Читать книгу Wer fürchtet sich vorm Sensenmann? - Astrid Schilcher - Страница 7

Tagewerk

Оглавление

Die gestrige Ernte war erfolgreich. Saubere Handarbeit, die tausenden Seelen einen achtsamen, schmerzlosen Übergang bereitet hat. Beim Verspeisen meiner Ham & Eggs verspüre ich die Genugtuung eines gewissenhaft erledigten Jobs. Heutzutage wird nach meinem Geschmack viel zu viel Trara um persönliche Motivation und Erfüllung in der Arbeit veranstaltet. Selbst- und Sinnfindung im Job. Damit werten wir ehrliches Schaffen ab. Ein guter Teil der Tätigkeiten ist ohnehin sinnlos und unproduktiv. Wieviel Lifestyle-Blogger, Kommunikationskoordinatoren oder Digital Marketing Spezialisten, die Konsumenten dazu zu bewegen versuchen, überflüssige Produkte zu kaufen, braucht die Menschheit wirklich? Interessanterweise verwenden gerade sie viel Energie darauf, ihre Bedeutung in einem kranken kapitalistischen System künstlich aufzublasen, während Straßenkehrer oder Bauern einfach ihre Arbeit verrichten, ohne beständig über deren tieferen Sinn nachzugrübeln oder zu versuchen, ihr Image mit banalen Postings in Online-Foren aufzupolieren.

Mir genügt die Gewissheit, mein Handwerk zu beherrschen. Da mich kein Meeting von der Arbeit abhält, steht ein produktiver Tag bevor. Ich habe mir für heute ein hohes Pensum vorgenommen, um mir einen Puffer zu verschaffen. Zuvor muss meine Sense noch gedengelt werden. Qualitätsarbeit setzt perfekt in Schuss gehaltenes Werkzeug voraus. Auf einem flachen Amboss hämmere ich das Sensenblatt mit wohldosierten Schlägen vom Bart zur Spitze hin aus und entgrate mein Arbeitsgerät abschließend noch mit einem Wetzstein. Als finalen Test lasse ich eine Daune auf die Schneide hinabgleiten. Mühelos durchtrennt sie das federleichte Gebilde. Mein Tagewerk kann beginnen.

Die ersten viereinhalb Stunden ernte ich Seelen für Michael, sammle diese und geleite sie abschließend als Gruppe über die Schwelle zu ihrer Etage im Jenseits. Müde vom Sensen und der ständigen Teleportation gönne ich mir dreißig Minuten Pause, bevor ich dasselbe Programm für Luzifer absolviere. Beim Durchschneiden der Lebensfäden begegnen mir die vertrauten Reaktionsmuster: Ungläubigkeit, Zorn, Flucht- und Verhandlungsversuche, Jammern, manchmal Würde, ganz selten Humor. Der größte Schock für die meisten besteht darin, dass sie über den Tod hinaus sie selbst bleiben, in alle Ewigkeit nichts Anderes und niemals mehr als ihre irdische Person sein werden. Keine wunderbare Transformation von Dummen in Kluge oder Sündern in Anständige. „Du bist dazu verdammt, der zu bleiben, der du am Ende deines Lebens warst und dir selbst auf immer Gesellschaft zu leisten“, lautet das gnadenlose Urteil des Jüngsten Gerichts.

Das Zwielicht der Abenddämmerung malt bereits lange Schatten, als etwas Sonderbares passiert. Ich bin gerade dabei, den Lebensfaden einer Afro-Amerikanerin in Englewood, einer der gefährlichsten Gegenden Chicagos, zu durchtrennen. Über vierzig Prozent der Bewohner hier leben in Armut, die Arbeitslosigkeit beträgt an die dreißig Prozent und die Kriminalitätsraten sind jenseits von Gut und Böse. Der tägliche Überlebenskampf inmitten von Verfall, Angst und Resignation hat sie müde gemacht. Sie sitzt auf den Stufen zu ihrem schäbigen Häuschen, der Blick, den sie mir zu wirft scheint zu sagen: „Glaub ja nicht, dass ich mich vor dir fürchte, nach allem was ich schon gesehen und erlebt habe.“ Auf der gegenüberliegenden Straßenseite üben sich einige Teenager in Breakdance. Sie können mich nicht sehen.

„Ma'am, es ist Zeit“, sage ich nur. Sie erwidert mein aufforderndes Nicken und ich hebe gerade meine Sense, als ein etwa fünfzehnjähriges Mädchen mit wilden Dreadlocks auf dem schmalen Bürgersteig auf uns zukommt. Sie stoppt, ihre Gefahrenantenne auf Empfang geschaltet. Aber anstatt kehrt zu machen bleibt sie einfach stehen und scheint mich anzustarren. Unmöglich, ich bin nur für die Todgeweihten sichtbar. Ich halte inne und unsere Augen vertiefen sich ineinander. Sie trägt ein schwarzes T-Shirt mit weißer Aufschrift: Even though I walk through the valley of the shadow of death, I will fear no evil...

Ein paar Augenblicke verweilen wir regungslos und ich spüre, trotz meiner Enttäuschung über den abgedroschenen Psalm, eine ungewöhnliche Kraft, die von dieser Seele ausgeht. Dann dreht sich das Mädchen um und ich erwarte den zweiten Teil der Bibelstelle, for You are with me.

Aber die Kleine überrascht mich erneut. Ihren schmalen Rücken zieren die Worte: for I am the meanest motherfucker in the valley. Solch Dreistigkeit entlockt mir ein seltenes Lächeln und lässt mich beinahe vergessen, worum ich hier bin. Dann ist der Zauber gebrochen. Dreadlock-Girl verschwindet um eine mit Graffitis beschmierte Ecke und ich bringe meinen Auftrag zu Ende.

Als ich daheim endlich die Füße hochlegen und mein Abendessen, Nudelsalat von gestern, verzehren kann, bin ich gleichermaßen müde wie aufgekratzt. Die Begegnung mit dem Mädchen geht mir nicht aus dem Kopf, verfestigt sich zu einer Vorahnung, die sich nicht verscheuchen lässt. Ob es sich dabei um ein gutes oder düsteres Omen handelt, kann ich beim besten Willen nicht sagen.

Zur Ablenkung notiere ich meine Ideen zur Grenzerfahrungsparty mit dem Sensenmann und versuche, daraus eine klare Arbeitsanweisung für Traumfänger, meinen Adjutanten, zu formulieren. Erteilt man ihm unmissverständliche Direktive, kann man sich auf ihn verlassen. Eigeninitiative oder kreative Inputs darf man von ihm allerdings nicht erwarten, aber damit habe ich mittlerweile gelernt, umzugehen. Am meisten schätze ich an ihm, dass er nicht ständig Lob braucht und über ausreichende Intelligenz verfügt, selbst zu erkennen, wo die Grenzen seiner Fähigkeiten liegen. Er ist zufrieden mit seiner Position als Herr über die bedeutenden Träume, also nicht die nächtlichen Entrümpelungsaktivitäten des Gehirns, die mit dem Aufwachen bereits vergessen sind, sondern jene emotional aufrüttelnden Schlaferlebnisse, deren bewegende Inhalte im Bewusstsein hängen bleiben.

Fünfunddreißig Minuten später liegen die wichtigsten Eckpunkte meines Plans vor mir. Über die ganze Welt verteilt habe ich fünfzig Medien nach ihrer Popularität ausgewählt. Ausnahmslos geldgierige Scharlatane. Im Innersten sehnen sie sich danach, ihre eigenen Lügenmärchen glauben zu können und wirklich über übernatürliche Kräfte zu verfügen. Eine Traumvision, in der mein Gehilfe ihnen im Schlaf aufträgt, auserkorene Menschen an einem besonderen Kraftort zu versammeln und ihnen geheimes Wissen sowie immerwährendes Glück verspricht, werden sie nur zu gerne glauben. Ihnen die Eingebung einzuhauchen, eine Grenzerfahrungsparty zu veranstalten und dafür kräftig die Werbetrommel zu rühren, ist ebenfalls eine leichte Übung. Sobald Herr oder Frau „Ich habe einen direkten Draht ins Jenseits“ mittels Insiderwissen-Bluff und Auserwähltsein-Versprechen Leichtgläubige für eine Massen-Séance ködern, ist unser Plan auf Schiene. Mehrere tausend Teilnehmer pro Medium, perfekte zeitliche Koordination, das ergibt eine ordentliche Ernte in maximal neunzig Minuten.

Mein Handyklingelton, natürlich Don’t Fear the Reaper von Blue Öyster Cult, katapultiert mich aus meinen Gedankenspielen. Unsere Human Resource Leiterin. Das einzig Gute an ihr ist, dass man in Terminen mit ihr herrlich Bullshit-Tombola spielen kann. Employee Branding, War of Talents, Resilience, Empowerment, Agility und Work-Life Integration – BINGO! Von Arbeitsrecht hat sie null Ahnung, darum kümmert sich unser Legal Department, und die Lohnverrechnung wurde outgesourct. Somit kann sie sich voll auf ihre Stärke konzentrieren und anderen die Zeit stehlen.

Als Schlüsselmitarbeiter von Death Inc. sei ich berufen, eine Employer Value Proposition zu erarbeiten. Diese sei absolut unverzichtbar, um die hochbegabten und sensiblen Millennials als Mitarbeiter zu gewinnen. Der Arbeitsauftrag sei mit den beiden Vorständen abgesprochen, beeilt sie sich zu versichern, um ihrem Anliegen mehr Gewicht zu verleihen. Ich knurre ein „Okay, verstanden“ und beende das unliebsame Gespräch. Wenn sie wirklich glaubt, dass ich mit derlei Blödsinn meine Zeit vergeude, hat sie sich geschnitten. Stattdessen finde ich auf YouTube die Szene aus The Meaning of Life, in der der Grim Reaper bei einer Dinner-Party auftaucht und maile sie mit den Worten „Habe gleich ein Image-Video für dich gedreht“ an meine Kollegin.

Welch ein ereignisreicher Tag. Bevor ich unter die Bettdecke kriechen kann, erstelle ich noch rasch meine Namensliste für morgen und stelle am Ende fest, dass sich vier davon in Englewood, Chicago, aufhalten. Interessant, wie unser Unterbewusstes wirkt, dem aufsteigenden retikulären Aktivierungssystem sei Dank. Auch nach Jahrtausenden kann mich das Wunder des menschlichen Gehirns noch in Staunen versetzen. Obwohl ich schon unzählige Fachbücher gelesen habe, bleibt mir das ausgeklügelte Zusammenspiel diffuser Neuronennetzwerke, Erregungsimpulse und Bewusstseinsfilter nach wie vor ein Rätsel. Fast beneide ich die Esoteriker, die sich mit Plattitüden á la „Die Energie folgt der Aufmerksamkeit“ zufriedengeben. Aber nur fast. Ich bin ein Mann der Tiefe. Wenn ich mich mit etwas beschäftige, dann gründlich, wenn ich etwas erledige, dann gewissenhaft.

Wer fürchtet sich vorm Sensenmann?

Подняться наверх