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Kapitel 4

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Das knapp einhundert Hektar große Naherholungsgebiet Fühlinger See lag westlich vom Rhein und war ein siebenfach unterteilter, künstlich angelegter See am nördlichen Stadtrand von Köln. Sportattraktivitäten wie Surfen, Inlineskaten und Tauchen, aber auch Baden im speziell abgegrenzten Badebereich lockten an heißen Sommerwochenenden bis zu achtzigtausend Menschen an. Seit Mitte der 1980er Jahre wurde das Gelände für Triathlon-Wettkämpfe genutzt, nachdem die ersten Europameisterschaften über die Langdistanz ausgerichtet worden waren.

Am Blackfoot Beach reckten hinter einer Absperrung zahlreiche Schaulustige ihre Köpfe in die Höhe und erhofften sich so einen Blick auf die nackte Frauenleiche. Mithilfe eines Rettungsbootes war sie vor über einer Stunde aus dem See gezogen worden. Immer wieder leuchteten die Blitzlichter von Smartphones auf. Die Polizeibeamten hatten alle Mühe, die Tote vor den neugierigen Blicken der Menschen abzuschirmen.

„Bitte meine Herrschaften, hier gibt es nichts zu sehen. Verlassen Sie bitte den Uferbereich“, befahl der Polizeibeamte Walter Gries und warf den Leuten einen Blick zu, der seine ganze Empörung über die menschliche Sensationslust zum Ausdruck brachte. Walter Gries hatte Mark eingearbeitet, nachdem er sein Studium an der Hochschule der Landespolizei erfolgreich absolviert hatte. Walter, der nur noch wenige Jahre von der wohlverdienten Pension entfernt war, war zu einer Art Vaterersatz geworden. Vor allem in der Zeit nach dem Mord an Marks Schwester Patricia und nach dem Kontaktabbruch zu seinen Eltern. Walters Gesichtsausdruck erhellte sich, als er seine drei Kollegen erblickte, die sich mühsam durch den Menschenauflauf kämpften.

„Da seid ihr ja endlich. Ich werde noch wahnsinnig bei den ganzen Idioten.“

Aus verquollenen Augen beobachtete Walter eine Gruppe Jugendlicher, die sofort auf ihre Handys drückten, sobald sich eine Lücke auftat. Walters Tränensäcke wirkten dicker als sonst, doch vermutlich lag das an den schlechten Lichtverhältnissen.

„Und dem da drüben polier ich gleich seine Visage“, blaffte Walter.

Mark folgte seinem Blick und verzog den Mund, als er im Gedränge einen stadtbekannten Zeitungsreporter erkannte. Für Marks Geschmack war der Kerl in letzter Zeit zu oft zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort.

„Der muss auch sehen, wie er seine Brötchen verdient“, versuchte er, seinen Kollegen zu beruhigen. Zeitgleich beobachtete er die Kollegen von der Spurensicherung, die im Licht der aufgestellten Scheinwerfer den Strand nach möglichen Beweisen absuchten.

Obwohl Mark gebürtiger Kölner war und nie woanders gelebt hatte, kam er meist im Sommer hierher. Das letzte Mal vor einigen Jahren zum Summerjam Reggae-Festival, zu dem ihn seine Ex-Freundin Larissa mitgenommen hatte. Damals war der gesamte Strandabschnitt mit Zelten und grölenden Fans überfüllt, und er mit Larissa noch glücklich gewesen. Nachdenklich schaute er zu der Stelle, an der Larissa und er gestanden und Arm in Arm nach den Klängen der Musik getanzt hatten. Niemals wäre ihm in dem Augenblick in den Sinn gekommen, dass das mit Larissa und ihm einmal so enden würde. Betrogen hatte sie ihn. Eiskalt und ohne mit der Wimper zu zucken. Mit seinem damaligen besten Freund. Womit sie mit einer einzigen Nacht sechs Jahre Beziehung das Klo runtergespült hatte. Mark schluckte. Zweimal waren ihm die beiden noch über den Weg gelaufen. Das erste Mal am Tag der Gerichtsverhandlung, bei der er sich um Kopf und Kragen reden musste, um einer drohenden Bewährungsstrafe zu entgehen, nachdem Mark seinem Widersacher durch einen Schlag ins Gesicht den Unterkiefer gebrochen hatte. Das zweite und letzte Mal hatte er die beiden im Supermarkt gesehen, als er an einer Kasse gestanden hatte. Seitdem hatte er nie wieder etwas von Larissa gehört. Genauso plötzlich und unvorhergesehen wie sie in sein Leben getreten war, war sie nach dem letztendlich klärenden Streit mit Sack und Pack ausgezogen. Niemals zuvor hatte er eine Frau so geliebt wie Larissa, und nie zuvor war er so verletzt worden wie von ihr.

Er atmete tief durch und setzte sich in Bewegung. Langsam stapfte er durch den aufgeweichten Sand und folgte Stefan. Peter Eiser hingegen blieb bei Walter Gries, um die aufgebrachten Passanten zu beruhigen.

Die Leiche der toten Frau lag auf dem Sandstreifen, auf Höhe des Seepavillons, mit dem Gesicht nach oben. Schon von Weitem erkannte Mark den fortgeschrittenen Verwesungsprozess. Die Haut der Toten war aufgedunsen, schimmerte grünlich, und ihr Gesicht wirkte merkwürdig entstellt.

Er betrachtete die leblose Hülle und beobachtete den Rechtsmediziner Dr. Karsten Mallow, der die Tote gerade inspizierte.

Bei seiner Körpergröße von zwei Metern hatte der schlaksige Mallow sichtlich Mühe, seine Beine in eine bequeme Position zu bringen.

„Hallo Karsten. Seit wann seid ihr hier?“, fragte Mark verwundert und schaute auf die Armbanduhr. Der glatzköpfige Rechtsmediziner, der es seit vielen Jahren vorzog, das wenige Haar, das ihm geblieben war, abzurasieren, lächelte freundlich. „Seit einer halben Stunde, schätze ich. Aber ich habe eben erst angefangen, weil Staatsanwältin Reinhold so viel wissen wollte.“

„Maja?“, fragte Mark und ertappte sich dabei, wie ein Lächeln über sein Gesicht huschte.

Mallow nickte kaum wahrnehmbar und beugte sich zur Leiche.

„Kannst du schon was sagen?“, kam Mark zur Sache.

„Kommt drauf an. Die Dame packen wir auf jeden Fall jetzt ein. Was ich euch aber sagen kann, ist, dass sie nicht im See ertrunken ist.“

„Nicht? Also wurde sie hier nur entsorgt?“

„Exactamente. Ich schätze mal, dass sie hier irgendwo in den See geworfen wurde. Vermutlich von einer Brücke. Das geht am schnellsten“, erklärte der Rechtsmediziner und betrachtete die tote Frau. „Aber eine klassische Wasserleiche ist unsere Dame nicht. Die hatte schon lange Zeit, bevor sie ins Wasser geworfen wurde, das Zeitliche gesegnet.“

„Woran siehst du das?“

„Ganz einfach. So weit wie der Verwesungsprozess vorangeschritten ist, hätte sich auf ihrer Haut schon längst ein Algenrasen bilden müssen. Und wie du siehst. Niente.“

„Was schätzt du, wie lange sie schon tot ist?“, hakte Stefan nach.

„Schwer zu sagen. Schaut mal hier.“ Mallow deutete zum Bauch der Toten und setzte hinterher: „In der Unterleibregion werden die ersten Veränderungen auf Grund der einsetzenden Fäulnis sichtbar. Grünliche Verfärbungen, die durch den Abbau des roten Blutfarbstoffes entstehen. Unter der Bauchwand befindet sich der Dickdarm, von dort breiten sich Darmbakterien besonders schnell aus. Und je weiter die Fäulnis voranschreitet, desto mehr weitet sich die Grünverfärbung auf die gesamte Körperoberfläche aus. Seht ihr das hier?“

Mallow tippte mit der Pinzette auf ihren Unterarm.

„Diese dunklen Verästelungen sind Blutadern. Wir sagen auch Durchschlagen des Venennetzes dazu. Und wenn ihr hier mal schaut …“ Mallow bewegte die Pinzette zu den Gesichtsöffnungen. „Wenn aus Mund und Nase bräunliche Flüssigkeit austritt, dann ist das kein Blut, sondern Fäulnisflüssigkeit. Und nach einer angemessenen Zeit bilden sich auf der Haut Blasen, die mit Flüssigkeit gefüllt sind und einreißen können. Die Verwesung ist sehr weit vorangeschritten. Wäre sie ertrunken, hätte ich auf knapp zwei Wochen getippt. Aber die Sache hat einen entscheidenden Haken.“

„Der Algenrasen“, sagte Stefan.

„Exactamente. Algen besiedeln eine Wasserleiche Pi mal Daumen nach drei bis vier Tagen, aber wie wir bereits festgestellt haben …“

„… sind da weit und breit keine Algen“, beendete Mark den Satz.

Mallow nickte. „Und noch etwas ist interessant: Angenommen sie wurde tatsächlich ermordet, und darauf deuten allein schon die Würgemale an ihrem Hals hin, dann war ihrem Mörder egal, ob sein Opfer schnell gefunden wird oder nicht.“

Mark warf Stefan einen erstaunten Blick zu.

„Woher weißt du das denn?“

„Ein Mörder, der will, dass sein Opfer so lange wie möglich unentdeckt bleibt, befestigt einen schweren Gegenstand an der Leiche. Damit verhindert er, dass sie durch die Fäulnisgase an die Wasseroberfläche getrieben wird. Konkret bedeutet das: Wirft man eine stark verweste Leiche ins Wasser, muss man auf jeden Fall einen schweren Gegenstand an ihr befestigen, damit sie überhaupt untergeht.“

„Was glaubst du, weshalb ihr Mörder so vorgegangen ist?“

Karsten Mallow schnalzte mit der Zunge.

„Schwer zu sagen. Vielleicht Zeitnot. Oder vielleicht wusste es der Mörder nicht besser. Aber das glaube ich nicht. Ich vermute schlicht und ergreifend Gleichgültigkeit“, mutmaßte Mallow, der jetzt mit der Pinzette eine Haarsträhne anhob.

„Herr Birkholz. Herr Rauhaus. Schön, dass Sie sich auch mal blicken lassen. Und Karsten, kommst du voran?“, durchbrach die tiefe Stimme von Thomas Dahlmann ihr Gespräch.

Der Leiter des Kriminalkommissariats KK11 und die Polizeibeamtin Barbara Roth überquerten den Sandstreifen und kamen geradewegs auf sie zu. Ein Windstoß wirbelte Dahlmanns graue Haare durcheinander und spielte mit seiner Stoffhose, wodurch sich seine dürren Beine abzeichneten. Erst letztes Jahr noch hatte sich unter seinem Hemd ein unübersehbarer Bauchansatz gezeigt. Seine Haare waren weitaus dunkler gewesen. Was hatte seinen Chef im letzten Jahr so altern lassen? Mark wusste keine Antwort, und er ertappte sich bei dem Gedanken, ob ein Zusammenhang bestand zwischen Dahlmanns beschleunigtem physischen Verfall und dem Telefongespräch, das Stefan belauscht hatte. Mark nickte seiner verhassten Kollegin Barbara Roth zu. Es kostete ihn Überwindung, obwohl er nicht sagen kannte, was genau ihn an ihr störte. Vielleicht war es ihr blonder Pagenkopf, der an den ausgefransten Haarschnitt einer Barbie-Puppe erinnerte, nachdem ein Mädchen die Haare mit einer Schere bearbeitet hatte.

„Na Mark, heute die Elektrozahnbürste mit einem Kamm verwechselt?“, begrüßte ihn Barbara.

Er bedachte sie mit einem schiefen Seitenblick und konterte: „Und die Augen deines Friseurs werden wohl auch immer schlechter.“

„Du bist ja so witzig, Mark. Und so originell“, erwiderte sie überspitzt freundlich.

Kommentarlos wandte er sich dem Rechtsmediziner und seinem Chef zu. „Das Opfer ist an einem anderen Ort ermordet worden. Im See ist sie nur entsorgt worden“, hörte er Mallow sagen, während Dahlmann die Frauenleiche betrachtete.

„Wie lang lag sie ungefähr im Wasser?“, wollte sein Chef wissen.

„Grob geschätzt? Keine zwölf Stunden.“

Dahlmanns Augen weiteten sich und irritiert starrte er auf die Blasen und die Verfärbungen der Leiche. „Die muss doch gewaltig gestunken haben.“

Mallow stand auf und trat neben Dahlmann. „Davon kannst du ausgehen. Die hat einige Zeit vor sich hingedümpelt, um es mal so zu sagen. Aber wenn du dir mal ihre Hände anschaust, da sieht man, dass diese typische Waschhaut kaum vorhanden ist“, sagte Mallow, während er die Pinzette in seinen Alukoffer zurücklegte und ihn zuklappte.

Zwei Bestatter näherten sich und verfrachteten die Leiche der Frau in einen Leichensack.

Mark nutzte den Moment der allgemeinen Aufbruchstimmung und verabschiedete sich von seinen Kollegen. Er überquerte den Strand und sah ein letztes Mal zum See. In der Ferne erkannte er Karsten Mallow, der sich gestikulierend mit Dahlmann unterhielt. Neben dem Rechtsmediziner stand Stefan, der seine Arme vor der Brust verschränkt hatte, zustimmend nickte und sich danach Barbara Roth zuwandte. Mark drängte sich an den Passanten vorbei und hörte, wie Walter energisch auf die Leute einredete, doch er verstand nur Wortfetzen.

Er ließ den Strand hinter sich, schlenderte den schmalen Fußgängerweg hinauf und erreichte die Überdachung einer Eventlocation. Durch die Fensterscheiben erkannte er leere Stühle vor den festlich geschmückten Tischreihen. Er hielt sich rechts und passierte eine Tauchschule, vor deren Eingang ein Taucher in Lebensgröße stand. Danach durchquerte er das offenstehende Tor, durch das er schon auf dem Hinweg gegangen war, und schritt über den mit Laub bedeckten asphaltierten Weg. Hinter den Absperrpollern bog er in den Stallagsbergweg ein, wo er seinen Wagen auf dem Parkplatz der Paintballanlage geparkt hatte. Er schloss die Fahrertür auf und setzte sich hinters Lenkrad, doch augenblicklich jagte ein stechender Schmerz durch seine Schulter. Er stöhnte auf und schnellte mit schmerzverzerrtem Gesicht nach vorn. Doch das Brennen in seiner Schulter ließ nur langsam nach. Je nach Wetterlage machte sich seine Verletzung bemerkbar, die er sich bei einem Schusswechsel eingefangen hatte. Wobei der körperliche Schmerz zu ertragen war. Im Gegensatz zu dem Seelenschmerz, den er empfand, wenn er an seine tote Schwester Patricia dachte. Fast zweieinhalb Jahre war es her, dass sie Patti neben einem Waldweg gefunden hatten. Ermordet. Von einer menschlichen Bestie, von der seitdem jede Spur fehlte. Die grausamen Bilder vom Tatort, die sich in Marks Kopf unlöschbar eingebrannt hatten, tauchten vor seinem geistigen Auge auf, und es kam ihm vor, als wäre seitdem kein Tag vergangen. Davor hatte er sich am meisten gefürchtet. Dass die Bilder nie verblassen und die Wunden erneut aufreißen würden, sobald wieder eine junge Frau ermordet worden war.

Den Abend zuvor hatte der 1. FC Köln gegen Schalke mit einem erfolgreichen 2:0 den Klassenerhalt geschafft. Schon während des Spiels hatten sie ausgiebig gefeiert. Die Quittung dafür hatte Mark prompt am nächsten Morgen kassiert. Kopfschmerzen vom allerfeinsten, aber ansonsten war seine Laune ungetrübt, bis am späten Vormittag Walter angerufen und sie über einen Leichenfund unterrichtet hatte. Angeblich hatte ein Bürger in der Nacht aus dem angrenzenden Wald Schreie gehört und ein Gewaltverbrechen befürchtet.

Am Tag darauf war seine Vermutung zur traurigen Gewissheit geworden, nachdem ein Reiter eine tote Frau in der Nähe eines Wanderweges gefunden hatte.

Zu dem Zeitpunkt hatte Mark noch nicht geahnt, wie gravierend sich die nachfolgenden Stunden auf sein weiteres Leben auswirken sollten. Unmittelbar nach Walters Anruf hatten sich Mark und Stefan auf den Weg zum Tatort gemacht. Noch heute klang der Song von Iron Maiden, den Stefan auf der Hinfahrt lautstark mitgesungen hatte, in Marks Ohren. Die Luft im Fahrzeuginneren war stickig gewesen. Er hatte die Klimaanlage aufgedreht und gleichzeitig das Radio lauter gestellt, um Stefans schiefes Gepfeife nicht hören zu müssen. Danach hatte er eine halb volle Coladose geleert und gefragt: „Wo müssen wir überhaupt hin?“

Noch heute erinnerte er sich an Stefans Gesichtsausdruck, mit dem er ihn angesehen hatte.

„Ich dachte, du wüsstest …“

„Weiß ich auch. Die nächste Straße links. Irgendwo da vorn müsste es sein“, hatte er selbstgefällig geantwortet.

Keine Minute darauf hatten sie an einem Straßenrand geparkt. Walter Gries war ihnen winkend entgegengeeilt und hatte gewartet, bis sie ausgestiegen waren.

„Wo wart ihr denn so lange, Jungs? Kommt beeilt euch. Die Frau ist übel zugerichtet.“

Schlagartig war Marks gute Laune verflogen, und sein Magen hatte sich verkrampft. Dasselbe Problem hatte er bei Obduktionen. Eine Schwäche, die er versuchte, vor anderen zu verbergen. Nur dem Rechtsmediziner Dr. Karsten Mallow hatte er sich anvertraut, und der besorgte ihm seitdem regelmäßig Kreislauftropfen.

Sie hatten sich auf den Weg zum Leichenfundort gemacht. Die gesamte Zeit hatten sie sich angeschwiegen, bis sie schließlich einen Abhang erreichten, vor dem sich weitere Kollegen versammelt hatten. Die Leute von der Spurensicherung hatten bereits ein Zelt aufgebaut, das die Sonnenstrahlen reflektierte, die sich durch den lichten Wald kämpften.

Eine Kollegin sprach ihn an und hielt ihm einen Zettel unter die Nase, während Stefan und Walter zum Leichenfundort vorgingen. Die Angelegenheit, die seine Kollegin mit ihm klären wollte, war mehr als unwichtig gewesen. Längst wusste er, dass damals alles nur vorgeschoben war. Ein Ablenkungsmanöver, um Zeit zu gewinnen.

Er hatte den Tatort nur wenige Minuten nach Walter und Stefan erreicht. Die Spurensicherer suchten das Gebiet bereits nach Beweisen ab. Sofort stachen ihm die betretenen Gesichter seiner Kollegen ins Auge. Noch während er über das Absperrband stieg, verließ Stefan das Zelt. Mit aschfahlem Gesicht und Tränen in den Augen trat er ihm entgegen.

„Mark, geh da bitte nicht rein!“

„Was?“

„Bitte. Tu es nicht.“

Stefan machte einen Schritt zur Seite und versperrte ihm den Zugang zum Zelt.

„Was soll der Quatsch?“

„Mark, bitte!“ Mittlerweile hielt er ihn an der Schulter fest. Mit einer ruckartigen Bewegung riss er sich los. Erneut packte ihn Stefan am Oberarm. „Ich flehe dich an. Tu es nicht.“

Mark stieß ihn zur Seite, stürzte ins Zelt und verharrte in der Bewegung. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf die am Boden liegende Frauenleiche. Übelkeit stieg in ihm hoch, und Sekunden darauf erbrach er sich schwallartig, als er begriff, dass vor ihm die sterblichen Überreste seiner Schwester Patricia lagen.

Es folgte eine Zeit der tiefen Trauer. Der Selbstvorwürfe. Der inneren Zerrissenheit. Ein zermürbender Gefühlswechsel von Wut, Verleugnung bis hin zu unerträglichen Rachegelüsten, die ihm selbst Angst gemacht hatten. Dahlmann hatte das einzig Richtige getan und ihn von den Ermittlungsarbeiten abgezogen, mit der Auflage, sich einer Psychotherapie zu unterziehen. Sechs Sitzungen hatte er über sich ergehen lassen, aber die seelische Erleichterung, die er sich dadurch erhofft hatte, war ausgeblieben. Zwar hatten sich seine Schlafprobleme und sein ständiges Gedankenkarussell gebessert, doch nach wie vor waren sie vorhanden. Nach einem Monat hatte er die Therapie abgebrochen und Dahlmann gegenüber erklärt, dass er keine Seelenklempnerin bräuchte und selbst alles in den Griff bekommen würde. Niemals zuvor in seinem Leben hatte er sich so geirrt. Unverändert rissen seine Wunden wieder auf und setzten sein Gedankenkarussell in Gang, sobald er zu einem Tatort gerufen wurde und eine ermordete junge Frau vorfand.

Er atmete tief durch, während die Bilder seiner toten Schwester langsam blasser wurden, bis sie schließlich verschwanden. Eine erdrückende Stille umgab ihn, die er kaum ertrug. Hastig schaltete er das Radio ein und lauschte der Männerstimme, die mit einer Eilmeldung das Programm unterbrach. Er traute seinen Ohren kaum, als der Nachrichtensprecher von einer Wasserleiche berichtete, die am frühen Abend von der Kölner Polizei aus dem Fühlinger See gezogen worden war. Die Jungs von der Presse leisteten gute Arbeit und verdienten seinen Respekt. Fehlte nur, dass der Sprecher die Identität der Toten preisgab, doch nichts dergleichen passierte. Stattdessen wurde der nächste Song gespielt. Aber wer war die Tote?

In den letzten Wochen war die eine oder andere Vermisstenanzeige aufgegeben worden. Teenager, die nach Diskobesuchen oder Wochenendtrips spurlos verschwunden waren und erst Tage später wieder zu Hause auftauchten. Menschen, die aus ihrer Ehe flüchteten, um nach wenigen Tagen reumütig zurückzukehren. Aber auch junge Frauen, die nach einiger Zeit nicht wieder auf der Matte standen, sondern vermisst blieben. Ob die Tote eine von ihnen war?

Der Wetterbericht und die nachfolgenden Staumitteilungen rauschten an ihm vorbei. Erst das Klingeln eines Handys riss ihn aus seinen Gedanken. Er langte zu seiner Jacke, doch bis er das Smartphone zu fassen bekam, hatte es aufgehört zu klingeln.

Sein Blick wanderte zur Mondsichel, die am sternenklaren Abendhimmel leuchtete, und blieb an seinem Mobiltelefon hängen. Ein Bekannter hatte angerufen, der sich vermutlich auf ein Kölsch mit ihm treffen wollte. Er beschloss, ihn später zurückzurufen, denn vorher wollte er noch etwas nachsehen. Er aktivierte den Whatsapp-Messenger. Auf dem obersten Statusbild grinste Stefan mit einem Bierglas in der Hand. Die Fotos darunter waren von Gruppen oder Freunden. Er scrollte hinunter zu einem Bild, auf dem eine Frau mit dunkler Löwenmähne zu erkennen war. Maja. Er öffnete den Chat und las die Zeile unter dem Namen ‚Staatsanwältin Maja Reinhold‘. Zuletzt online um acht Uhr. Vor drei Minuten.

Sein Blick fiel auf das Datum im Chatverlauf. Siebzehnter Oktober. An dem Tag hatte er Maja das letzte Mal eine Nachricht geschickt, die bis zum heutigen Tag unbeantwortet geblieben war.

Er hatte Maja vor eineinhalb Jahren kennengelernt. Es war ihr erster gemeinsamer Fall gewesen. Ein Serienkillerfall, der ihnen an die Substanz gegangen war und ihnen alles abverlangt hatte. Sowohl fachlich als auch emotional. Von Anfang an war der Wurm in ihrer Beziehung. Wenn man überhaupt davon sprechen konnte. Vielmehr war es eine geschäftliche Verbindung, die hin und wieder in eine Liaison abdriftete. Die Zähne hatte er sich an ihr ausgebissen. Er war schon kompliziert, doch Maja übertraf ihn um Längen. Dabei hatte er gedacht, er wäre nach dem Vier-Augen-Gespräch auf Majas Geburtstagsfeier vor über einem Jahr endlich am Ziel seiner Träume gewesen. Das war er auch, eine Viertelstunde lang. Solange, bis kurz nach Mitternacht plötzlich Majas Ex-Freund auftauchte und ihr vor versammelter Mannschaft einen Kuss verpasste, der sogar Stefan sprachlos gemacht hatte. Innerhalb kürzester Zeit war Mark von Wolke sieben abgestürzt und hart auf den Boden der Realität aufgeschlagen. Eine gefühlte Ewigkeit hatte er gebraucht, um zu begreifen, was da vor seinen Augen passierte. Keine zehn Minuten darauf hatte er die Party verlassen. Vielmehr war er geflüchtet und hatte nie mehr ein Wort darüber verloren, nachdem er von Dritten erfahren hatte, dass Maja seitdem wieder mit ihrem Ex-Freund zusammen war. Mehr als ein Jahr hatte er das Thema Maja Reinhold gemieden, und er hätte es auch weiterhin durchgezogen, wenn nicht vor vier Wochen ihr Abendessen beim Italiener dazwischengekommen wäre.

Maja und er hatten bis spät abends über Ermittlungsakten gebrütet und über das mögliche Motiv eines Mörders nachgedacht, als Maja plötzlich auf die Idee kam, beim Italiener etwas Essen zu gehen. Was sie schließlich auch getan hatten. Seitdem war mehr als ein Monat vergangen, doch nach wie vor wusste er nicht, was er von dem Abend halten sollte. Sie hatten beide zu viel Wein getrunken, und plötzlich hatte er Maja nach Dingen gefragt, nach denen er besser nicht gefragt hätte.

Er startete den Motor, lenkte den Wagen vom Parkplatz und beschloss, in seine Wohnung zu fahren.

Animus

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