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Dreadlock-Girl

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Der Sensenmann aus ihrem Traum. Sie ist ihm tatsächlich begegnet. In echt, kein Kostüm-Freak. Angst hat sie keine verspürt, vielmehr das Gefühl von Seelenverwandtschaft. Was sie gesehen hat war ein Ritual, eine Art Zeremonie, um das Unbegreifliche, Furcht einflößende ertragbar zu machen. Genauso, wie sie ihre täglichen Rituale hat, um dem Leben in einer Kriegszone zu trotzen. Das Bett gewissenhaft machen, die Locken mit Dread-Wax pflegen und herausstehende Haare mit einer Häkelnadel wieder einarbeiten, frischen Kaffee zum Frühstück aufbrühen. In einer Welt, wo Wochentage in einen Strudel von Gewalt und Hoffnungslosigkeit münden, bieten sie einen Anker, um eine Ahnung von Würde, Anstand und Harmonie zu wahren.

Die meisten ihrer Nachbarn sind Drogen-Dealer oder Prostituierte, die einzigen Geschäfte in der Gegend Spirituosenläden, Tankstellen und Beauty-Shops mit Perücken in grellen Farben. Ihr älterer Bruder gehört zur örtlichen Gang, was mehr oder weniger einer Versicherungspolizze gleichkommt. Außerdem ist eines ihrer Augen grün, das andere braun. Iris-Heterochromie. Diese Pigmentstörung hat ihr in der abergläubischen Nachbarschaft eine gewisse Unantastbarkeit eingebracht. Aber sie ist nicht so naiv, sich darauf zu verlassen.

Englewood hat die besten Flohmärkte. Auf einem hat sie ihren wertvollsten Besitz, ein klappriges Fahrrad, erbeutet. Dreimal die Woche strampelt sie darauf gute zwölf Kilometer, um Lebensmittelgeschäfte mit frischem Obst und Gemüse und eine Bibliothek zu finden, vor allem aber, um zum Selbstverteidigungstraining zu kommen. Dafür hat sie sämtlichen Priestern der Gegend die Ohren vollgequatscht, bis einer Erbarmen mit ihr gezeigt hat. Der Deal ist fair. Einmal die Woche putzt sie das Gotteshaus und bügelt die Wäsche des Kirchenmannes, dafür bekommt sie Taschengeld, dass ihr diesen Luxus ermöglicht.

Jeden Tag klettert sie auf das Viadukt der stillgelegten Eisenbahnlinie. Von dort hat sie einen Blick auf das Bestattungshaus - einzig florierendes Business - Särge und weinende Gesichter. Das Begräbnis ihrer Mutter liegt bereits über ein Jahr zurück. Ein Blutgerinnsel in ihrem großmütigen, durch Junkfood und Bewegungsabstinenz malträtiertem Herz. Seitdem waren die Geschwister auf sich allein gestellt. Der Vater saß im Knast. Alkoholisierte Schlägerei mit Todesfolgen. Für ihren Bruder war er ein Held, für sie ein Versager.

Auch eine Gedenkstätte für eines der zahlreichen Gewaltopfer, ein Haufen aus Stofftieren, Plastikblumen und Spirituosenflaschen, liegt in ihrem Sichtfeld. Die Höhe verleiht der Gegend eine zerbrechliche Schönheit. Leben, hin und wieder Lachen, eine kleine Geste der Liebenswürdigkeit, trotz aller Widrigkeiten. Alte Männer, die auf Plastikstühlen vor leerstehenden Häusern sitzen, reden oder Cribbage spielen. Kinder, die auf ihren Skateboards kleine Kunststücke vollbringen. Aber sie weiß, dass diese fragilen Momente von Idylle ungefähr so beständig sind, wie eine Seifenblase. Fäuste, Schüsse, Messer oder Spritzen können sie jederzeit zerplatzen lassen. Deswegen setzt sie beim Hinunterklettern auch ihr Don't-fuck-with-me-Gesicht auf. Sie will von hier weg und der Sensenmann wird ihr dabei helfen.

Wer fürchtet sich vorm Sensenmann?

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