Читать книгу Völva - Wodans Seherinnen. Von keltischer Götterdämmerung 2 - Astrid Rauner - Страница 9
Vergangenes Leben
ОглавлениеDer Frost hatte den Boden erstarren lassen. Wie Scherben zerbrochener Gefäße bedeckten die von einer Reifschicht überzogenen Blätter die Erde und schienen mit dem Schnee den gewaltigen Grabhügel einem schützenden Mantel gleich umhüllen zu wollen.
Haelinon hatte die Augen geschlossen, während ihr Geist in den Wald hinaus lauschte. So kurz vor der Morgendämmerung verhallten noch die letzten Stimmen nächtlicher Jäger. Ein Kauz rief in der Ferne, während das Wolfsheulen, das sie die halbe Nacht lang begleitet hatte, immer leiser wurde. Der beginnende Winter war eine gefährliche Zeit, um die Dunkelheit ohne Feuer nur im Schutze der Bäume zu verbringen. Doch Haelinon hatte genügend Jahre Zeit gehabt, zu lernen sich selbst zu schützen, ohne einem der hungrigen Raubtiere Gewalt antun zu müssen.
Die junge Frau wusste nicht recht, warum genau sie am zurückliegenden Abend an diesen Ort gekommen war. Mit der Errichtung des Grabhügels war vor Jahrzehnten an dieser Stelle eine kleine Lichtung entstanden, welche die Natur seitdem langsam aber beständig für sich zurückeroberte. Unzählige Karren Erde hatten die Menschen über die unwegsamen Pfade an diesen Ort gebracht. Die Wurzeln der geschlagenen Bäume hatten so tief in den Boden gereicht, dass niemand den ernsthaften Versuch unternommen hatte, sie dem Erdreich zu entreißen. Wäre es nicht der ausdrückliche Wunsch des Toten gewesen, ihn abseits jeglicher Totenwiesen zu begraben, niemand hätte mitten im Wald in mühevoller Arbeit diesen Grabhügel errichtet. Haelinon selbst aber war froh darüber. Sie hätte sich nicht vorstellen können, wie seine Seele, einem gewöhnlichen Mann gleich, zwischen all den anderen Toten geweilt und dorthin zurückgekehrt wäre, wo er fremd gewesen war und auf gewisse Weise niemals willkommen.
Nun war dieser Ort ein einsamer Zufluchtsort, mitten im Wald und voll von Erinnerungen. Auch wenn Haelinon niemals die scharfen Sinne von Aigonn besessen hatte, fiel es ihr leicht, sich in der unglaublichen Bilderflut zu verlieren. Am Anfang hatten ihr Tränen in den Augen gestanden. So viel Vertrautes, so viele Erinnerungen, die auch die ihren waren und einen Teil dessen zurückbrachten, was der Tod ihr genommen hatte. Ein altes Leben kehrte stetig, aber sicher zu ihr zurück, während ein Geist schweigend neben ihr ausharrte und stummen Trost spendete.
Vater …
Der Moorsänger begann zu lächeln, als Haelinons Gedanken zu ihm zurückkehrten. Der blasse Schleier seiner Gestalt stand neben dem Grabhügel und musterte sie mit schwer deutbarem Blick. In dieser Nacht hatte er noch kein Wort mit ihr gesprochen, das hatte sein Geist schon früher nur selten getan. Seit seinem Tod. Der Gedanke daran, er könnte Zeit seines Lebens alles gesagt haben, beruhigte sie. Sein Ableben lag weit über vierzig Jahre zurück. Es tat gut zu wissen, dass er Frieden gefunden hatte, unabhängig von den Geschehnissen, die sich noch immer um seine Person spannen. Haelinon konnte nicht sagen, ob der Geist ihres Vaters ahnte, was sie dachte. Der scharfe Blick aber, den er ihr zuwarf, beunruhigte sie.
„Es geht um Aigonn“, flüsterte sie. „Nicht wahr? Er war hier. Er hat Spuren seiner Erinnerungen zurückgelassen. Was hat er gesucht?“
Ein Bild erschien vor Haelinons Augen. Eine Erinnerung, die Aigonn selbst entfallen war, die er hier zurückgelassen und damit für immer vergessen hatte. Es war ein Gespräch zwischen Rowilan und einem der anderen Männer der Siedlung, das er als Kind belauscht haben musste. Wie durch einen Schleier hindurch hörte Haelinon den Schamanen von ihrem Vater erzählen, seiner Herkunft, seiner Ausbildung, den falschen Namen Bathorald, den er sich unter diesen Menschen gegeben hatte, und irgendwann auch seinen richtigen, geheim gehaltenen. Alregard. Damit wurde ihr schweren Herzens bewusst, was sie längst geahnt hatte.
„Er ist wirklich nach Norden gegangen?“
Der Moorsänger nickte. Haelinon gestand sich ein, dass ihre Gedanken lange Zeit um andere Dinge gekreist waren. Seit der Sommersonnenwende hatten Aehrel und sie sich unablässig auf der Flucht befunden. Der Gedanke daran, dass Eichenleute ihnen genauso nachstellten wie die Bärenjäger, hatte sie weit nach Süden getrieben. Ein kleines Bauerngehöft hatte sie für Monate aufgenommen, bevor Haelinon zu ihrem eigenen Erstaunen ein Gefühl wie Heimweh überkommen hatte. Gemeinsam mit ihrem Sohn aus ihrem früheren Leben war sie in die Wälder unweit der Eichenfestung zurückgekehrt, wo sie sich eine Hütte errichtet hatten. Aehrel schien die Einsamkeit fast mehr zu genießen als sie selbst, doch Haelinon hatte gespürt, dass es an der Zeit war, wiederzufinden, was die löchrigen Erinnerungen an ihr früheres Leben füllen würde. Und bislang hatte das Grab ihres Vaters die größten Lücken ausgeglichen.
Seine Erinnerungen allein aber genügten nicht. Dafür hatte er ihr Leben viel zu früh verlassen. Bei seinem Tod war sie fast vierzig gewesen, reif für eine Frau dieser Tage, doch längst nicht am Ende angelangt. Haelinon spürte, dass ihr Vater ihre Gedanken erriet, als sie wieder jenen Punkt umkreisten, der sie seit der Erkenntnis über ihre Identität nicht wieder losgelassen hatte. Die Gerüchte, die ihr zu Ohren gekommen waren, hatten sie schockiert. Haelinon, das jüngste Kind des Moorsängers, sei ermordet worden. Sie selbst konnte es nicht sagen. Es trat häufig der Fall ein, dass gerade die letzten Erinnerungen eines Lebens im Körper des Toten zurückblieben. Zu frisch waren sie, zu wenig mit dem Geist und der Seele verankert. Wohl oder übel würde sie beginnen müssen, mit den Menschen zu sprechen.
„Du weißt es“, flüsterte sie ihrem Vater zu. „Du weißt, was geschehen ist. Wer mich getötet hat.“
Der Moorsänger schaute sie eindringlich an. Seine Präsenz flackerte kurz, bevor Haelinon auf einmal eine Stimme vernahm, die sie so seit Jahrzehnten nicht gehört hatte.
„Ich wusste es. Ich wusste vor langer Zeit so viel. Aber ich bin nur der Geist eines früheren Lebens, kein Mensch. Erinnerungen kehren zu mir nicht zurück, wie zu dir. Vielleicht werde ich dir helfen können, Kind, sobald du die richtige Spur gefunden hast.“
Haelinon lächelte. Nicht darüber, was er gesagt hatte, sondern über die ungeheure Vertrautheit, die dem Klang seiner Stimme anhaftete und Gefühle wiederkehren ließ, die sie in ihrem Alter verloren geglaubt hatte. Der Moorsänger lächelte. Für einen kurzen Moment verblasste seine Gestalt, bevor er an ihrer Seite erschien, den Schleier seiner Hand auf ihre Schulter legte und es Haelinon einen Augenblick lang so vorkam, als wäre er immer noch der, den sie einst ihren Vater genannt hatte. Nicht sein Geist allein, sondern der Moorsänger. Der Mensch.
Plötzlich verebbte das Gefühl. Haelinon benötigte einen Moment, um das Geräusch, das sie jäh aus ihren Gedanken gerissen hatte, als Hufschläge wahrzunehmen. Wenige Hufschläge, zu wenig für eine Herde von Wildpferden. Sie reagierte, bevor der Schreck sie erfasste. So schnell Haelinon konnte, stolperte sie hinter den nächsten Strauch. Augenblicklich hatte ihr Herz zu schlagen begonnen, als wäre sie meilenweit gerannt. Reiter. Sie kamen immer näher. Sollte man sie so nah an der Eichenfestung finden, würde man ihr Gesicht erkennen. Die Menschen erinnerten sich noch an sie, an Aigonn, daran, was mit Khomal geschehen war und an die vielen Geschichten, die lebendiger waren als die Realität.
Der Geist des Moorsängers war verschwunden, als sie ängstlich zwischen den Ästen hindurch schaute. Allmählich glaubte sie, die Reiter würden mit größerer Entfernung an ihr vorbeireiten. Doch noch bevor sie aufatmen konnte, sprengten plötzlich sechs Pferde auf die kleine Lichtung.
Sie wagte nicht zu atmen, so heftig traf sie die Erkenntnis, wen sie da vor sich sah. Die Reiter waren Eichenleute. Die großen, mit Waidblau auf die Flanken der Pferde gemalten Eichenblätter enttarnten sie sofort. Rituelle Bemalung, wie sie nur in härtesten Kriegszeiten benutzt wurde. Die Gesichter der Krieger konnte sie nicht erkennen, dafür blieb keine Zeit. Ihr Blick haftete auf den Gestalten, die blutverschmiert und gefesselt hinter den Reitern quer auf den Pferden lagen. Zwei waren reglos. Ein einziger schien noch bei Bewusstsein zu sein. Haelinon konnte es nicht sicher sagen, sie ritten zu schnell. Doch ein Gesicht, eines hatte sie erkannt. Es war Oran, Lhenias Vater. Seine starren, leblosen Augen schienen sie für weniger als einen Herzschlag zu streifen, bevor der Moment vorüberzog. Oran war tot.
Als die Reiter zwischen den Bäumen verschwunden waren, saß Haelinon fünf Atemzüge lang da, musste verdauen, was geschehen war. Es war Frieden zwischen Eichenleuten und Bärenjägern. Es war doch Frieden!
Sie konnte und wollte nicht mehr denken. Ohne recht zu wissen, was sie tat, spähte sie noch einmal nach allen Seiten. Dann sprang sie aus ihrem Versteck und rannte in den Wald hinein, den Reitern hinterher.