Читать книгу Völva - Wodans Seherinnen. Von keltischer Götterdämmerung 2 - Astrid Rauner - Страница 7
Der Fremde
ОглавлениеAigonn fühlte sich wie ein Aussätziger, ein fremdartiges Tier. Dabei war er im Grunde nicht unglücklich über seine momentane Lage: Zwei Decken und ein Schafsfell umhüllten seinen ausgekühlten Körper, während die Hitze eines Bechers voll Tee langsam neues Leben in seine Arme und Hände pumpte. Bis auf das Wolltuch, mit dem er seinen Unterleib vor der Kälte zu schützen pflegte, saß er nackt unter den trockenen Decken. Jederzeit hätte er sich der Müdigkeit hingeben können, die wie ein böser Geist an seinen Augenlidern zerrte, wären da nicht die verstohlenen Blicke, die ihn immer wieder wie Lanzen trafen.
„Schmeckt Euch der Tee nicht?“ Eine schüchterne Frauenstimme bestätigte ihm, dass er noch immer unter Beobachtung stand. Die schlanke Frau Anfang der Vierzig, die Aigonn gemeinsam mit ihrer Familie empfangen hatte, saß ihm gegenüber auf der entgegengesetzten Seite des Herdfeuers, einen eigenen Becher Tee in der Hand. Kurz nach seiner Ankunft hatte sie das Feuer geschürt. Während Aigonn die wohlige Wärme anfangs willkommen geheißen hatte, erschien sie ihm nun mehr wie ein zuckendes Schild, das die Hausherrin vor diesem Fremden beschützen sollte, der sie mitten in der Nacht durch den Sturm heimgesucht hatte. Der Gedanke hinterließ einen faden Nachgeschmack in seinem Mund, doch er war sich allmählich sicher, dass zumindest die Hausherrin die Entscheidung ihres Mannes bereute, Aigonn überhaupt eingelassen zu haben.
Ihr fragender Blick erinnerte ihn daran, dass er ihr eine Antwort schuldig war. Verspätet versicherte Aigonn ihr: „Doch, natürlich! Ich … warte nur, bis er ein wenig abgekühlt ist.“
Sie nickte langsam und nippte an ihrem eigenen Getränk. Abgesehen von der Hausherrin hatte noch eine kleine Familie Unterschlupf in diesem Haus gesucht. Das Ehepaar mit seinen drei Kindern war im Laufe der Nacht auf dreien der zahlreichen Bettstätten zur Ruhe gekommen, welche die Wände rund um das Herdfeuer säumten. Aigonn vermutete in der jungen Mutter die Tochter des Besitzers, sicher war er sich jedoch nicht.
Letzterer war kurz nach Aigonns Ankunft nach draußen in den Sturm verschwunden, um den benachbarten Höfen zur Hilfe zu eilen. Aigonn hatte den Widerwillen spüren können, mit welchem der Hausherr seine Familie allein mit dem Fremden zurückgelassen hatte. Es war scheinbar der einzige Grund, warum die übermüdete Frau selbst noch nicht schlafen gegangen war. Natürlich misstraute man ihm. Allein wie man sein erblindetes Auge musterte, sprach Bände.
Aigonn zwang sich dazu, den Blick zu senken, während er an seinem Tee nippte. Eigentlich hatte er sich auf einen solchen Moment vorbereitet geglaubt. Seit drei Monaten reiste er allein, hatte nur selten die Gastfreundschaft fremder Stämme in Anspruch genommen, war aber dabei immer auf Menschen gestoßen, die wenigstens Rowilan oder Behlenos mit Namen kannten. Das Handelsnetz seines Volkes reichte weit. Nun aber, so weit wie er nach Norden vorgedrungen war, war er nur noch ein Fremder, in den Augen der Bewohner vielleicht verzweifelt, wahnsinnig. Ihm war bewusst, dass die wenigsten verstanden, warum jemand zu Anfang des Winters noch immer auf Reisen war und das so fern seiner Heimat. Er versuchte, den Menschen hier das Misstrauen nicht zu verübeln.
Eine scharfe Windböe vertrieb die unangenehme Stille, als eine Gestalt die Tür des Langhauses aufriss, sich so schnell wie möglich hinein flüchtete, um gleich wieder Wind und Unwetter auszusperren.
Augenblicklich sprang die Hausherrin auf. Noch bevor Aigonn das Gesicht des Mannes erkennen konnte, hatte sie ihm den durchnässten Mantel abgenommen, um ihn zu Aigonns Kleidern nahe ans Herdfeuer zu hängen.
Lorn war sein Name, erinnerte sich Aigonn. Der Herr des Hauses hatte sich als einziger seinem ungebetenen Besuch vorgestellt, bevor er in die Nacht verschwunden war und zog nun erstaunt die Augenbrauen in die Höhe, als er Aigonn noch immer am Herdfeuer sitzen sah.
„Ihr seid immer noch wach? Ich hatte geglaubt, Ihr würdet nach einer solchen Reise müde sein wie ein Stein.“
Du glaubst gar nicht, wie recht du hast! Beinahe hätte Aigonn diesen Gedanken laut ausgesprochen. Er entschied sich jedoch, mit mehr Höflichkeit auch größere Distanz zu erhalten und antwortete somit: „Ich wollte das Angebot Eurer Frau nicht ausschlagen, mir noch einen Tee zu bereiten. Die Mischung schmeckt sehr gut.“ Aigonn schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, sie jedoch wandte schnell den Blick ab und sah fragend zu ihrem Ehemann.
Dieser gab nur einen unverständlichen Laut von sich, bevor er seinen eigenen Becher mit dem dampfenden Getränk füllte und sich neben Aigonn am Herdfeuer niederließ.
Lorn mochte fünfzig sein, vielleicht sogar älter. Es fiel Aigonn schwer, aus dem Gesicht zu lesen, in dem die Jahre und das raue Wetter ihre Spuren hinterlassen hatten. Die halblangen, braunen Haare und der ebenso struppige Vollbart verliehen ihm fast den Eindruck eines Herumtreibers, was jedoch der breite, muskulöse Körper eine Lüge strafte. Eine dicke Narbe entstellte das Gesicht, zog sich über die Stirn unter einem der kleinen Augen entlang und endete schließlich auf der linken Wange. Ein Krieger, ein Familienvater.
Ein missbilligendes Grunzen unterbrach Aigonns Musterung jäh, sodass er entschuldigend den Blick abwandte. Bewusst starrte er auf die Oberfläche seines Tees, nahm einen Schluck und hörte dann, wie Lorn sich räusperte.
„Nun …, Aigonn …“ Die Art, wie er den Namen betonte, hob seine Fremdartigkeit in dieser Gegend hervor. „… heute Nacht sagtet Ihr, Ihr kämt von Süden und seid seit einigen Monaten auf der Reise. Wo genau seid Ihr zu Hause?“
Aigonn schluckte langsam das Getränk hinunter. Der untergründige Ton, der diesen Worten innelag, alarmierte ihn ungewollt, auch wenn er noch nicht sagen konnte, warum.
Zögerlich antwortete er: „Ich bin an einem Fluss namens Rur geboren, wenn Euch dieser Name etwas sagt.“ Zu Aigonns Überraschung zog Lorn erstaunt die Augenbrauen in die Höhe. „Rur sagt Ihr? Kennt Ihr einen Mann namens … Veldegid?“ Er verschluckte sich beinahe an dem Namen, der in seiner Sprache mehr einer Unart als einer Personenbezeichnung nahezukommen schien. Nun aber war es an Aigonn zu staunen: „Ihr handelt so weit im Süden?“
„Manchmal, ja. Kennt Ihr ihn nun?“
Aigonn hielt inne, um zu überlegen. Der Klang dieses Namens erschien ihm in diesem fremden Dialekt merkwürdig vertraut, allerdings ohne dass er ihm ein Gesicht zuordnen könnte: „Man gibt Kindern bei uns solche Namen, aber ich kenne niemanden persönlich, der so heißt. Wer ist das?“
„Das spielt keine Rolle.“ Lorn war sichtlich enttäuscht. „Ein Händler eben. Ich habe ihm zwei Krüge auf dem Markt im Nachbarort abgekauft, sonst nichts.“
Nachdenklich verzog Aigonn den Mund. Er hatte geglaubt, die Leute hier hätten andere Sorgen als die Geschichten und Beweggründe eines Fremden.
„Aber … was genau führt Euch nach Norden?“, fragte Lorn weiter. „Ihr seht nicht aus, als seid Ihr zum Handeln hergekommen.“ Sein Blick haftete auf dem kopfgroßen Bündel, das Aigonn neben sich auf die Felle gelegt hatte.
„Sagen wir …“, Aigonn wusste nicht recht, wie viel er verraten sollte. „Ich suche die Familie eines Bekannten. Er ist vor einigen Jahren verstorben und ich suche nun seine Hinterbliebenen.“ Die Erklärung war gut, wenn auch weniger als die halbe Wahrheit. Lorn wirkte interessiert, jedoch nicht annähernd so sehr wie vorher. „Kommt dieser Fremde von hier?“, hakte er nach. Aigonn aber schüttelte nur den Kopf. „Man hat mir den genauen Ort seiner Geburt leider nicht sagen können, aber nach allem, was ich weiß, muss ich noch ein Stück weiter nach Osten, über … das Meer.“
Das letzte Wort formulierte Aigonn wie den Gegenstand einer Sage, einen Mythos. Die salzige Luft, die der Sturm hergetragen hatte, war ein Zeichen dafür, dass mehr Wahrheit darin verborgen schien, als Aigonn für möglich gehalten hätte. Er selbst konnte sich noch nicht vorstellen, dass ein See groß genug sein konnte, um bis an den Horizont nur Wasser zu sehen. Salziges Wasser zu allem Überfluss. Aigonn kannte Salzquellen aus seiner Heimat. Es handelte sich um winzige Bäche meist, deren Wasser schnell versickerte und im Umkreis besonders seltene Pflanzen anzog. Doch ein ganzer See, ein Meer voll Salzwasser? Das überstieg Aigonns Vorstellungskraft. Lorn jedoch lachte auf, laut genug, um eines der Kinder zu wecken, das sich verschlafen nach ihm umsah. Der alte Hausherr schien an Aigonns Verstand zu zweifeln, als er seine Aussage noch einmal wiederholen musste:
„Ihr … seid ernsthaft hergekommen, … um über das Meer zu fahren …? Jetzt? IM WINTER ?“ Lorn schien nicht glauben zu können, was er soeben gehört hatte. Lachend griff er sich an die Stirn, während er einen Teil des Tees auf seiner Hose verteilte.
„Man hat Euch des Verstandes beraubt, wie es scheint?“
Aigonn wusste nicht, was er davon halten sollte. Verunsichert blickte er zu der Hausherrin, als könnte diese ihm das Verhalten ihres Mannes erklären. Sie aber hatte sich gerade unter die Decken ihres Schlaflagers verzogen. „Ihr habt keine Ahnung, was Euch erwartet, oder?“
Fast unfreiwillig musste Aigonn ihm recht geben. Die Art, wie Lorn ihn vorführte, behagte ihm nicht im Geringsten, doch ihm fehlte es an Fantasie, um nachzuvollziehen, warum der alte Mann ihn so verspottete. Vermutlich handelte es sich doch um ein schwereres Vorhaben, als er gehofft hatte.
Die Art, wie Lorn ihn ansah, war fast väterlich, als er herzhaft gähnte und ihm dann versicherte: „Legt Euch jetzt schlafen, Aigonn. Wenn der Sturm bis heute Abend abgeklungen ist, werde ich Euch demonstrieren, worauf Ihr Euch einlassen wollt.“
Damit gähnte er ein weiteres Mal, erhob sich mit knackenden Gelenken und gab wortlos zu verstehen, dass er sich nun selbst schlafen legen wollte. Aigonn wusste nicht recht, was er tun sollte und beschloss zunächst, sich ebenfalls hinzulegen. Das Vertrauen, das man ihm soeben angeboten hatte, erschien ihm noch zu trügerisch. Zu viel Misstrauen und Ablehnung war ihm dafür bereits auf seiner Reise begegnet. Er fürchtete, dass er auch in diesem Haus keine Zuflucht finden würde.
Deshalb wartete er, hielt sich zwanghaft wach und spähte durch den Raum. Erst jetzt, da sämtliche Bewohner schliefen, bemerkte er eine junge Frau, die sich in den Schatten einer Hausecke gedrückt hatte. Obgleich ihr Gesicht im Dunkeln lag, wusste Aigonn genau, dass sie nicht schlief. Als er sich mit seinen Fellen und Decken etwas näher an die Wände mit den Vorratsgefäßen zurückzog und den Schatten des niedrigen Daches suchte, fühlte er ihren Blick wie ein heißes Schmiedeeisen auf sich ruhen. Vorsichtig sah er zu ihr. Für einen Moment war es so still im Haus, dass Aigonn leise Stimmen flüstern hören konnte, verschwommene Bilder. Das Langhaus war voll von Erinnerungen dieser Familie, die ihm auf eine fremdartige Weise Zuversicht vermittelten. Kindererinnerungen.
Ohne es zu merken hatte Aigonn das sehende Auge geschlossen und starrte mit dem weiß überwachsenen Augapfel in die Finsternis. Die junge Frau rührte sich nicht. Als könnte sie die fremde Macht spüren, die in diesem Moment nach ihr langte, sah er, wie sie sich versteifte. Einen Herzschlag lang glaubte Aigonn, einen Lichtfunken in der Dunkelheit aufglimmen zu sehen, dann verblassten alle Bilder so jäh, wie sie gekommen waren.
Als Aigonn erwachte, überkam ihn der Wunsch, sich niemals wieder von diesem Lager erheben zu wollen. Mit schweren Lidern blinzelte er in die Schatten ohne zu wissen, wo er sich befand und wie er an diesen Ort gekommen war. Leise Stimmen klangen durch den Raum in den hohen Dachstuhl hinauf: Man unterhielt sich murmelnd in einem Dialekt, der Aigonn zwar den Eindruck vermittelte, ihn verstehen zu müssen. In Wirklichkeit tat er es jedoch nicht.
Für einen Moment überlegte Aigonn, ob er die Augen nicht einfach wieder zufallen lassen sollte, um weiterzuschlafen. Einfach weiterschlafen.
Auf einmal riss er sie wieder auf. Schneller, als sein Verstand die wahre Natur der Sache identifizieren konnte, reagierte sein Körper bereits unbewusst auf ein Gefühl, nein, eigentlich nur eine Empfindung. Ohne sich dagegen wehren zu können, kroch ein Schauer seine Arme entlang. Er war nicht allein im Schatten des Daches. Eine Person verharrte in solch unmittelbarer Nähe, dass er fast reflexartig ein Stück beiseite krabbelte, sich auf die Hände stützte und gegen die Müdigkeit in das Zwielicht blinzelte. Nein, es war keine Person. Keine zwei Fuß über ihm schwebte eine Silhouette unter den Dachbalken. Es war nur der Schatten eines lebenden Menschen, eine Seele, die vielleicht vor Jahren gestorben war.
Augenblicklich war Aigonn hellwach. Wie von selbst blickte sein getrübtes Auge zur Seite, ungeachtet des Unversehrten, das noch immer die Müdigkeit nicht hatte abschütteln können. Die beiden in sich verschiedenen Bilder, die Aigonn erreichten, verschwammen zwischen schimmernden Farben und dem Grau der Wirklichkeit, bevor Aigonn das sehende Auge schloss und alle Konzentration aufbrachte, die ihm so unmittelbar nach dem Aufwachen zur Verfügung stand.
Die Seele selbst war weniger als ein Schatten. Wie Nebeldunst erkannte Aigonn die Umrisse einer Person vor dem Dachstuhl. Eine Frau, wie er vermutete, blickte neugierig zu ihm herab. Der Ausdruck ihrer Augen trug nichts Bösartiges in sich, trotzdem war der Anblick kaum zu ertragen. Unzählige Erinnerungen tanzten um ihren kaum sichtbaren Leib, genug für ein ganzes Menschenleben, jedoch nur so lose mit ihr verbunden, dass die tote Frau sie unmöglich aus ihrem eigenen vorangegangen Leben mitgenommen haben konnte. Die Eindrücke verdreifachten, überlagerten sich. Aigonns Geist war nicht in der Lage, die vielen verschiedenen Bilder und Erinnerungen aufzunehmen, sodass nicht mehr als die pure Emotion bei ihm ankam und er nach einem Atemzug glaubte, dies nicht ertragen zu können. Hass, Enttäuschung, Gewalt, all das vermengte sich mit solch wehmütiger Schönheit zu einem grotesken Bilderschwall, der alle Auffassungsmöglichkeiten überstieg. Die Seele selbst schien sich der ungeheuren Wirkung auf den Menschen vor ihr nicht im Geringsten bewusst, während Aigonn halb entsetzt, halb erschrocken von den Erinnerungen trank, die sie wie ein Kleid um ihren Körper trug.
Er konnte nicht mehr. Die Emotionen kamen so nah, wurden so real. Schreie, Tränen, beinahe wäre er eingefallen, während er sich auf den Rücken wälzte, die Hände aufs Gesicht gepresst. Kein Mensch konnte so etwas ertragen!
„Junger Mann?“
Die Stimme war wie ein schützender Spruch. Der Strom aus Erinnerungen versiegte so jäh, dass Aigonn gar nicht wusste, wie ihm geschah. Schritte näherten sich. Ein Fuß schob einen Krug beiseite, bevor sich der Schatten einer Person vor die wenigen Strahlen Tageslicht drängte. Unvermittelt öffnete Aigonn die Augen. Schwindel überkam ihn, bis er sich an diese weltliche Sicht der Dinge gewöhnt hatte und er einen Mann erkannte, der ihn belustigt von oben musterte.
Auf einmal verdrängten Aigonns eigene Erinnerungen die niederschmetternden Sinneseindrücke der vergangenen Augenblicke. Der Sturm, das Langhaus! Erst jetzt erkannte er den jungen Mann, den er in der zurückliegenden Nacht bei seinen Kindern hatte sitzen sehen. Es musste sich um Lorns Sohn handeln, oder seinen Schwiegersohn.
„Da scheint jemanden den Alp mit ins Haus gebracht zu haben. Schlecht geschlafen?“
Aigonn schüttelte sich, was seinen Geist vollends in die Wirklichkeit zurückbrachte. Die Seele war noch immer hier. Misstrauisch beobachtete sie ihn, als wüsste sie nicht recht, wie sie Aigonns Verhalten beurteilen sollte. Ihm aber gelang es endlich, ihre Anwesenheit auszublenden.
Aigonn schüttelte sich ein weiteres Mal und raffte sich auf, während der junge Mann ein Stück zurückwich. Blinzelnd gewöhnte er seine Augen an das Tageslicht, das durch halb geöffnete Windaugen ins Langhaus fiel. Der Mann war beinahe einen Kopf größer als Aigonn. Sein kantiges Gesicht gehörte einem Drei-, vielleicht Vierundzwanzigjährigen und war von strähnigen, blonden Haaren umgeben. Er lächelte selbstgefällig, als er sich Aigonns Aufmerksamkeit bewusst wurde und sagte: „So, so, der Fremde aus dem Süden. Ich muss mich entschuldigen, dass ich heute Nacht so unhöflich war und mich nicht vorgestellt habe. Mein Name ist Rhaldar.“
Der Mann, der sich mit Rhaldar vorgestellt hatte, streckte Aigonn die Hand hin. Dieser erwiderte den Gruß, ohne ihm recht Beachtung zu schenken, während er sich an ihm vorbeidrückte. Der Schlaf war binnen eines Herzschlags zunichtegemacht worden. Diese wenigen Augenblicke hatten alle Erschöpfung der vorhergehenden Tage zurückgeholt. Aigonns Gedanken versuchten noch immer das eben Gespürte angemessen zu verarbeiten, als er abwesend in das Langhaus sah und bemerkte, wie viele Leute sich um die beiden Männer versammelt hatten.
Die junge Frau – Rhaldars Ehefrau wie Aigonn vermutete – saß im Kreis dreier Kinder am Herdfeuer; eine Handspindel baumelte an einem Wollfaden zwischen ihren Knien hinab, der mit geschickten Drehungen ihrer Finger immer länger wurde. Lorns Frau saß an ihrer Seite, ein zerschlissenes Hemd auf dem Schoß, das sie zu stopfen begonnen hatte. Nur Lorn selbst war nicht zu sehen und in diesem Moment war Aigonn mehr als dankbar dafür.
Die Scham überkam ihn schneller als jedes andere Gefühl. Wenn diese Fremden seine Reaktion binnen der vergangenen Momente beobachtet hatten, musste er in ihren Augen einem Verwirrten nahekommen. Er traute sich gar nicht, den Blicken der beiden Frauen zu begegnen, doch diese wirkten lediglich überrascht, ein wenig unsicher vielleicht. Nichts deutete darauf hin, dass sie gesehen hätten, was Aigonn von Herzschlag zu Herzschlag unangenehmer wurde.
Widerwillig ertappte er sich dabei, wie er noch einmal kaum merklich über die Schulter lugte. Die Seele war noch immer da. Er spürte ihre Präsenz mehr, als dass er sie sah. Aber das allein beruhigte ihn nicht.
Gerne hätte er sich noch länger damit beschäftigt, doch Rhaldars Stimme zwang ihn dazu, seine Aufmerksamkeit auf die Anwesenden zu richten.
„Ihr solltet einen Schluck trinken, Aigonn. So wie Ihr ausseht, könnte man denken, Ihr hättet in der vergangen Nacht den Weg ins Reich der Götter selbst gefunden. Da, nehmt!“
Ob du weißt, wie wahr deine Worte sind?, schoss es Aigonn durch den Kopf, als er aus der Hand des jungen Mannes einen Becher nahm, der die gleiche Teemischung der zurückliegenden Nacht zu beinhalten schien. Rhaldar selbst setzte sich zu seiner Frau ans Feuer, die in ihrer Arbeit innegehalten hatte und zögerlich zu Aigonn aufsah, als suchte sie noch nach Worten. Nach einem kurzen Moment, den Aigonn dagestanden hatte wie eine Statue, entschied sie sich dazu, die Spindel wegzulegen, aufzustehen und Aigonn ihre Hand zu reichen. „Ich bin Rinelda.“ Ohne groß nachzudenken, erwiderte er die Geste und wiederholte unnötigerweise seinen Namen, den alle Menschen in diesem Haus spätestens am Morgen von Lorn erfahren hatten.
Rinelda schien froh, diese Pflicht erledigt zu haben, sank wieder neben ihren Mann ans Herdfeuer und flüsterte Rhaldar eine kurze Bemerkung ins Ohr, die dieser nur lächelnd abtat. Aigonn bemerkte, dass die junge Frau einen deutlich härteren Dialekt zu sprechen pflegte als Rhaldar und bewies ihm auf einmal, welch große Mühe alle Anwesenden – allen voran Lorn – sich gegeben hatten, um Aigonn überhaupt ihre Anliegen kenntlich zu machen.
Aigonn wusste von den vielen verschiedenen Sprachen, die mit jeder Meile weiter nach Norden an Fremdartigkeit gewannen. Obgleich er sich bei seiner Abreise auf diesen Umstand vorbereitet hatte, indem er sich für den Notfall einfache Handzeichen überlegt hatte, war ihm bisher kaum bewusst gewesen, wie sehr sich die Dialekte von dem seiner Heimat zu verändern begonnen hatten. Rineldas Worte klangen vertraut und fremdartig in einem, wie Geschwister, deren Äußeres sich ähnelte, obwohl sie sich kaum in ihrem Leben begegnet waren. Rhaldar selbst konnte demnach nicht aus dieser Gegend kommen. Die Art, wie er sprach, erinnerte Aigonn noch zu sehr an sein Zuhause.
Da nun Rinelda sich vorgestellt hatte, geriet Lorns Frau ebenfalls in die Bedrängnis, ihre Unhöflichkeit der vergangenen Nacht wettzumachen. Es war ersichtlich, dass sie sich für ihr Fehlverhalten genierte, was Rhaldar anscheinend anstachelte, es ihr leicht zu machen. „Das ist Naane“, stellte er sie vor. „Die Mutter der schönsten Frau an dieser Küstenlinie.“ Mit diesen Worten zog er süffisant die Augenbrauen in die Höhe und drückte Rinelda einen Kuss auf die Wange, ohne Aigonn dabei aus den Augen zu lassen. Diese errötete, wagte jedoch nicht, ihren Blick abzuwenden.
Rhaldar hatte gerade den Mund zu einer Ansprache geöffnet, als die Tür einen Spalt breit aufglitt, mit der nächsten Windböe aber krachend gegen die Wand geschlagen wurde. Vom Reif erstarrtes Laub wirbelte durch den Eingang, bevor die junge Frau, die Aigonn kurz vor dem Einschlafen erst entdeckt hatte, zügig die Tür wieder in ihren Rahmen drückte, um sich danach zu versichern, dass deren Verankerung von dem heftigen Aufschlag keinen Schaden genommen hatte. Rhaldar beobachtete sie missgünstig. Als die junge Frau keinerlei Mängel feststellen konnte, fragte er scharf: „Möchtest du dich unserem Gast nicht auch endlich vorstellen?“
Die Frau wirbelte herum, als wäre ihr erst in diesem Moment wahrlich aufgefallen, dass sie nicht alleine war. Nachdem die Bedeutung der Worte von Lorns Schwiegersohn bei ihr angekommen war, huschte ein düsterer Schimmer über ihre Miene. Sie machte langsam zwei Schritte auf die kleine Gruppe zu, scheinbar unsicher, was sie tun sollte.
„Ihr müsst verzeihen“, wandte Rhaldar sich an Aigonn. „Sie ist die Sklavin meiner Schwiegereltern. Wir haben viel Zeit und Mühe daran verschwendet, ihr vernünftiges Benehmen beizubringen …“
Rhaldar sprach einfach weiter ohne zu bemerken, dass Aigonn ihm gar nicht zuhörte. Es war die erste Gelegenheit für ihn, die Frau – Sklavin sogar – bei normalem Tageslicht anzusehen. Auf den ersten Blick schätzte er sie auf dasselbe Alter wie Rhaldar, vierundzwanzig vielleicht. Die leicht eingefallenen Wangen und die tiefen Schatten unter ihren Augen machten es schwer, ein vernünftiges Urteil zu fällen. Noch schwieriger wurde es durch ihre knabenhafte Gestalt. Dichtes, schmutzig braunes Haar fiel ihr bis an die Taille, war jedoch in mehreren dicken Zöpfen verfilzt. Der Schlamm an ihrer Kleidung vollendete den Gesamteindruck dessen, was sie war. Eine Sklavin. Hin und wieder ereilte auch in seiner Heimat jemanden das unglückliche Schicksal, seine Schulden nicht mehr mit Wertgegenständen tilgen zu können, sodass er sein eigenes Leben bieten musste.
„Hörst du schlecht?“ Rhaldars ungehaltene Frage ließ die junge Frau nur unbeeindruckt mit der Augenbraue zucken, bevor sie zu Aigonn gerichtet sagte: „Tiuhild.“ Nicht mehr. Rhaldar wirkte nicht zufrieden mit dieser kurzen Vorstellung, doch Aigonn war die Kritik, die er verlauten ließ, auf einmal völlig egal. Es fiel Aigonn schwer zu sagen, woran er sein plötzliches Stutzen festmachen konnte. Vielleicht war es der Klang, den ihre Stimme diesem einen Namen verliehen hatte, die Art, wie sie die Silben betonte. Doch was immer es gewesen sein mochte, es brachte eine Erinnerungen in seinem Hinterkopf zum Schallen: Bilder aus einer anderen Generation, ein junger Seher auf dem Weg fort von der Heimat, Gesprächsfetzen … Auf einmal hatte die Sklavin, Tiuhild, nur mit ihrem Namen eine Spur gelegt, auch wenn Aigonn sich Herzschläge später selbst töricht vorkam, sich so viele Hoffnungen zu machen. Sie war nur eine Frau, deren Art zu reden derer ähnelte, die er aus Erinnerungsbruchstücken im Umkreis einer Grabstätte hatte finden können. Es musste hunderte, tausende Menschen geben, die diese Eigenschaften mit ihr gemein hatten.
Und doch … Als Aigonns Gedanken in die Wirklichkeit zurückkehrten, traf ihn aus Tiuhilds Augen ein finsterer Blick, scheinbar der Lohn dafür, dass er sie so lange unvermittelt angestarrt hatte. Rhaldar und Rinelda sahen Aigonn an, als könnten sie sich nicht recht vorstellen, welches Interesse er an dieser Sklavin haben konnte. Aigonn glaubte bereits, eindeutige Gedanken hinter dem fragenden Blick des jungen Mannes zu sehen, als ein weiteres Mal die Tür aufflog und diesmal Lorn im Eingang zum Langhaus erschien.
Der Hausherr machte sich erst gar keine Mühe, den Wind auszusperren. Stattdessen hielt er die Tür mit einer Hand, blickte sich um, bis er Aigonn erkannte und rief ihm schließlich zu: „He, Aigonn! Kommt her!“
Überrascht folgte der dieser Aufforderung. Er stand noch kaum auf den Beinen, als Lorn schon wieder halb aus dem Eingang verschwunden war und ihn von draußen gegen die Böen anwies: „Zieht Euch an! Ich will Euch etwas zeigen!“
„Wohin gehen wir?“ Aigonn wich ein Stück zurück, als der Wind von draußen eisige Kälte ins Haus trug. Lorn aber wiederholte nur ungeduldig: „Zieht Euch schon an! Ich will Euch nur demonstrieren, worauf Ihr Euch noch in dieser Nacht einlassen wolltet!“
Die Sturmgeister jagten heulend über das flache Land. Obwohl Aigonn das Schafsfell über seinem Mantel bis weit an die Augen herangezogen hatte, durchdrang die Kälte noch immer jeden einzelnen Knochen. Vom Raureif erstarrte Heide knirschte unter seinen Füßen, während er Lorn durch das kleine Dorf folgte, das er nun zum ersten Mal wirklich betrachten konnte.
Im Grunde war es kaum mehr als ein Weiler, eine winzige Siedlung ohne Einfriedung, ohne Palisaden. Vier große Bauerngehöfte dominierten das Bild mit ihren Langhäusern und ließen Behausungen wie die von Lorn fast winzig erscheinen. Aigonn fiel es schwer zu sagen, was er von diesem Anblick halten sollte. Die Leute hier schienen Selbstversorger zu sein, Bauern und Handwerker zugleich. Die vielen Boote, die er immer wieder durch Schlitze und halb offene Türen erkennen konnte, brachten ihn zu der Schlussfolgerung, dass die meisten Familien vom Fischfang leben mussten. Waren sie dem Rand dieses riesigen Sees schon so nahe?
Lorn für seinen Teil beachtete Aigonns nachdenkliches Staunen nicht. Während der alte Mann drei Schritte vorlief, konnte Aigonn erkennen, aus welchem Grund er die halbe Nacht nicht im Haus verbracht hatte: Lose Bretter und Lederplanen waren immer wieder wie große Flicken auf den Hausdächern zu sehen. Sie waren der notdürftige Schutz für die Hausbewohner als Folge des Sturms, der große Teile der grasgedeckten Dächer mit sich gerissen hatte. Überall bemerkte Aigonn Männer und Frauen, die gegen den scharfen Wind versuchten, neue Bündel des Deckmaterials unter den alten anzubringen. Die Sturmgeister jedoch gaben sich Mühe, ihre Arbeit binnen Herzschlägen zunichtezumachen.
„So wie Ihr Euch umschaut, scheinen derartige Stürme eine Seltenheit in Eurer Heimat zu sein.“ Lorn wandte sich kurz zu Aigonn um, während der Wind ihm die struppigen Haare vor Augen und Nase wehte.
„Allerdings.“ Aigonn hätte es selbst nicht besser ausdrücken können. „Ich glaube …, ein- oder zweimal in meiner Kindheit hat ein starkes Unwetter ein paar Dächer abgedeckt. Viel schlimmer ist der Regen, wenn die Erde an den Hügelhängen nass wird und in Bewegung gerät. Die Schlammmassen haben zu Zeiten meines Großvaters schon ganze Siedlungen mitgerissen.“
Lorn blickte noch einmal zu ihm und an seinen Augen war abzulesen, dass er sich das eben von Aigonn beschriebene Phänomen nur schwerlich vorstellen konnte. Sein Tonfall ließ Skepsis erkennen, als er den Bericht kommentierte: „Ich habe schon davon gehört, dass der Süden bergig sein soll.“
Aigonn musste schmunzeln. Das Land, das er vor sich sah, ließ vermuten, dass Lorn niemals vor einer Anhöhe gestanden hatte, die größer war als sein eigenes Langhaus. Nachdem sie das kleine Dorf hinter sich gelassen hatten, tat sich vor den Männern reifbedeckte Heide auf. Aigonn fühlte sich unwillkürlich an das Rote Moor erinnert, den undeutbaren Blick seiner schwarzen Augen, in welchen sich die Tore zur Anderen Welt verbargen. Dieses Land kam ihm nahe mit seinen Heidelbeerbüschen, die entlaubt wie zarte Skelette zwischen Wollgras und Torfmoos standen. Nur fiel es ihm schwer, die Stimmen der Geister, die im Boden ausharrten und auf den Frühling warteten, durch das Heulen des Sturmes zu vernehmen.
Birken und vereinzelte Kiefern säumten ihren Weg. Der Geruch nach Salz wurde präsenter, während der Boden zu Aigonns Erstaunen immer weicher wurde, immer sandiger.
„Ihr müsst aufpassen“, warnte Lorn, als er bemerkte, wie Aigonns Schritte immer unsicherer wurden. „Hier beginnt bald eine Düne. Der Frost wird den Sand ein wenig gefestigt haben, aber sie wird an vielen Stellen trotzdem nachgeben.“
„Eine Düne?“ Das Wort selbst sagte Aigonn nichts, doch bevor er nach seiner eigentlichen Bedeutung fragen konnte, erkannte er den Sand, der immer häufiger zwischen den Heidesträuchern zu sehen war, und sich nach einem kurzen Stück mehrere Fuß hoch auftürmte. Der Wind gewann mit jedem Schritt mehr an Kraft. Das Heulen vermischte sich mit einem gleichmäßigen Rauschen, das Aigonn die Nackenhaare in die Höhe trieb. Entfernt schien es das tosende Echo der Rur zu sein, eines gigantischen Flusses. Er hatte bereits den Mund geöffnet, um Lorn danach zu fragen, als der alte Mann bereits grinsend die Düne erklomm und ihm von oben aus zurief: „Nun kommt! Seht Euch an, welchen Gott Ihr besänftigen wollt!“
Aigonn wurde mulmig zumute. Seine Fantasie begann abenteuerliche Bilder zu spinnen, während er sich bemühte, auf dem feinen Sand sicheren Halt zu finden. Das Rauschen schien immer näher zu kommen, immer stärker zu werden – wenn nicht in der Realität, dann tief in seinem Kopf. Ihm lag eine neue Frage auf den Lippen, als er endlich die Kuppe der Düne erreicht hatte. Sobald er sich aber aufgerichtet hatte, zerfloss sie, wurde nebensächlich. Sein Geist war Momente lang unsicher, ob das blinde Auge nicht eine neue Vision vor seinem Angesicht beschworen hatte. Doch selbst als er es schloss, konnte er der Wahrheit nicht entgehen. Was er sah, war real.
Wasser. Unvorstellbare Massen Wasser füllten das Sichtfeld vor seinen Augen. Ein kleiner Strand wie die letzte Erinnerung an das Festland war hinter der Düne zu erkennen, bevor er nichts anderes sah als Wasser. Das Unwetter hatte graue Regenwolken herangetragen. Ton in Ton verschwamm dieser gewaltige See irgendwo in weiter Ferne mit dem Horizont. Der Wind hatte das Wasser zu tosenden Wellen aufgetürmt, die wie tausende Mäuler nach dem Festland zu langen schienen, Schaumkronen wie Speichel auf den Lippen trugen.
Aigonn fehlten die Worte. Mit aufgerissenen Augen starrte er auf die Küstenlinie, unfähig, die Gefühle trennen zu können, die ihn überkamen. Ehrfurcht, Furcht, beeindruckt von der schier unbegrenzten Macht der Natur, die dieses Phänomen erschaffen hatte und mit jedem Wellenschlag die Menschen an seine Präsenz erinnerte. Einen Gott hatte Lorn ihn genannt, diesen See, dieses … Meer. Und er musste recht haben. Was konnte so etwas anderes sein als ein Gott?
Es war Lorns Lachen, das Aigonn aus seiner Starre befreite. Der alte Mann sah ihn fast väterlich an, amüsiert von Aigonns Erstaunen über etwas für ihn so Alltägliches. Trotzdem lag respektvoller Nachdruck in seiner Stimme, als er mit Blick über die tosende See zu erzählen begann: „Im Moment herrscht Flut. Es wird nicht mehr lange dauern, bis sich das Meer zurückzieht und Ihr das Watt sehen könnt.“
Aigonn hatte ihm immer noch mit nur einem Ohr zugehört, bis in seinem Geist angekommen war, was Lorn berichtet hatte. „Es zieht sich tatsächlich zurück, dieses … Meer? Ich habe Geschichten davon gehört, aber … um ehrlich zu sein, hatte ich sie für Flunkereien der Händler gehalten.“
„Oh nein!“ Lorn lag wieder ein Lachen auf den Lippen. „Einmal am Tag und einmal in der Nacht zieht sich die See ein Stück vom Land zurück, bis sie den fernsten Punkt erreicht hat, um wiederzukommen. Es gibt unzählige Geschichten, welchen Grund dieses Phänomen haben könnte, doch unser Schamane sagt – und das glaube ich auch – dass das Meer uns daran erinnern will, dass wir nicht frei über es verfügen können. Wenn das Wasser fort ist, können Fischer und Händler nicht auslaufen und das sollte auch sonst niemand zu dieser Zeit versuchen. Das Meer nennt uns den geeigneten Zeitpunkt, nicht wir selbst.“
Aigonn nickte nur. Sein Blick schien untrennbar mit den Schaumkronen verbunden, die auf den Wellen gen Festland brandeten. Hier endete die Macht der Menschen, endgültig. Diese Gewalt konnte niemand bezwingen, schon gar kein kleiner Reisender mit seinem Schiff. Es war eine Gewissheit, die ihn gleichzeitig erschütterte und enttäuschte. Hier endete also sein Weg gen Norden. Vorerst.