Читать книгу Völva - Wodans Seherinnen. Von keltischer Götterdämmerung 2 - Astrid Rauner - Страница 12

Der Klang der Verzweiflung

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Auch am kommenden Tag erwachte Aigonn früh, nur um festzustellen, dass weder Tiuhild noch Lorn wie die restlichen Bewohner des Langhauses auf ihren Schlaflagern lagen. Die Bewegung stach Aigonn wie eine Nadel, als er sich wieder auf die Seite drehte, dem Schatten der Wand entgegen. Nicht einmal Fantasie war nötig, um zu wissen, was in diesem Moment wohl der Sklavin widerfahren musste. Trotz aller Mühen rettete auch der Schlaf ihn nicht mehr vor seinem Gewissen.

Was ging ihn das eigentlich an? Es würde seinen Grund haben, dass Tiuhild ihre Freiheit verwirkt hatte. Bestimmt gab es genügend Gelegenheiten, aus einem so abgelegenen Dorf ein Pferd zu stehlen und auf Nimmerwiedersehen die Flucht zu ergreifen. Wohl hatte sie sich längst in dieses Schicksal gefügt. Es würde ja doch nur ihnen beiden zu Schaden sein, wenn Aigonn nun wirklich aufstand, um im Moor nach dieser Untat zu suchen. Diese Antwort gefiel ihm, auch wenn sie das Stechen nicht vertreiben konnte, das sein Gewissen mit feinen Nadeln in sein Fleisch zu treiben schien.

Der Schlaf kehrte nicht wieder. Die Sturmgeister hatten im hohen Dachstuhl zu heulen begonnen. Ihr schrilles Lied schien ein Echo der tosenden Stimme des Gottes zu sein, des Meeres.

Aigonn schauerte nunmehr bei dem Gedanken, diese Wasserflut überqueren zu wollen. Der kleinste Fehler, die geringste Unwissenheit konnte dort draußen, wo man den Elementen ausgeliefert war, das Leben kosten. Darüber hatte er in den vergangenen Tagen schon genügend Geschichten gehört. Der Gedanke an Wasser jedoch erinnerte Aigonn stetig daran, dass er eigentlich hatte aufstehen wollen. Doch er blieb liegen, ungeachtet seiner Blase. Er blieb liegen und wartete solange, bis sich erstes Leben in Lorns Haus regte. Es dauerte dann auch nicht mehr lang, bis Lorn sichtlich zufriedener als noch vor drei Tagen im Kreis seiner Familie erschien, um sein eigenes Frühstück einzunehmen. Er hatte sogar ein dankbares Lächeln für Aigonn übrig, als dieser ihm zusagte, beim Stallausmisten zu helfen.

Die Arbeit an sich begleiteten jedoch weniger Gespräche, als Aigonn gehofft hatte. Obgleich Lorn hie und da eine Anekdote beizutragen hatte und Rhaldar vom Langhaus aus seinen jungen Gast stetig nach Details seiner Heimat ausfragte, musste der Hausherr immer wieder innehalten, um nach Luft zu schnappen. Einmal zögerte selbst Naane, ob sie ihrem Mann zur Hilfe kommen sollte, als dieser auf eine Mistgabel gestützt stehen blieb und so keuchend um Atem rang, als wäre er zuvor Stunden gerannt.

Lorn entschloss sich letztendlich, Aigonn den letzten Teil der Arbeit zu überlassen und sank einen Moment auf sein Schlaflager nieder. Die Frage, die Naane ihrem Mann darauf stellte, war für Aigonn aufgrund des ortstypischen Dialektes kaum zu verstehen, sie schien aber „Ist wirklich alles in Ordnung?“ sehr nahe zu kommen. Lorn nickte darauf nur und entschuldigte sein Verhalten mit Winter und Sturm. Bis zum Mittag bekam Aigonn auch Tiuhild nicht mehr zu Gesicht. Die leisen Geräusche, die von dem Schuppen draußen durch das Sturmtosen zu hören waren, verrieten jedoch ihren Aufenthaltsort.

Kurz nachdem Naane den gleichen Eintopf wieder einmal zum Mittagessen gereicht hatte, erreichte Lorn die Bitte des Fischers Wedo, ihm beim Wiederaufbau seines Daches zu helfen. Dass Aigonn für den Hausherrn einsprang war keine Frage. So viel Arbeit gab es zu erledigen, dass die Sonne sich bereits hinter die Küstenlinie neigte, als Aigonn endlich das letzte Grasbündel im Gebälk befestigte und danach unten vor dem Haus des Fischers von Wedo einen Becher voll dampfendem Tee entgegen nahm.

Plötzlich zerriss der spitze Schrei einer Frau die Stille des Abends. Aigonn war so perplex, dass erst der erschrockene Wedo ihn am Arm mitreißen musste, bevor er begriff, dass es Naanes Stimme gewesen war, die sie soeben gehört hatten. Alarmiert lief Wedo ins Langhaus, Aigonn hinterher. Letzterer versuchte, sich Platz zu verschaffen, als sein Begleiter vor ihm erstarrte und binnen eines Augenblickes weiß wie Kreide wurde.

Lorn lag mit weit aufgerissenen Augen am Boden, die eine Hand auf den Brustkorb gedrückt, während die andere Naanes Finger zu zerquetschen schien. Kurze, krampfhafte Atemstöße langten keuchend nach Luft, während dem alten Fischer allmählich jegliche Farbe aus den Wangen wich. Frau und Tochter saßen weinend daneben. Naane versuchte immer wieder auf ihren Ehemann einzureden, während Rhaldar schon aufgesprungen war, Wedo am Arm packte und den jungen Mann aus dem Haus zog. „Der Heiler!“, konnte Aigonn hören, bevor die Tür zuschlug. Er selbst stand wie gelähmt da, unwissend, was es zu tun galt. Die Zeit seiner Ausbildung bei Rowilan war nicht annähernd lang genug gewesen, um über die Heilung von Fieber hinauszugehen. Wie eine Statue stand er somit da, halb in Scham, halb ohnmächtig, während kurz darauf Wedo und Rhaldar mit einem Mann in Lorns Alter durch die Tür stürzten.

Dieser stieß Naane beiseite und legte Lorns Kopf auf seine Knie, während er begann, dem alten Fischer Luft mit seinem Ärmel zuzufächeln. Ein geschriener Befehl von ihm ließ Wedo die Tür des Langhauses aufreißen, sodass kalte, frische Luft den Raum erfüllte und der Rauch des Torffeuers schneller abzog. Fast schien es nach einem Moment so, als beruhige sich Lorns Atem, während Naane ihre Fassung wiederfand und plötzlich voller Zorn ausrief: „Sie ist eine Hazusa! Ich habe es immer gewusst! Diese Hexe hat ihm das angetan!“

„Von wem sprecht ihr?“ Aigonn verstand die Welt nicht mehr. Naane jedoch geriet in Rage, als sie ihm die Antwort entgegenschrie: „WER? TIUHILD! WER AUCH SONST! SIE MUSS ES GETAN HABEN! SIE WAR ES! ICH BRINGE SIE UM! MEINEN LORN HAT SIE VON UNS ALLEN AM MEISTEN GEHASST! WIR MÜSSEN SIE FINDEN!“

Als Aigonn immer noch unbeweglich dastand, wies sie ihn an: „FINDE SIE! WIR KOMMEN NACH! SIE MUSS INS MOOR HINAUS GEFLÜCHTET SEIN! GEH!“

Ohne darüber nachzudenken, stürzte Aigonn durch die Tür und lief im Laufschritt über die Heide dem Moorwald entgegen. Erst als der Schatten der Weiden und Birken auch die letzte Helligkeit des Tages schluckte, begann er sich zu fragen, was er hier eigentlich tat. Tiuhild sollte Lorn verzaubert haben? Der Gedanke war lächerlich! Auch wenn er nicht leugnen konnte, dass der Sklavin etwas Sonderbares, Dunkles anhaftete, war es doch vollkommen normal, dass Männern in diesem Alter das Herz schwach wurde. Aigonn hatte nicht nur einen Menschen jenseits der fünfzig wie Lorn zugrunde gehen sehen. Es geschah häufig, auch wenn gerade die Krieger sich dessen schämten. Galt es doch vielmehr, im Kampf getötet zu werden, als alt und schwächlich auf seinem Lager zu krepieren.

Mit jedem Schritt tiefer in das Moor hinein, fraß die Schwärze mehr und mehr Licht. Aigonn wurde langsamer, allein der Gefahr wegen, ein Schlickloch zu treffen, das ihn lebendig von hier in die Andere Welt tragen würde. Aus diesem Grund versuchte er, alle mögliche Konzentration aufzubringen, um als Seher die Umgebung wahrzunehmen. Es dauerte einen Moment, doch schließlich sah er wahrhaftig die Spuren der Anderen Welt wie silbernes Licht über dem Boden flimmern. Meist nur einzelne Funken, dann wieder ganze Flächen, die untrüglich den sicheren Tod für jeden Menschen bedeuteten.

Schritt für Schritt wagte er sich weiter in das Moor hinaus. Die Bäume wurden immer weniger. Das Mondlicht, das dann und wann zwischen den Wolken hervor sah, erhellte bereits die letzte Tagesdämmerung mit dem fahlen Licht der Nacht. Was sollte das? Seit Aigonn den ersten Schritt vor die Tür des Langhauses gesetzt hatte, war ihm klar gewesen, dass er Tiuhild Lorns Familie niemals ausliefern würde. Es war schlicht nicht gerecht! Aigonn zweifelte nicht im Geringsten daran, dass die Frau noch in dieser Nacht den Tod finden würde, sollte sie Naane oder Rhaldar in die Hände fallen – und das für den ganz gewöhnlichen Lauf der Natur! Doch was sollte er tun? Sie warnen? Es brachte nichts. Aigonn war sich sicher, die junge Frau bei der aufziehenden Dunkelheit niemals finden zu können.

Immer weiter tat sich das Moor vor ihm auf. Die Geister waren hin und wieder zwischen Rauschbeere und Wollgras zu erkennen. Die gestaltlosen Wesen beäugten Aigonn wachsam, als versuchten sie Tiuhild zu schützen, die sich hier verbergen musste. Aigonn konnte nicht sagen, wodurch er diese Gewissheit hatte. Doch auf gewisse Weise war er sich sicher, dass sie hier war, irgendwo.

Plötzlich verkrallten sich Finger in seinen Schultern. Schneller, als er reagieren konnte, warf ihn ein federleichter Körper zu Boden. Spitze Knie drückten in seine Oberschenkel, während im ersten Moment ein dunkler Haarschopf über sein Gesicht glitt, bevor dieser hastig zurückgeworfen wurden.

Fast hätte Aigonn lachen wollen. Tiuhild schien in diesem Moment mehr Tier als Frau zu sein, als sie über ihm kniete. Sobald aber das Mondlicht ihr mageres Gesicht beschien, blickte Aigonn in blanke Menschlichkeit. Fast greifbar glänzte die Verzweiflung in ihren dunklen Augen. Aigonn war beinahe erschrocken von diesem Anblick, so sehr hatte sich in seinem Kopf der kalte, finstere Ausdruck von Tiuhilds Miene eingeprägt. Dieses Eis aber schien zerbrochen, so hilflos wirkte sie plötzlich. Feuchte Tränenspuren schimmerten auf ihren Wangen, als sie ihn mit brechender Stimme anflehte: „Bitte! Bitte, hilf mir! Sie mich töten! Du mir helfen! Bitte!“

Im ersten Moment fehlten Aigonn die Worte zu einer Antwort. Tiuhilds stark akzentbehaftete Worte verrieten, dass sie nicht einmal mit dem landesüblichen Dialekt wirklich sicher war, geschweige denn mit der Sprache, die man in Richtung von Aigonns Heimat verwendete. Bevor er jedoch den Mund zu einer Entgegnung öffnen konnte, schien Tiuhild sein Schweigen bereits als Ablehnung gedeutet zu haben. Neue Tränen rannen ihre Wangen entlang, während sich ihr Griff in Aigonns Schultern verstärkte und sie in ihrer Verzweiflung an ihnen rüttelte. „BITTE! Ich kann dich bringen Skandia! Ich kenne Weg zu Daukionen!“

„Was sagst du?“ Auf einmal war der Schrecken vergessen. Aigonn starrte die schmächtige Frau an, als hätte sie ihm die kühnste Lüge seines Lebens erzählt. Misstrauisch prüfte er ihren Blick in der Hoffnung, erkennen zu können, ob sie ihm nicht derlei Versprechungen machte, nur um ihr eigenes Leben zu retten. Als plötzlich Stimmen aus Richtung der Siedlung laut wurden, drängte Tiuhild heftiger: „Bitte! Bitte, schnell! Du mir helfen, ich dich werde bringen zu Daukionen! Bitte! Ich schwöre mein Leben bei Sonnenherr Tiuz! Ich dich nicht anlügen!“ Wie um ihren Schwur zu bekräftigen, blickte sie kurz gen Westen, wo der letzte Schimmer der Sonne allmählich hinter dem Horizont verschwand, und fasste sich danach an die Stelle über ihrem Herzen.

Aigonn selbst zögerte noch immer. Es würde böses Blut geben. Sollten Lorns Leute erfahren, was er getan hatte, würde er mit Tiuhild zu einem Gejagten werden. Liebend gern hätte er die junge Frau einfach gepackt und davongejagt, doch etwas in seinem Innersten gab ihm die Sicherheit, dass er auf einmal den richtigen Weg zu seinem Ziel gefunden hatte.

„Wenn ich dir helfe, bringst du mich zu den Daukionen?“

Ein verzweifeltes Lächeln erschien auf Tiuhilds Lippen, als sie nickend seine Frage bejahte. Noch einen letzten Herzschlag lang prüfte Aigonn ihren Blick. Und als er noch immer keine Falschheit in ihm lesen konnte, schob er die junge Frau sanft von sich, rappelte sich auf die Beine und fragte nun von den näher kommenden Stimmen alarmiert: „Wie kommen wir von hier ans Östliche Meer, ohne dass sie uns zuvor fangen und in Stücke reißen?“

„Wir reiten!“ Als Aigonn nun Tempo aufnahm, um sich wieder in den Schatten des Moorwaldes zu flüchten, huschte Tiuhild an ihm vorbei und führte ihn mit zwei Schritten Vorsprung zwischen den Bäumen hindurch. „Wedo hat Pferde“, flüsterte sie. „Wir stehlen. Jetzt, da Männer im Moor.“

„Warte!“ Auf einmal blieb Aigonn stehen und tastete über die Beutel an seinem Gürtel. „Meine Sachen! Ich brauche sie! Wir können nicht ohne sie reiten.“

„Du Dinge für Tausch?“

Zur Antwort fasste er an ein Ledersäckchen, das er seit dem Beginn seiner Reise so gut wie nie abgelegt hatte. Es enthielt Aigonns Anteil von dem wenigen Bronzeschmuck, den Moribe ihren Söhnen hinterlassen hatte. Bei seiner Abreise hatte er darüber nachgedacht, es gegen die goldenen Münzen seines Volkes, „Goldschüsselchen“ wie fahrende Händler sie nannten, einzutauschen. Doch er hatte befürchtet, dass die Leute im Norden solcherlei Tauschwährung nicht annahmen oder ihm einen schlechten Preis gemacht hätten.

Tiuhild nickte kurz. „Du nicht mehr brauchen. Wir müssen reiten. Sofort!“

Damit eilte sie voraus und duckte sich, sobald erste Langhäuser in Sichtweite kamen, hinter einen dichten Strauch, der ihre schmale Gestalt fast völlig verbergen konnte. Aigonn setzte ihr nach. Als er den Vorplatz zwischen den Häusern menschenleer erkannte, erlaubte er sich ein erleichtertes Aufatmen, worauf Tiuhild wieder in Bewegung geriet. Die Stimmen der Männer, die ihre Verfolgung aufgenommen hatten, verloren sich im Moorwald. Ihnen blieb nicht viel Zeit.

„Komm!“, zischte sie. Dann lief sie über den vom Schnee geräumten. Platz zu einer der Stallungen von Wedos Nachbarhaus. Aigonn bemerkte, wie schwer es ihr fiel, in der Aufregung das Tor leise zu öffnen und sich langsam den Tieren zu nähern, die drinnen ihre Ankunft nervös beobachteten.

Der Geruch von Stroh, Pferd und Fäkalien schlug Aigonn entgegen, als er Tiuhild in die warme Dunkelheit folgte. Sein Herz schien einen Schlag auszusetzen, als eines der Tiere erschrocken aufwieherte. Tiuhild und er standen wie erstarrt. Erst bei näherem Hinsehen konnte Aigonn erkennen, dass die junge Frau bereits ein Lederhalfter von der Wand genommen hatte und nun versuchte, es dem Tier über den massigen Kopf zu streifen. Wohl hatte sich eines der Pferde erschreckt, als sie von hinten an sie heran getreten war.

Nachdem von innerhalb des Langhauses keinerlei Reaktion zu hören war, gelang es Tiuhild schließlich, zwei Pferden Zaumzeug anzulegen und Aigonn ein Paar Zügel zu reichen. Sättel ersparte sie sich. Aigonn für seinen Teil glaubte vor Anspannung zu zerreißen, während sie die Pferde hintereinander ins Zwielicht der Dämmerung führten. Noch war von ihren Verfolgern nichts zu hören und nichts zu sehen. Die Stimmen aus Lorns Haus waren leiser geworden, sodass er hoffte, seinem Gastgeber müsse es wieder gut gehen. Auf eine gewisse Weise erschien Aigonn sich furchtbar undankbar, als er nach Tiuhild auf sein eigenes Pferd aufsaß. Als diese es jedoch aus dem Schritt direkt in den Galopp trieb, hatte er keine andere Wahl, als Halt auf dem ungesattelten Tier zu bewahren und auf ihrer Höhe zu bleiben.

Plötzlich gellten Rufe durch die Dunkelheit. Eine Tür würde aufgerissen, bevor zwei Gestalten mit Fackeln nach draußen rannten und ihnen so schnell sie konnten nachsetzten. Aigonn war dankbar dafür, dass diese Verfolgung ein schnelles Ende nahm. Der Schrei jedoch, den der Mann in Richtung des Moorwaldes ausstieß, verfolgte ihn noch meilenweit. „SIE SIND HIER! BEEILT EUCH! DIESER BASTARD AUS DEM SÜDEN HAT DER HAZUSA GEHOLFEN!“

Auf einmal tönte Hundegebell durch die Nacht. Tiuhild fuhr auf ihrem Pferd erschrocken herum und entlockte ihren Lippen Worte in fremder Sprache, die selbst Aigonn als Fluch verstand. Die Dunkelheit hatte das kleine Fischerdorf zu undeutlichen Silhouetten verschmolzen, während sich vor den beiden Reitern lichter Moorwald erstreckte.

Plötzlich wurde Aigonn bewusst, warum Tiuhild die Flucht nie gelungen sein konnte. Obgleich die Pferde beim Gekläffe der Hunde in panischem Galopp nach vorne gestoben waren, holten die Tiere schneller auf, als es Aigonn lieb war. Den nächsten Wald machte er nur als entfernten Schatten in Horizontnähe aus. Gefrorene Sickerwasserbäche unter dem Schnee ließen die Pferde immer wieder erschrocken einbrechen, wobei Tiuhilds Tier beinahe gestolpert und gestürzt wäre.

Die Hunde, groß wie Wölfe, kamen immer näher. Aigonn glaubte sie bereits riechen zu können, als ihm bewusst wurde, dass sie eine solche Verfolgung nicht gewinnen konnten. Noch nicht.

„Wir müssen irgendwo ins Dickicht“, rief er Tiuhild zu. „Vielleicht wird die Witterung anderer Tiere sie ablenken.“

„Wie du willst reiten mit Pferd durch Strauch und Busch?“ Sie wirkte von seiner Idee nicht überzeugt. „Hund schlecht rennen in Wald. Pferd aber auch.“

„Haben wir eine Wahl?“ Tiuhild antwortete nicht. Die Art, wie sie angespannt überlegte, stimmte Aigonn nicht wahrlich hoffnungsvoll. Er hörte gerade wie ihre Lippen zu einer Antwort ansetzten, als diese plötzlich in einem erschrockenen Wiehern unterging.

Es ging zu schnell, als dass Aigonn wirklich reagieren konnte. Eis brach. Binnen Herzschlägen ging Tiuhilds Pferd neben ihm zu Boden. Der Schrei der jungen Frau schien eher dem Schrecken als Schmerz entsprungen. Doch er verlor sich augenblicklich im Kläffen vierer Hunde.

Ihre gefallene Beute witternd schienen die Tiere noch einmal an Tempo zugelegt zu haben. Sie jagten auf Tiuhild zu. Aigonn konnte nur noch aus dem Augenwinkel sehen, wie das Pferd sich aufrappelte, stieg, um sogleich in heilloser Flucht davonzupreschen. Tiuhild hatte keine Zeit, den Widerrist zu fassen, sondern stürzte abermals bei dem Versuch. Sie schrie ein zweites Mal. Dann plötzlich war ein drohendes Knurren gefährlich nahe.

Augenblicklich riss Aigonn sein Pferd herum. Ohnmächtig vor Panik entsann er sich der einzigen Idee, die ihm kam, so ohne Lanze oder Speer. Er hatte gesehen, wie manche Pferde sich in der Schlacht auf Gegner stürzten, als wollten sie das Leben ihres Reiters mit allen Mitteln verteidigen. Dieses aber stieg wiehernd auf die Hinterbeine, sobald Aigonn es auch nur in die Richtung der Hunde treiben wollte. Panisch tänzelte es auf der Stelle, bevor er den sinnlosen Kampf aufgab und einmal tief Luft holte.

Er wollte und durfte nicht denken. Seine Angst würde die Oberhand gewinnen, sobald er sich bewusst machte, dass er fast unbewaffnet den Kampf mit vier Bluthunden aufnehmen musste. Sein Herz schien einen Sprung zu machen, als er das Messer an seinem Gürtel ertastete, das er als einzige Waffe nicht zur Arbeit abgelegt hatte. Der erste Hund hatte Tiuhild bereits erreicht. Ihre Schreie dröhnten in Aigonns Ohren, während die junge Frau mit Händen und Füßen das Tier auf Abstand zu halten versuchte. Die anderen aber hatten bereits aufgeholt.

Aigonn schien auf einmal neben sich zu stehen, als er zum Sprung ansetzte. Schreiend stürzte er sich auf das Tier. Es gab ein erbärmliches Jaulen von sich, als seine Klinge durch das Fell ins weiche Bauchfleisch drang. Vom Schmerz angestachelt wirbelte der Hund herum. Aigonn konnte den Geifer an seinen Lefzen bereits riechen, als er ein zweites Mal mit der Klinge zustach und diesmal besser traf. Mit einem widerlichen Knacken bohrte das Messer sich am Genick durch den Schädelansatz. Der Hund jaulte noch einmal, bevor seine Glieder erschlafften.

Aigonn sah kaum mehr hin, wie der zuckende Leib neben ihm zu Boden ging. Reißender Schmerz explodierte in seinem rechten Arm, der tanzende Funken vor seinen Augen beschwor. Für einen Moment glaubte er das Bewusstsein zu verlieren, bevor der Griff des Kiefers nachließ und er auf einmal die schreiende Tiuhild ausmachen konnte, die mit bloßen Händen den Hund zu Boden riss. Doch nicht mehr.

Ihr Schmerzensschrei erstickte im wütenden Knurren des Tieres, das immer wieder versuchte, nach ihrer Kehle zu schnappen, während sie ihm die Fäuste gegen den Schädel schlug. Aigonn glaubte das Blut riechen zu können, das aus einer Wunde an ihrem Unterarm troff. Die Zähne des Hundes hatten sich scheinbar bis zum Ansatz darin verbissen, sodass Aigonn nur noch auf das Knacken ihrer Knochen wartete.

Dann hatten die anderen beiden Hunde den Kampfplatz erreicht. Einen Herzschlag lang schien es Aigonn, als bliebe die Zeit stehen. Hier endete es also schon. Eine kurze Reise, ein Ausgang, den er so nicht erwartet hätte. Armer Rowilan. Vermutlich würde er hiervon niemals etwas erfahren.

Plötzlich erstarrten die Hunde in der Bewegung. Aigonn glaubte beinahe, er beginne zu halluzinieren. Doch als auch der Hund, der sich in Tiuhilds Arm verbissen hatte, von der jungen Frau abließ, die Ohren anlegte und knurrend rückwärts lief, musste er sich eingestehen, dass es Realität war.

Dann sah er sie. Geistergestalten umtanzten die Hunde, als wollten sie ihre Aufmerksamkeit gänzlich für sich gewinnen. Die verstörten Tiere, die ihre Anwesenheit wohl nicht annähernd so deutlich wahrnahmen wie Aigonn, tänzelten verunsichert auf der Stelle, versuchten hin und wieder nach den Wesen zu schnappen, wagten jedoch keinen Schritt voran.

Bevor Aigonn die Situation vollständig registrieren konnte, hatte Tiuhild ihn bereits am Arm gepackt. Wogen aus Schmerz drohten ihn im ersten Moment wieder zu Boden zu fällen, bevor der Instinkt zu überleben die Oberhand ergriff und ihn auf die wackeligen Beine zog.

„Komm!“ Tiuhild zog ihn hinter sich her, während sie keuchend über den schneebedeckten Torf stolperte. Aigonn brauchte ein Dutzend Schritte, bis er sich endlich bewusst wurde, was soeben hinter ihm geschehen war. Fassungslos rief er Tiuhild hinterher: „Warst du das?“

Sie antwortete nicht.

„Hast du die Geister gerufen?“

Einen Herzschlag lang blickte sie ihm prüfend in die Augen. Dann wiederholte sie nur „Komm schon!“ und beschleunigte ihr Tempo so sehr, dass Aigonn nur keuchend Schritt halten konnte. Im Schatten eines lichten Waldes erlaubten die Flüchtenden sich endlich, die Geschwindigkeit zu verringern und sanken schwer atmend ins Strauchdickicht.

Am Anfang hörte Aigonn nichts außer seinem eigenen Atem. Langsam und weit entfernt drangen dann Hundegebell und erregte Stimmen durch die Dunkelheit. Noch war es nicht vorbei.

„Wir müssen weiter“, hauchte er Tiuhild zu. Als diese keinerlei Reaktion zeigte, fürchtete Aigonn bereits, der Blutverlust ihrer Wunde hätte sie schon schlimmer geschwächt, als es bisher den Anschein gehabt hatte. Kurz darauf aber riss die junge Frau einen Fetzen Stoff von ihrem dünnen Wollmantel und schnürte ihn um ihren Unterarm, bevor sie aufstand und zusammen mit Aigonn weiterrannte, in die Dunkelheit hinein.

In der ganzen Nacht erlaubte sich keiner von ihnen eine längere Pause, außer um die Wunden zu versorgen. Obwohl es einmal so schien, als hätte man ihre Spur wieder aufgenommen, blieben sie unbehelligt und entdeckten sogar auf einer Lichtung im Wald Tiuhilds Pferd wieder, das sich von seinem Schreck erholt hatte. Reitend legten sie noch eine weitere Wegstrecke zurück, bevor Tiuhild irgendwann kurz vor dem Morgengrauen hinter Aigonn auf dem Pferd zusammensackte und sich ihrer Erschöpfung hingab.

An einer geschützten Stelle im Dickicht entzündete Aigonn ein kleines Feuer, bevor er die junge Frau auf ein vom Schnee befreites Moospolster bettete und den eigenen Mantel fester um den Körper schlang.

Bald wurde die Müdigkeit fast unerträglich. Zu oft sanken Aigonn die Augenlider hinab, bis er sich dessen besann und mit aller Gewalt bemühte, zumindest annähernd das Bewusstsein zu behalten. Wolfsheulen drang irgendwo in den frühen Morgen hinaus. Die brennende Wunde in seinem Oberarm bekräftigte seinen Wunsch, derlei Tieren nicht noch einmal in derselben Nacht zu begegnen. Ihr Schmerz allein half, sich nicht dem Schlaf ergeben zu müssen, ebenso wie die Gewissheit, dass sie ausgebrannt werden musste. Aigonn war sich bewusst, dass jederzeit ihre Verfolger aus dem Gehölz auftauchen konnten, auch wenn er mit fortschreitender Zeit daran zu zweifeln begann.

Irgendwann aber wurde die Erschöpfung doch zu übermächtig. Als ihn raschelndes Laub weckte, war es schon Mittag. Scharfer Wind trieb die Wolken über den Himmel, sodass ein Wechselspiel aus Licht und Schatten den Wald und das kleine Lager überzog.

Nachdem Aigonn endlich die Augen offenhalten konnte, musste er feststellen, dass Tiuhild längst erwacht war. Die junge Frau saß ihm gegenüber am schwach lodernden Feuer und kaute Nüsse, deren Schalen sie in einer Hand sammelte. Als sie sich Aigonns Aufmerksamkeit bewusst wurde, reichte sie ihm wortlos eine halbe Hand voll der bräunlichen Früchte, deren Schalen zu größten Teilen mit Erde verschmiert waren. Auf seine hochgezogenen Augenbrauen antwortete sie nur: „Eichhörnchen.“ Irgendwo musste ein noch nicht zugefrorener Bach durch das Erdreich fließen. Eine andere Erklärung fand Aigonn nicht dafür, wie die junge Frau die Nüsse aus der steinharten Erde hätte befreien können.

Kaum da er die erste Schale geöffnet hatte, erklärte Tiuhild: „Wir keine Zeit. Noch uns suchen. Ich Männer gesehen, nicht weit von hier.“

„Was ist mit deinen Wunden? Glaubst du, du kannst weiterreiten?“ Tiuhild sah fragend an ihrem Körper hinab. Die Bluthunde hatten ihr mehr als fünf tiefe Bisse zugesetzt, deren Verband unter der zerrissenen Kleidung noch kenntlich war. Die vielen Stoffstreifen, die Tiuhild an ihrem langen Hemd entfernt hatten, gaben ihr nun ein noch verwahrlosteres Äußeres.

Tiuhilds Blick verriet, dass sie Aigonns kurze Musterung nicht billigte. Die Finger ihrer linken Hand tippten gleichmäßig schnell auf den Boden. Aigonn selbst war sich zwar nicht klar darüber, ob es nur die Angst vor ihren Häschern oder die Situation an sich – die Möglichkeit eines offenen Gespräches – war, die sie so unruhig stimmte, doch er beschloss, sich davon nicht abhalten zu lassen und fragte somit vorsichtig: „Du bist in Skandia geboren worden, nicht wahr?“

„Ja.“

„Woher kennst du die Daukionen?“

„Sie Nachbarn. Freunde. Handel.“

„Wie viele Jahre hast du Lorn schon gedient?“

Ein finsterer Wink aus Tiuhilds Augen hätte Aigonn bedeuten sollen, das Verhör zu beenden. Er jedoch hielt nur unverändert ihren Blick in Erwartung einer Antwort. Ein tiefer Atemzug verriet Tiuhilds Missfallen, als die junge Frau sich schließlich zum Erzählen durchringen konnte: „Drei. Vier Jahre her, seit ich fort von zu Hause.“

Aigonn lag nun eine weitere Frage auf den Lippen. Doch obwohl er den Mund geöffnet hatte, um sie auszusprechen, zügelte er sich kurz zuvor. Selbst wenn er so offen bei Tiuhild nachhaken würde, er zweifelte daran, dass sie ihm nach einer Nacht erzählen würde, was eine Frau wie sie von Skandia in die Sklaverei am Nordmeer getrieben hatte. Vielleicht hatte sie einfach das Unglück verfolgt? Aigonn beschloss, diese Thematik auf ein andermal zu verschieben. Stattdessen platzte aus ihm heraus, was ihn seit ihrer Flucht aus Lorns Dorf beschäftigt hatte: „Warum hat Naane dich eine Hazusa genannt?“

„Du wissen, was Hazusa?“

„Nein.“

Tiuhild atmete lange aus. „Hazusa ist böse Frau, die böse Geister ruft.

Hek…“ Sie schüttelte den Kopf auf der Suche nach dem korrekten Begriff. „Heks…“

„Eine Hexe?“

„Ja.“

„Warum hat Naane das gesagt?“

Tiuhild sah Aigonn nicht an. Sie hatte einen Stock von einem Strauch gebrochen und stocherte damit nun im welken Laub. „Mich oft Menschen so genannt. Auch meine Leute kennen Hazusa.“

„Sind sie denn im Recht gewesen?“

Tiuhild hielt inne. Ihr Blick stach wie eine Lanze durch Aigonns Körper.

Alter, tief vergrabener Zorn ließ einen Funken an die Oberfläche dringen, bevor er in Kälte erstarrte und die junge Frau mit neu erkämpfter Beherrschung erwiderte: „Dich nicht interessieren brauchen! Ich deine Sprache nicht gut sprechen und so keine guten Antworten geben. Du solltest aufhören fragen! Immerhin du bald Gast in Skandia. So nicht ich sollte lernen sprechen mit dir, sondern du lernen, mich verstehen!“

„Wirst du mich denn deine Sprache lehren?“

Überraschenderweise schien Tiuhild eine solche Entgegnung nicht erwartet zu haben. Im ersten Moment starrte sie Aigonn nur verdutzt an, bevor sie ihre Nüsse einsammelte, sich aufrappelte und begann, das Feuer mit Laub zuzuschütten.

„Zeit spät. Wir reiten!“

Völva - Wodans Seherinnen. Von keltischer Götterdämmerung 2

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