen hatten.

Das Lager schlief noch. Die letzten Rufe der Waldkäuze waren die einzigen Antworten auf Rowilans unausgesprochene Gedanken, während der Wind in den Wipfeln sang. Ein Lied, dessen Inhalt der Schamane niemals gekannt hatte. So fein konnte er nicht hören.

Seit er kurz vor Sonnenaufgang erwacht war, versuchte Rowilan sich einzureden, dieser Tag würde gut werden. Die bewaldeten Silhouetten unzähliger Hügel verschmolzen vor ihm zu einem unebenen Horizont. Einer von ihnen war ihr Ziel, der Hohe Göttersitz. Sie waren ihm so nahe, dass es im Grunde gelohnt hätte, den Weg noch am gestrigen Abend zu Ende zu bringen und ihr Lager bereits im Schutze der anderen Krieger aufzuschlagen. Doch Rowilan hatte so weit nicht gehen wollen. Allmählich war er sich sicher, dass die Lage andere Mittel erforderte als eine friedvolle Versammlung wie aus älteren Tagen. Auch wenn er es kaum wagte, das Wort „Krieg“ nur zu denken, waren Fewiros und er doch auf gewisse Weise zu Rivalen geworden. Und Rowilan wollte sich die Chance nicht entgehen lassen, diesem allen Rückhalt seiner Fürsprecher im Sonnenlicht zu demonstrieren und nicht wie Flüchtlinge im Schutze aufziehender Dunkelheit anzukommen.

Zwei Raben jagten über den Himmel. Als stände den Bärenjägern wirklich eine Schlacht bevor, schienen sie nach neuen Opfern zu suchen, die bald mit Wode im Wilden Heer über den Himmel ziehen würden. Vielleicht würde es ein guter Tag werden. Vielleicht aber auch nicht.

„Du bist schon auf?“

Die Stimme schien nicht in diesen Moment zu gehören. Sie war zu real, zu sehr Teil der Wirklichkeit, sodass der Schamane zögerte, bis er sich umdrehte und Maelina neben sich stehen sah. Tiefe Schatten lagen unter ihren Augen. Schlafmangel hatte ihre Züge vertieft, sodass die Frau binnen einer Nacht um Jahre gealtert schien. Rowilan wusste nicht, was ihr die Ruhe raubte. Er zweifelte nicht daran, dass Brals Tante seine Sorgen um Fewiros und dessen Loyalität teilte, auch wenn sie offenkundig anderes behauptete. Dieser Moment erschien ihm jedoch nicht passend, um nach der Wahrheit zu bohren.

Ohne zu fragen, ließ Maelina sich neben dem Schamanen auf dem Schafsfell nieder. Sie musterte ihn, bevor sie sagte, was Rowilan längst gedacht hatte. „Du fürchtest die Möglichkeit, der Rat könnte dich Fewiros in der Wahl des Fürsten vorziehen, nicht wahr? Obwohl er längst zu deinem Rivalen geworden ist, fürchtest du den Sieg über ihn.“

„Ja.“ Warum sollte er lügen? Wer ihn kannte, hatte längst geahnt, was Rowilan seit Behlenos’ Tod wirklich beschäftigte. Und die Unwahrheit würde an Tatsachen doch nichts ändern.

„Warum willst du es dann auf dich nehmen, als Fürst unser Volk anzuführen? Es hätte andere gegeben, die gegen Fewiros in die Wahl hätten gehen können. Wenn du Nawos darum …“

„Nawos ist alt.“ Rowilans Blick verlor sich in der Ferne. „Vor zwanzig Jahren vielleicht hätte er den Bärenjägern eine gute Zukunft eröffnen können. Doch obwohl er es sich nicht anmerken lässt, werden die Götter wohl auch bald seine Seele fordern. Und dessen ist er sich bewusst.“

„Hast du ihn deshalb mit den Spähern reiten lassen?“

Nun wandte Rowilan sich um. Der leise Vorwurf in Maelinas Worten war nicht zu überhören. Hatte er seinen Freund und Berater wirklich in den Tod gehen lassen? Der Schreck überwog mit einem Mal alles, was ihn beschäftigt hatte. Rowilan wagte es kaum auszusprechen, als er fragte: „Gab es Nach…“

„Nein, keine Sorge. Ich weiß zwar nicht, ob es ein gutes Zeichen ist, aber bislang haben wir weder von Nawos noch von einem anderen Späher ein Lebenszeichen erhalten. Doch es sind auch keine Leichen gefunden worden.“

„Wir sollten dieses Schauspiel so schnell es geht hinter uns bringen.“ Die Bitterkeit war wieder zurückgekehrt. Auf einmal spürte Rowilan nur noch die Kälte des Morgens, keine Sonne, keinen Hoffnung verheißenden Glanz. Immerhin keine Leichen. Vielleicht war es Zeit, dass sie aufbrachen.

„Ich glaube, wir sollten das Lager wecken. Fewiros weiß sicher längst, dass wir hier sind. Wir sollten ihn nicht warten lassen.“ Damit erhob der Schamane sich. Er wartete darauf, dass die Frau es ihm nachtun würde, doch stattdessen blieb Maelina sitzen und sah von unten zu ihm hinauf. „Du fürchtest Fewiros. Du fürchtest, was er tun wird, wenn du dich gegen ihn durchsetzen kannst.“

Irgendetwas lag in ihrem Blick. Für einen kurzen Moment fühlte der Schamane fast Misstrauen in sich aufsteigen, bevor er derlei Gefühle beiseite schob und so kühl er konnte entgegnete: „Habe ich nicht das Recht, einen Mann zu fürchten, der uns mit all seinen Kriegern an einem Tag zu den Göttern schicken könnte?“ Darauf gab Maelina keine Antwort mehr. Er fühlte ihren Blick noch lange im Rücken, während er ins Zentrum des Lagers lief. Mit einer Geste gab er den Wachen zu verstehen, dass sie ihm behilflich sein sollten. Dann rief er so laut er konnte über das Lager: „AUFWACHEN!“

Die ersten, die aus ihren Zelten stürzten, schienen einen Angriff zu erwarten. Rowilan beruhigte sie schmunzelnd, bevor er das große Lagerfeuer anschürte und sich selbst ein karges Frühstück gönnte. Die Sonne hatte die Baumgrenze überwunden, bis die Bärenjäger sich wieder in Bewegung setzten. Als der Hohe Göttersitz schließlich zwischen Wipfeln und Hügelkuppen erschien, machte sich nervöse Beklemmung unter den Leuten breit. Rowilan war nicht wohl bei dem Gedanken, dass sich seine Sorgen wie ein Lauffeuer verbreitet zu haben schienen.

Es dauerte nicht mehr lange, bis erste Späher die große Gruppe erreichten, um sie bis zum Göttersitz zu begleiten. Der heilige Ort, der den Bärenjägern seit Generationen als Versammlungsort diente, stand unter dem Schutz einer ausgewählten Gruppe Menschen, die unweit in dieser Region siedelten und ihre eigene Höhenburg errichtet hatten, die Sicherheit garantierte. Als Tausch für dieses Privileg hatte keiner der Heerführer, Händler oder einflussreichen Männer und Frauen das Vorrecht, sich als Fürst zur Wahl stellen zu lassen.

Außer Rowilan und seinen Leuten schienen alle anderen Angehörigen des Stammes bereits angekommen zu sein. Ihr Lager schmiegte sich wie dünnes Tuch an den steilen Hang. Der Schamane flüsterte ehrfürchtig ein Gebet in den Wind, als er den riesigen Monolithen erkannte, der sich zwischen den Bäumen ausladend ausbreitete wie ein Tisch oder Thron. Ein Ort, der Göttern würdig war und damit dem heiligen Zweck ihres Besuches gerecht wurde.

Wie Rowilan vermutet hatte, erwartete Fewiros die Anreisenden, als wäre er Herr dieses Ortes und nicht Bittsteller der Ratsherren. Der Schamane ritt mit Maelina voraus. Wie von einer kalten Böe erfasst, begann sein Körper sich zu versteifen, als er die Gestalt von Behlenos’ Vetter ausmachen konnte. Er war ein Krieger, kaum älter als Rowilan selbst, doch als verfolge ihn eine unsichtbare Aura, fühlte der Schamane sich auf einmal in eine Spielfigur verwandelt. Er versteinerte auf dem Pferderücken zur Statue, während er auf Fewiros zuritt. Dieser selbst gab sich unbeeindruckt.

„Ich grüße dich, Rowilan!“

Steif glitt der Schamane von seinem Pferd. Als sein Gegenüber ihm die Hand reichte, erwiderte er diese Geste nur widerwillig. Für einen Herzschlag fragte er sich, was es war, das ihm an dieser Situation solche Angst einflößte. Womöglich war es wirklich die Aura dieses Kriegsherren, nichts Überirdisches, nur sein Charisma, das versprach, auf jedes seiner Worte Taten folgen zu lassen.

„Es freut mich, dass du dich doch dazu entschieden hast, meiner Einladung zu folgen. Der Bote hat mir berichtet, du warst von dieser Idee zunächst nicht angetan.“

„Ich bin es auch jetzt nicht. Der Winter ist keine gute Zeit für Reise und Versammlung. Es ist nicht ganz ohne Grund, dass wir diesen Ort im Frühling aufsuchen.“

Fewiros lächelte schwach. „Besondere Umstände erfordern nun mal besondere Ereignisse. Oder stimmst du mir nicht zu, dass die Führerlosigkeit unseres Stammes bald zur Gefahr werden könnte?“

„Sicherlich.“

„Dann wird es nur in deinem Sinne sein, wenn wir die Wahlen bald beginnen lassen. Ich habe mich mit den Schamanen bereits besprochen, dass wir die heiligen Rituale nicht länger als nötig in die Länge ziehen wollen.“

Rowilan versuchte ein Lächeln. Das überlegene Glänzen in Fewiros’ Augen verriet ihm zumindest, dass sein Kontrahent kaum Wert auf großes Schauspiel legte. Immerhin würde es schnell vorbei sein.

Rowilan und die anderen Angereisten seiner Siedlungen schlugen zunächst ihre Zelte auf. Die schweren Pfosten der eigentlich für den Krieg gedachten Unterkünfte mussten mit Hämmern in den gefrorenen Boden geschlagen werden. Es dauerte bis zum frühen Nachmittag, bis endlich das Lager bereitet war und auch die letzten Nachzügler Freunde und Bekannte der anderen Siedlungen begrüßen konnten. Rowilan wollte gerade beginnen, mit trockenem Brot und Pökelfleisch eine kleine Stärkung zu sich zu nehmen, als ihn auf einmal eine Frauenhand an der Schulter berührte. Im ersten Moment wollte der Schamane nicht glauben, was er vor sich sah. Wären es nicht immer noch dieselben warmen, grünen Augen, die ihn mit einem traurigen Lächeln begrüßten, hätte er eine Fremde vor sich geglaubt.

„Krilia.“ Seine Stimme enttarnte die Zweifel, denen die Begrüßte mit noch bekümmerterem Lächeln antwortete.

„Rowilan, ich habe gewusst, du würdest kommen.“ Die beiden Freunde nahmen sich kurz in den Arm, bevor der Schamane versonnen lächelte, noch immer von dem Anblick gefangen, an den er sich kaum gewöhnen konnte.

„Warum auch nicht?“

„Man hört viel üble Nachrede über dich. Fewiros hat sich alle Mühe gegeben, das Misstrauen in dich zu stärken. Es würde den Tag nicht besser machen, wenn ich die Details zu erläutern beginne.“

Das Lächeln schwand. Obgleich Rowilan erwartet hatte, dass sein Rivale jegliche Chance zur Festigung seiner Position nutzte, fühlte er sich nicht wohl dabei, derlei Berichte zu hören. Vermutungen waren nun Wirklichkeit. Er hatte die Zukunft erreicht, vor der er sich seit Monaten fürchtete.

In diesem Augenblick aber rückte selbst Fewiros an zweite Stelle. Obwohl es längst unhöflich auffallen musste, konnte Rowilan den Blick nicht von Krilias Körper nehmen. Behlenos’ Cousine, jene Frau, die im Sommer nach einem Überfall der Eichenleute als Bittstellerin in die Siedlung an der Rur gekommen war, um für Unterkunft für sie und die wenigen Überlebenden zu bitten, schien nicht mal ein Schatten von dem, was der Schamane in Erinnerung hatte. Die Ausstrahlung von Stärke und Autorität war nicht verloren gegangen, ihr ehemals muskulöser Körper aber schien in sich zusammengefallen zu sein. Das blanke Skelett schimmerte unter der seidig dünnen Haut hindurch, ein grotesker Widerspruch zu den blonden Haaren, die unwirklich lang und dick auf den pergamentenen Leib hinabfielen.

Aller Höflichkeit zum Trotz platzte die Frage aus ihm heraus: „Krilia, bei allen Göttern, was ist dir widerfahren? Eine Krankheit? Ich hoffe, dass es sich nur um eine Krankheit gehandelt hat. Wenn ein Fremder darin verschuldet ist …“

„Nein, nein!“ Krilia hob abwehrend die Hände. „Vor vielleicht einem Mondlauf hat es angefangen, dass die Leute in unserer Siedlung krank geworden sind. Die Götter wissen warum. Aber letztendlich schied auch ich jede meiner Mahlzeiten aus, fast wie ich sie zu mir genommen hatte. Die Schamanen haben schon geglaubt, die Götter wollten unsere Körper reinwaschen von irgendetwas nicht Erkennbarem. Doch so viel Wasser und Nahrung wie ich verlor, konnte ich gar nicht wieder zu mir nehmen. Dem Herrn des Lebens sei Dank, dass diese Tortur endlich ein Ende gefunden hat.“

Rowilan nickte mit verkniffenen Lippen. Jene Krankheit traf häufig die Überlebenden langer Kriege, als wollten die Götter sich noch weitere Opfer nehmen, die Schwert und Lanze verschont hatten. Es brauchte seine Zeit, bis er den Schreck über das Schicksal seiner Freundin verwunden hatte. Der Schamane setzte einen kleinen Kessel Tee auf, bevor seine Freundin das Gespräch wieder aufnahm.

Krilia selbst schien nicht weiter von ihrem Unheil sprechen zu wollen. Leichte Röte stieg in ihre Wangen, als sie von selbst zu berichten begann: „Wenn du hören könntest, was die Leute über dich sprechen, Rowilan! Fewiros hat sich größte Mühe gegeben, deine Autorität anzuzweifeln, ohne deinen Namen in Verruf zu bringen. Es macht sich bemerkbar, dass der größte Teil unseres Stammes seinem Schutz und dem Heil seiner Siedlung untersteht.“

„Es war zu erwarten gewesen.“ Rowilan rührte im Tee, ohne Krilia anzusehen.

„Sicher, ja. Aber meiner Meinung nach hat dieser Mann schon lange eine Grenze überschritten, die ihn zu anderen Zeiten den Kopf gekostet hätte. Du bist der höchste Schamane! Du erbittest auch sein Heil bei den Göttern. Zur Zeit unserer Väter wäre es niemals so weit gekommen!“

War dies ein Vorwurf an ihn selbst? Rowilan stand kaum der Sinn danach, solche Feinheiten zu ergründen. Vielleicht mochte er seine eigene Macht, die ihm als höchster Würdenträger seines Standes zustand, nicht angemessen ausspielen. Doch er empfand derlei Bewertungen nicht als Aufgabe anderer Siedlungsvorsteher.

„Hast du nichts dazu zu sagen?“

Rowilan sah auf. Auf der einen Seite beruhigte es ihn, dieselbe Natur in Krilia wiederzuerkennen, die er mit der Krankheit verletzt gefürchtet hatte. Doch andererseits fühlte er sich nicht in Stimmung, die immer selben Themen mit neuen Gesprächspartnern auszudiskutieren. Aus diesem Grund gab er zur Antwort: „Ich versuche, über den Dingen zu stehen. Wenn ich den Eindruck habe, es ist notwendig, den Menschen die Fähigkeiten eines höchsten Schamanen zu demonstrieren, werde ich es tun. Ansonsten betreffen mich bei dieser Versammlung andere Sorgen. Und ich gestehe, sie haben Priorität.“

Mit diesen Worten nahm er den kleinen Kessel vom Feuer und seihte den Tee in Tonbecher ab.

„Wirst du dich denn als Anwärter auf den Fürstentitel vorschlagen lassen?“

Rowilan stutzte. Als er Krilias Blick begegnete, las er aus ihm echten Zweifel, der unerwartet Wut in seinem Bauch aufkochen ließ. Welche Gerüchte hatte dieser Fewiros über ihn in die Welt gesetzt? Eine Stimme in seinem Hinterkopf mahnte ihn, dass er selbst keine vollends befriedigende Antwort auf diese Frage gefunden hatte. Doch abgesehen von Nawos und Maelina hatte er niemandem diese Unsicherheit vermitteln wollen. Seine Position, ob nun als zeitweiliger Stammesführer oder höchster Schamane, erlaubte ihm nicht, nach außen hin unsicher zu sein.

„Natürlich. Habe ich jetzt noch eine andere Wahl?“ Das Lächeln, das dieser Antwort folgte, sollte den Ernst seiner Wortwahl entschärfen. In Krilias Gesicht aber las er, dass ihm dies nicht gelungen war. Die aromatischen Kräuter des Tees verschufen dem Schamanen wohltuende Klärung, während allmählich Aufregung in ihm erwuchs. Es wurde Zeit. Ein Blick in Richtung des Monolithen, wo sich von Herzschlag zu Herzschlag mehr Menschen auf den Weg zur Hügelkuppe hinauf machten, bestärkte ihn in seiner Annahme, sodass er den Tee in drei großen Zügen leerte und Krilia anwies: „Sei mir nicht böse, aber ich sollte langsam aufbrechen. Auch wenn du noch Zeit hast, werden die Schamanen sicherlich bereits auf mich warten.“

Sie nickte zum Zeichen, dass sie verstanden hatte. Kurz darauf stand Rowilan in frischer Kleidung vor dem Göttersitz, den Blick ehrfürchtig gen Himmel gerichtet, während die Schamanen zu seinen Seiten undeutliche Worte in der alten Sprache murmelten. Noch die Ahnen ihrer Vorfahren hatten sie in dieses Land mitgebracht. Was früher die Worte aller gewesen waren, verwandelte sich nun mehr und mehr in ein Mysterium, dessen Wesen außer den Schamanen kaum ein Bärenjäger mehr ergründete. Und auf eine gewisse Weise beruhigte es Rowilan, dass außer ihnen kaum mehr jemand die Sprache verstand, mit welcher man auch die ältesten, verbliebenen Geister aus ihren Gräbern rufen konnte.

Ein leichter Händedruck gab dem Schamanen zu verstehen, dass es Zeit war. Er versuchte, das Zittern seiner Finger zu unterdrücken, indem er sie zur Faust ballte. Als er sich umdrehte, glitt sein Blick fast widerwillig über die gut und gern Tausend Menschen, die sich am Fuß des Monolithen versammelt hatten. Im Grunde kam er sich lächerlich vor. Vor ihm stand ein Ritual, das er so hunderte Male begangen hatte; vertraute Bewegungen, vertraute Eindrücke, vertraute Worte.

Dieses Mal aber ist es anders. Dieses Mal bin ich nicht nur der Schamane. Ich habe eine Schuld an einem alten Freund zu begleichen.

Die Schamanen neben Rowilan verstummten. Abendliche Dämmerung schimmerte bereits durch die Schneewolken am Horizont, während die Menge in erwartungsvolles Schweigen verfiel. Einmal holte Rowilan tief Luft. Dann tönte ein Schrei über die Menge, der sie alle mitriss wie ein Geist, ein göttlicher Spruch. Der Schamane fühlte seine Macht und ließ zu, dass er erschauerte – der Erinnerung willen, dass er sie nie kontrollieren würde.

„ARTOS!“

„ARTOS! ARTOS!“, fiel die Menge ein. Rowilan hatte die ausgebreiteten Arme Monolith und Himmel entgegen gereckt, während sich eine kaum erträgliche Präsenz über dem Felsen sammelte. Artos, der Geist des Bären, Sohn der Jagdgöttin Artio, Schutzherr ihres Stammes, hatte ihre Rufe vernommen. Nun hatte ein Ritual begonnen, dem sich keiner der Anwesenden mehr entziehen konnte.

Als die Ruhe auf den Platz zurückgekehrt war, glaubte Rowilan kurz, er würde zusammenbrechen. Der Schamane zu seiner Rechten versuchte, ihm durch eine Berührung Sicherheit zu geben, auch wenn Rowilan dessen eigene Verunsicherung aus dem Augenwinkel sehen konnte.

Es war seine Pflicht. Er musste sprechen.

„BRÜDER!“, begann er somit. „BRÜDER UND SCHWESTERN, Bärenjäger! Wir sind an diesem Ort zusammengekommen, weil die Götter Urteile fordern und Urteile geben werden! Eure Stimmen haben Artos gerufen und ich möchte euch sagen: Artos hat euch erhört!“

Zustimmender Jubel drang aus der Menge. Rowilan sandte ein Stoßgebet an den Schirmherren seines Stammes, dass ihn an diesen Tagen nicht die Kraft verlassen würde. Eine dumpfe Ahnung kämpfte sich ihren Weg tief aus seinem Innersten frei. Sie hatte weder Name noch Gesicht, doch plötzlich fürchtete Rowilan sich vor dem Ausgang dieser Versammlung, mehr als je zuvor.

Als lenkte eine fremde Macht seine Zunge, sprach er die rituellen Worte, die seinen Stamm aufforderten, die Geschenke an Artos zu bringen, die jeder Ratsversammlung vorausgingen. Die Siedlungen hatten einzeln aus der diesjährigen Ernte und den handwerklichen Errungenschaften ihrer Bewohner ausgewählt, was nun die höchsten der Dörfer auf Karren oder in Körben am Fuß des Monoliths niederlegten.

Fewiros begann die Prozedur mit einer kräftigen Kuh, fünf Schafen, Korn, Bier, Met und Goldschmuck. Nachdem die Gaben zu Boden gegangen waren, trafen sich einen Herzschlag lang die Blicke der Männer. Fewiros war sich seines kleinen Triumphes gewiss, als Maelina stellvertretend für Rowilan die Geschenke ihrer Siedlung vorbrachte. Der Krieg hatte die Vorräte praktisch aufgezehrt. Die Bauern hatten mit Schmerzen zwei Schweine und eines der Schafe entbehren können, was die Handwerker mit geschmiedeten Eisenwaren auszugleichen versucht hatten. Von Goldschmuck konnte nicht die Rede sein.

Krilia, als höchste ihrer Siedlung, hatte kaum mehr zu bieten im Gegensatz zum letzten Vorsprecher der vierten Höhenfestung. Rowilan segnete die Bittreden der Geber ab, bevor er die Stimme gen Himmel richtete. Es schauerte ihn ein weiteres Mal, als er sich der Aufmerksamkeit des Artos bewusst wurde. Die Schamanen an seiner Seite hatten getrocknete Kräuter in kleinen Tonschalen entzündet, deren scharfer Rauch Rowilan in der Nase brannte. Vielleicht hatten sie dieses Mal die Zusammensetzung verändert, vielleicht die Menge erhöht. Es dauerte nicht lange, bis Rowilan das Gefühl überkam, sein Gleichgewicht lasse ihn im Stich. Fast wurde es zum Gewaltakt, als er Artos entgegenrief: „ARTOS! Nimm diese, unsere ersten Opfer und wache über die Versammlung, auf dass Weisheit und Gerechtigkeit walte!“

Im selben Atemzug verfielen die Schamanen um ihn in einen rhythmischen Sprechgesang, dessen Echo aus den Mündern der Bärenjäger bis ins Tal hinab hallte. Wie in Trance brachte Rowilan das Ritual zu Ende, indem er als Kopf der Prozession den Monolith umrundete und dort, auf der anderen Seite des Hügels, einen bereits errichteten Scheiterhaufen entzündete.

Die Tiere schrien ängstlich, als sie den Rauch des Feuers riechen konnten. Rowilan gab sich Mühe, es so schnell wie möglich zu beenden und mit kurzen, gezielten Schnitten die Kehlen der Opfertiere zu durchtrennen. Rotes Leben dampfte in der kalten Abendluft. Unweigerlich fühlte der Schamane sich an das Ende einer Schlacht erinnert, wenn er als Heiler Leben zu retten anstatt zu nehmen hatte. Bilder kämpften sich aus seiner Erinnerung hervor. Obwohl er sich Mühe gab, bei der Sache zu bleiben, wichen sie auch nicht, als er mit den anderen Schamanen die noch warmen Kadaver mit den anderen Speisen den züngelnden Flammen übergab.

Es dauerte nicht lange, bis der Gestank nach verkohltem Fleisch den gesamten Waldrand erfüllte. Doch er gehörte zu diesem Ritual wie der Tod zum Leben. Eines war untrennbar mit dem anderen verbunden. Auch wenn Rowilan sich gern dagegen gewehrt hätte. Nachdem die ersten Opfertiere bis zur Unkenntlichkeit verbrannt waren, hatten die Schamanen bereits mit der Hilfe eines Schmieds die Schmiedegaben verbogen und somit für einen Menschen unbrauchbar gemacht. Sie sollten allein den Göttern dienen, woran sich dadurch nichts änderte. Kunstvolle Tontöpfe wurden auf dem Boden zerschlagen, bevor man ein Loch am Fuße des Göttersitzes aushob, es mit Rauch ausschwenkte und danach die Opfergaben darin vergrub.

Als die letzte Erde zurück an ihren ursprünglichen Platz gefallen war, atmete Rowilan unmerklich aus. Dieser Teil des Tages war vorüber. Nach seinen abschließenden Worten löste die Menschenmenge sich auf, um erst einmal – jedes Lager für sich – zum Essen zusammenzukommen, bevor die erste Versammlung zur Abenddämmerung zusammengerufen werden sollte.

Zurück in seinem Zelt sackte Rowilan in sich zusammen wie ein leeres Gewand. Während der Schamane ausgestreckt auf den Fellen seines Schlaflagers lag, kam er sich einen Moment lang furchtbar schwächlich vor. Mit jedem Atemzug mehr gewann sein Herzschlag an Kraft und Tempo. Heute Abend würde es beginnen. Obwohl er Behlenos versprochen hatte, sein Erbe an seiner statt weiterzuführen, wäre er gerne augenblicklich aufgesprungen, um nach Hause zu reiten. Es fühlte sich falsch an. Falsch, dass er als höchster Schamane auf einmal nach der Fürstenwürde langte. Der Kampf darum würde nicht einfach werden. Und einmal mehr fragte Rowilan sich, ob er dieser Aufgabe wirklich gewachsen war.

Als Maelina schließlich mit Bral das Zelt, das die drei Bärenjäger sich noch mit vier weiteren teilten, betrat und Rowilan frischen Eintopf brachte, rappelte der Schamane sich auf. Sinn hatte es ja doch keinen mehr, jetzt noch Gedanken an eine unmögliche Flucht zu verschwenden. Ein Zurück gab es nicht mehr.


Die Sonne war bereits düsterem Zwielicht gewichen, als Rowilan sich mit sämtlichen Angereisten aus seiner Siedlung auf den Weg zum Opferplatz machte. Zur Wahl des Fürsten berechtigt waren im Grunde alle Männer und Frauen, die durch eine Krieger- oder Frauenweihe in den Stand eines freien Erwachsenen erhoben worden waren – was Kinder, Halbwüchsige und Leibeigene ausschloss. Je nachdem, welche Themen weiterhin besprochen werden sollten, würden später noch andere, kleinere Räte tagen, wie es zum Beispiel im Kriegsfall üblich war, wenn die Entscheidungsgewalt der Dinge an Fürsten und Heerführern hing.

Der Opferplatz war nun am Abend mit dem roten Licht unzähliger Fackeln erhellt. Die zuckenden Flammen malten gespenstische Schatten in den Schnee. Große, mit Tierfellen geschmückte Banner markierten die einzelnen Siedlungen und waren im Viereck vor dem Monolithen in den gefrorenen Boden getrieben worden. Direkt am Fuß des Göttersitzes erwarteten bereits die Schirmherren des Versammlungsortes, die Siedlungshöchsten und die Schamanen, denen der Schutz über den heiligen Ort anvertraut worden war, die Ankommenden. Im Grunde hätte der Fürst der Bärenjäger und ihr oberster Schamane mit ihnen an dieser Stelle stehen müssen. Doch auch Rowilan entschied sich, seinen Platz am Banner seiner Siedlung einzunehmen und lediglich zwei Schritte davor, gut sichtbar für alle Anwesenden, den Beginn der Versammlung abzuwarten.

Es verging nicht mehr viel Zeit, bis einer der Schamanen am Fuße des Göttersitzes seine Hand erhob, was die umstehende Menge augenblicklich zum Schweigen brachte, und daraufhin das Wort an die Menschen richtete: „Freunde! Es freut mich, hiermit die erste Versammlung dieser Zusammenkunft eröffnen zu können, die immerhin die zweite in diesem Jahr ist und durch den bedauerlichen Tod unseres Fürsten Behlenos einen traurigen Anlass hat.“ Seine Hand formte beiläufig ein heiliges Zeichen vor seiner Brust, was ihm viele nachtaten.

„Doch wir wollen auch in die Zukunft sehen!“, fuhr er fort. „Und beginnen eben deshalb diese Versammlung mit der Wahl eines neuen Fürsten, auf dass übrige Urteilssprüche unter seinem Schutz gefällt werden können! So frage ich euch nun …“, sein Blick glitt bedeutungsschwer über die Anwesenden, „… wer von euch hat den Mut, die Weisheit und die Stärke, sich der Wahl seiner Brüder und Schwestern zu stellen?“

Fast als hätte man dieses Szenario schon dutzende Male zuvor eingeübt, ertönte auf einmal aus unzähligen Mündern ein und derselbe Name. „FEWIROS! FEWIROS!“ Die Erde erzitterte unter dem Aufstampfen von Füßen. Wer aus Fewiros’ Siedlung Bewaffnung mit sich trug, stieß Lanzenschäfte auf die gefrorene Erde oder schlug die flache Seite seiner Schwertklinge gegen den Schildrücken. Wie von diesem atemberaubenden Lied getragen, trat der Erwählte nun vor. Rowilan erwiderte das Blitzen in Fewiros’ Augen mit dem Versuch eines siegessicheren Lächelns, das jedoch zu einem freudlosen Lippenzucken verkümmerte. Voll Unruhe bemerkte er, wie auch aus den anderen Siedlungen Stimmen für seinen Rivalen laut wurden. Es war an der Zeit, dass nun auch seine Fürsprecher die Stimmen erhoben.

Maelina war die erste, deren Schrei über den Opferplatz gellte. Rowilan glaubte, alle Haare seines Körpers müssten zu Berge stehen, als seine gesamte Siedlung wie ein Echo einfiel. Kaum Zeit verging, bis auch unter Krilias Schutzbefohlenen Stimmen für ihn laut wurden und deren Schirmherrin ihm ebenfalls ein aufmunterndes Lächeln schenkte.

Auf einmal waren alle Zweifel des Tages vergessen. Wie ein Rausch erfasste ihn der derbe Sprechgesang, der wieder und wieder seinen Namen rezitierte und versuchte, die Rufe für Fewiros zu übertönen. Endlich gelang ihm das kampfeslustige Lächeln, während er sicheren Schrittes aus den Reihen seiner eigenen Leute heraus trat, Fewiros entgegen.

Der Heerführer erwartete ihn wie ein Kontrahent den anderen vor einem Gefecht auf Leben und Tod. Im Grunde war Fewiros keine imposante Gestalt. Einen halben Kopf kleiner als Rowilan war der Dreißigjährige eher drahtig als muskelgestählt. Sein feinzügiges Gesicht machte ihn ebenso wohl anzusehen wie Rowilan, konnte aber doch seine Verwandtschaft mit Behlenos nicht leugnen. Eben dies dämpfte die Stimmung des Schamanen schnell. Für einen kurzen Moment schien er seinem alten Freund entgegenzuschreiten, nicht dessen einst ärgstem Konkurrenten.

Nachdem die Schreie der Fürsprecher abgeklungen waren, herrschte einen Atemzug lang angespannte Stille auf der Lichtung. Nur im Fackelschein hätte Fewiros auch ein Geist sein können, eine dunkle Seele, die den Weg aus der Anderen Welt gefunden hatte, um ihn nun für sein vielfaches Versagen heimzusuchen. Es wird Zeit, dass du es gut machst, Rowilan. Diesmal wirst du nicht scheitern!

„Nun gut“, erhob der Schamane des Göttersitzes wieder seine Stimme. „Wie ich sehe, wollt Ihr, Rowilan, Euch wirklich der Wahl zum neuen Fürsten unseres Stammes stellen. Ist das richtig?“

„Ja.“ Rowilan löste bei dieser Antwort den Blick nicht von Fewiros.

„Gut. Dann entbinde ich Euch für diese Wahl von Euren Pflichten und Aufgaben als höchstem Schamanen, um der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Beginnt nun, Fewiros, Rowilan, eure eigenen Positionen vor allen offen darzulegen, um euren Brüdern und Schwestern die Entscheidung zu erleichtern.“

„Ich glaube, die Entscheidung wird leicht werden“, fiel Fewiros auf einmal dem Schamanen ins Wort. „Mich wundert nämlich, dass Ihr Rowilan in dieser Wahl überhaupt duldet.“

Überrascht hielt Rowilan die Luft an. Der Schamane des Göttersitzes zog erstaunt die Augenbrauen in die Höhe, um nachzuhaken: „Warum sollte ich es nicht? Rowilan ist ein freier Mann, von unserem Stamm geachtet. Er bringt zahlreiche Fürsprecher mit, die jetzt schon das Wort für ihn erheben. Was hindert ihn, Eurer Meinung nach daran, zu dieser Wahl anzutreten?“

Fewiros’ Augen glitzerten in gefährlichem Triumph. Sein Blick galt Rowilan, nicht dem anderen Schamanen, als er antwortete: „Sicherlich, Rowilan hat sich auf viele Weisen für unseren Stamm verdingt und trägt die Ehre dafür zu Recht. Doch sagtet Ihr nicht selbst, er ist unser höchster Schamane?“

„Diesen Titel wird ein anderer tragen, sollte die Wahl auf mich fallen!“, setzte Rowilan augenblicklich entgegen. Fewiros hingegen lächelte nur unentwegt, als spreche er mit einem dummen Kind und nicht mit einem ebenbürtigen Kontrahenten. „Es geht nicht um den Titel. Ihr, Rowilan, seid Schamane! Ihr seid mit einer Macht geboren worden, die den wenigsten von uns zuteil ist und Euch Möglichkeiten eröffnet, die unsereins niemals nutzen kann.“ Nun wandte er sich an die umstehende Menge. „Versteht ihr, was ich sage? Erwählt ihr Rowilan zum Fürsten, ist er Herrscher und Schamane an selber Stelle. Haben unsere Vorfahren nicht schon vor Jahrhunderten entschieden, die Macht zu teilen, sodass ein einziger niemals den Einfluss über Menschen und Geister so nah miteinander vereinen kann?“

Allmählich wurde auch die Menge unruhig. Hitzige Debatten entbrannten, während immer wieder Rufe zu den beiden Kontrahenten vordrangen, die entweder der einen oder anderen Seite Recht zusprachen. Rowilan für seinen Teil glaubte, vom Innersten her auseinanderzureißen. Sollte er bereits scheitern, bevor der Kampf begonnen hatte?

Seine Stimme klang nicht siegesgewiss, wie er erhofft hatte, als er der Menge und dem Vorstand der Versammlung versicherte: „Ich schwöre Euch in Artos’ Angesicht, dass ich meine Macht als Schamane nicht zum Missbrauch nutzen werde! Meine Fähigkeiten wurden mir mit meiner Geburt geschenkt und ich danke den Göttern noch heute dafür. Doch trotz allem bin ich der Ansicht, dass an dieser Stelle Vertrauen in mich und meine Talente als Anführer einer Gemeinschaft zur Entscheidung beitragen sollten und nicht das, wogegen ich mich niemals wehren konnte!“

„Richtig!“, tönte es von den Angereisten von Rowilans Siedlung. Und es machte dem Schamanen Mut, dass auch aus der Siedlung des Hohen Göttersitzes Zustimmung für ihn laut wurde. An der ersten Schmähung jedoch, die man Fewiros entgegen warf, erkannte der Schamane ausgerechnet Brals Stimme und wünschte sich in diesem Moment zutiefst, Maelina hätte ihren Neffen davon abgehalten. Fewiros für sich trug die Situation mit Fassung. Er hatte gerade den Mund geöffnet, um weiterzusprechen, als sich auf einmal aus seinen Reihen eine Stimme erhob, die sämtliche anderen verstummen ließ.

„Wenn ich mir erlauben dürfte, auch etwas dazu zu sagen!“

Alle Blicke waren auf Fewiros’ Banner und die umstehenden Bärenjäger gerichtet. An dieser Stelle teilte sich die Menge und ein hagerer Mann, weit jenseits der fünfzig, bahnte sich seinen Weg zum Platz der Redner. Welche Worte Rowilan sich auch immer zurechtgelegt hatte, die Entrüstung über das Erscheinen dieser Person wischte sie wie nichtige Phrasen beiseite. Wie stumm suchte er im ersten Moment nach Worten, bevor ihm entkam, was er Herzschläge später zutiefst bereute: „Verräter! Was hat dieser Mann hier verloren? Ihr paktiert mit denen, die Behlenos ermordet haben und habt dazu die Frechheit, sie mit zu unserer Stammesversammlung zu bringen?“

„Ihr nennt mich einen Verräter?“, donnerte Fewiros. „Im Gegensatz zu Euch habe ich mich um Frieden mit denen bemüht, die durch Euch auch einen Fürsten verloren haben, Rowilan! Behlenos ist gerächt worden! Ihr hattet Eure Rache!“

Obgleich Fewiros sein Gegenüber gerne zum Schweigen gebracht hätte, erzeugte er jedoch nur das Gegenteilige. Der Schamane war wie in Rage, als er seinem Rivalen ins Gesicht brüllte: „WER GLAUBT IHR EIGENTLICH, WER IHR SEID?“

Fewiros lächelte milde, während der alte Eichenmann an seine Seite trat. Die auffälligen Tätowierungen in seinem Gesicht, die er bisher unter einer Kapuze verborgen hatte, machten keinen Hehl daraus, welchem Stamm er angehörte. Und sein Gesicht verriet nicht die geringste Furcht, jene Menschen, die durch Krieger seines Volkes dutzende Angehörige verloren hatten, könnten offene Rache an ihm walten lassen.

Rowilan wollte ihnen bereits eine neue Anklage entgegenwerfen, als der Schamane des Hohen Göttersitzes ihn jäh zum Schweigen brachte. „Rowilan, mäßigt Euch!“, wies dieser ihn an, bevor er sich dem fremden Gast zuwandte. „Mein Herr Germos! Ich bin erstaunt, ausgerechnet Euch heute hier anzutreffen. Doch Euch dürfte sicherlich einleuchten, dass Ihr diesen Ort augenblicklich zu verlassen habt!“

„Wartet!“, wandte Fewiros ein. „Meine Herren, ich kenne die Gesetze dieses Ortes und seiner Versammlungen. Aber lasst mich somit gerade auf eines dieser zurückgreifen, indem ich Euch erinnere, dass Angehörige fremder Stämme als Zeugen durchaus das Recht zu sprechen haben.“

„Zeugen wofür?“ Rowilan kämpfte mit seiner Beherrschung. „Gibt es hier und jetzt ein Unrecht zu verhandeln?“

Das Lächeln kehrte in Fewiros’ Gesicht zurück, das Rowilan in diesem Moment hassen lernte. „Auf eine gewisse Weise ja. Habe ich es nicht ausführlich genug erläutert?“

Die Stimme des Eichenmannes Germos unterbrach die Auseinandersetzung, als er in Richtung der Versammlungsschirmherren fragte: „Ist es mir erlaubt, in dieser Angelegenheit – und nur dieser – mein eigenes Urteil offen darzulegen?“

Der Schamane des Göttersitzes wirkte nicht erfreut, doch mit einem ratsuchenden Blick an seinen Siedlungsvorsteher bekundete er widerwillig: „Ich kann nicht leugnen, dass ich mich noch immer Eurer Kunstfertigkeit als Schamane entsinne, auch wenn diese Tage längst hinter uns liegen. Wenn Ihr bereit seid, vor Artos, der mit weisem Blick jedes Eurer Worte prüfen wird, zu schwören, nichts als die Wahrheit ohne Häme und Hinterlist vorzubringen, so sprecht, was Ihr zu sagen habt!“

In dem Moment, als Germos den Schwur bekräftigte, erwartete Rowilan einen Herzschlag lang, ihn tot niederfallen zu sehen. Doch zu seinem Erstaunen geschah nichts dergleichen. Stattdessen machte der alte Schamane, dessen Gesicht Rowilan seit Kindertagen kannte, einen Schritt auf ihn zu und eröffnete der Menge: „Was ich einzuwenden habe, soll Fewiros’ Meinung unterstützen. Denn meine Anverwandten noch haben gesehen, was geschehen kann, wenn einem Schamanen die Macht übertragen wird, vor den Göttern allein im Krieg die Entscheidungen seines Volkes zu treffen. Denn wie viele von Euch noch wissen, hat auch mein Stamm vor vierzig Jahren etwa einem Schamanen, einem seherisch begabten Schamanen, die Macht verliehen, ihn durch einen Krieg zu führen. Seinen Namen werden die wenigsten noch kennen. Aber gewiss haben auch schon die Jüngsten Geschichten von dem Moorsänger gehört, der aus dem Norden zu uns kam und sich bei unserem Stamm niederließ.“

Rowilan schluckte hart. Der Moorsänger. Eigentlich hätte er ahnen können, dass dieses Beispiel ihm sinnbildlich das Genick würde brechen können. Auch er kannte die Geschichte. Jeder der Alten hier kannte sie, veranschaulichte sie doch in düsteren Bildern, wozu Macht verleiten konnte. Jedoch hatte sie nie recht in das Bild gepasst, das er von diesem Menschen vermittelt bekommen hatte. Außer vielleicht, dass auch er so menschlich gewesen war wie sie alle. Und dass auch ihm Fehler unterlaufen waren.

„Wir haben den Moorsänger ebenfalls nach dem plötzlichen Tod unseres damaligen Fürsten erwählt“, begann Germos zu erzählen, „weil wir seine Talente im Umgang mit Menschen schätzten, und lange Zeit hat er uns nicht enttäuscht. Als sich jedoch erste Entscheidungen seinerseits als falsch erwiesen, fürchtete er, die Kontrolle zu verlieren. Er duldete unsere Einsprüche nicht und begann zu drohen, gegen jeden Saboteur an seinen Plänen jene Kräfte zu richten, die ihn vor so vielen Stämmen berühmt und bekannt gemacht hatten. Zum Glück besann er sich, übergab kurz vor dem Ende einem anderen die Führung über die Krieger. Er war kein schlechter Mann. Doch sein Beispiel zeigt, wie menschlich nur solche Fehler sind, die ein furchtbares Ende hätten nehmen können.“

Um Rowilan herum war es nachdenklich still geworden. Eine Ader auf seiner Stirn hatte zu pochen begonnen. Ansonsten war er ruhig, unheimlich ruhig.

„Glaubt Ihr nicht, Germos, der Moorsänger hätte Euch jederzeit drohen können, ohne zum Fürst ernannt worden zu sein?“

„Und um wie viel schlimmer war es dann doch, dass sich beides vereinte?“, gab nun Fewiros zurück. Er tauschte einen kurzen Blick mit Germos, der sich langsam wieder hinter die Reihen der Banner zurückzog, bevor er seinen Worten hinzufügte: „Ich zweifele nicht an Eurer Aufrichtigkeit, Rowilan …“

Nein, wahrlich nicht, dachte sich dieser.

„… aber gerade Eure Menschlichkeit sorgt mich, wenn die Ehre des Fürsten an Euch fallen wird.“

Bitter setzte Rowilan nach: „Macht Ihr keine Fehler?“

„Genug jetzt!“ Der Schamane des Göttersitzes hatte die Hände erhoben, schüttelte jedoch immer wieder leicht mit dem Kopf, als wäre er sich in seiner Entscheidung noch unsicher. „Fewiros’ Argumente bezüglich Rowilans Stand als Schamane mögen ihre Richtigkeit haben, doch sie allein genügen mir nicht, um ihn von der Wahl zum Fürsten auszuschließen.“

„Wollt Ihr es etwa schweigend hinnehmen?“, gebärdete sich Fewiros. „Nein.“ Der Schamane tauschte einige unverständliche Worte mit den Männern zu seinen Seiten. „Die Götter werden entscheiden, ob Rowilan und Ihr befähigt seid, unseren Stamm durch diese schweren Zeiten zu führen. Artos verlangt ein Opfer! Wir rufen zur Schwarzen Jagd!“

„Was sagt Ihr?“ Rowilan traute seinen Ohren nicht. Perplex tauschte er erst einen Blick mit Fewiros, der nicht weniger erstaunt war als er selbst, dann mit Maelina, die entsetzt den Kopf schüttelte. Die Schwarze Jagd. Ein Gottesurteil. Eine Entscheidung, die in solchen Streitfällen üblich war. Nur schickte man meist einen Todgeweihten auf die Schwarze Jagd, sodass er sie als letzte Chance nutzen konnte, um sein Leben zu behalten. Es erforderte äußerstes Geschick überhaupt am Leben zu bleiben. Geschweige denn, dass daraus ein neuer Fürst hervorgehen sollte.

Ungeachtet des Entsetzens der Umstehenden fuhr der Schamane fort: „Morgen Abend zur Dämmerung werdet Ihr, Rowilan, und Ihr, Fewiros, ohne Panzerung zur Jagd auf den Bären aufbrechen. Ihr werdet ein Messer erhalten, ansonsten keinerlei Bewaffnung. Ein Mann, der der Ehre des Fürsten würdig ist, wird Artos bis zum Morgen ein Opfer bringen können. Sollte Rowilan in dieser Aufgabe bestehen, wissen wir, dass die Götter ihn als unseren Fürsten billigen werden.“

Rowilan schüttelte nur schweigend mit dem Kopf, während der Schamane die alles entscheidende Frage stellte: „Seid Ihr mit unserer Entscheidung einverstanden?“

„Ja“, war Rowilans Antwort. Und sie stimmte mit Fewiros’ überein. Gerade, als die Schirmherren der Versammlung diese schließen wollten, kämpfte sich plötzlich eine Frauenstimme durch das Gewirr erregter Auseinandersetzungen.

„Wartet!“ Rowilan hatte sich gerade zu Maelina umgewandt. Dieses eine Wort aber genügte, dass er sich erstaunt herumdrehte. „Wartet!“ Krilia trat hinter ihrem Banner auf den Rednerplatz vor. Rowilan glaubte zu hören, wie ihre Stimme unmerklich zitterte, als sie aussprach, was er nicht für möglich glaubte: „Auch ich erhebe Anspruch auf die Fürstenehre!“

„Was sagt Ihr?“ Fewiros war auf dem Absatz herumgefahren. „Ihr seid zu spät! Das Urteil der Versammlung ist gefallen!“

„Nein.“, erwiderte sie. „Ein Urteil mag gefallen sein. Aber jeder freie Bärenjäger hat das Recht, an einer noch nicht begonnenen Wahl teilzuhaben. Oder irre ich mich?“

Der Schamane des Göttersitzes sah fragend zu seinen Gehilfen, dann zu dem Höchsten seiner Siedlung, bevor er ihr zur Antwort gab: „Seid Ihr sicher, Krilia, dass Ihr mit Rowilan und Fewiros zur Schwarzen Jagd aufbrechen wollt?“

Sie nickte einmal fest. „Das bin ich.“

„Dann soll es so sein.“

Die Frau lächelte zufrieden. Noch während man ihr von allen Seiten unsichere Blicke zuwarf und gerade einer ihrer Vertrauten auf sie zukommen wollte, hatte Rowilan sich bereits den Weg zu ihr freigekämpft. Er spürte ihr unmerkliches Zittern, als er sie am Oberarm griff, die zarte Frau zu sich hindrehte und voll Entsetzen aussprach, was er dachte: „Bist du vom Wahnsinn besessen? Was hast du vor? Es gibt schönere Arten zu sterben, als sich von einem hungrigen Bären die Brust zerreißen zu lassen.“

Entrüstet entriss Krilia ihm ihren Arm. „Hältst du mich für eine solch schlechte Jägerin?“

„Ich zweifle an deiner Gesundheit!“ Rowilan konnte noch immer nicht glauben, was seine Freundin getan hatte. „Glaubst du dich wirklich fähig, einem Bären gegenübertreten zu können? Mit nichts als einem Messer?“

„Verstehst du denn nicht, um was es geht?“ Auf einmal erschlaffte Krilias Widerstand, worauf sie den jüngeren Mann am Arm fasste und ihn durch die Menschenmenge an den Rand des Opferplatzes zog. Im Schutze der Bäume zerbröckelte schließlich die standhafte Maske, hinter der sie sich die vergangenen Momente verborgen hatte. Echte Angst schimmerte in ihren Augen. Rowilan erkannte es selbst im Zwielicht der unweit entfernten Fackeln. Ihre Stimme hatte zu zittern begonnen, als sie ihm offenbarte: „Es ist eine nackte Torheit euch zur Fürstenwahl vor eine Probe zu stellen, die Verbrechern gebührt! Ich weiß nicht warum, aber … ich bin mir sicher, ein Opfer wird es geben. Irgendjemand wird zu Tode kommen; frag mich nicht, woher ich es weiß.“

„Möchtest du mich etwa beschützen?“

Krilia lächelte, wohl auch vor der Erkenntnis ihrer angegriffenen Gesundheit. „Vielleicht kann ich es. Sicher ist nur, dass auch ich Fewiros nicht als Fürst unseren Stamm anführen sehen will. Er ist Khomal in den vergangenen Jahren viel zu ähnlich geworden! Sollte nun – verzeih, dass ich es ausspreche – dir etwas zustoßen, kann immer noch ich weiterführen, was unsere Vorväter begonnen haben. In ihrem Sinne. Fewiros wird es nicht, das weiß ich. Er lechzt geradezu nach Veränderung! Und …“, bei diesen Worten senkte sie den Blick, „… sollte es mich treffen, kann ich damit vielleicht wirklich dein Leben schützen.“

Einen Moment lang fehlten Rowilan die Worte. Er hätte nicht erwartet, dass Krilia, die ihm zwar immer eine Freundin gewesen war, durch die Entfernung jedoch nie zu seinen engsten Vertrauten gehört hatte, für ihn dieses Opfer bringen würde. Ein trauriges Lächeln huschte über seine Lippen, bevor er fragte: „Warum tust du das?“

„Weil auch ihr, du und Behlenos, mir und meinen Leuten geholfen habt, als die Eichenleute uns jeglichen Unterschlupf genommen haben. Es waren auch meine Leute unter jenen, die ihr mit Aehrels Leben freikaufen wolltet. Fewiros hat nicht einmal einen Boten nach uns geschickt, um sich davon zu überzeugen, dass wir in Sicherheit sind. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten wir alle in den Totenfeuern des Krieges gebrannt, wenn wir nicht wie Bittsteller zu ihm gekrochen wären. Selbst da, ja nicht einmal dann, hat er Behlenos helfen wollen!“

„Sprich so etwas nicht aus“, ermahnte Rowilan sie. „Ich leugne keines deiner Worte. Aber jetzt, in unserer Lage, sollten wir kein böses Blut schüren. Auch eure Siedlung ist noch nicht für einen neuen Angriff gewappnet!“

„So schlecht siehst du also schon unsere Lage?“ Das Lächeln, das Krilia bei diesen Worten auf den Lippen trug, wollte nicht recht zum Ernst ihrer Frage passen. Rowilan hingegen lachte nur trocken. „Ich flüchte nicht vor der Realität.“

„Vielleicht sollten wir beide dann lieber hoffen, die morgige Nacht zu überleben!“

Völva - Wodans Seherinnen. Von keltischer Götterdämmerung 2

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