Читать книгу Animus - Astrid Schwikardi - Страница 15
Kapitel 8
ОглавлениеMark hielt vor einem zweistöckigen Gebäude aus roten Klinkersteinen und fuhr rückwärts in eine Parklücke. Ein frisch poliertes Chromschild mit der Aufschrift ‚Dr. Pascal Heidkamp – Zahnarzt‘ hing an der Mauer neben dem Eingang.
„Nette Gegend“, bemerkte Maja und stieg aus.
Die gesamte Fahrt hatten sie über Thomas Dahlmann gesprochen, obwohl Mark nicht abstreiten konnte, dass ihn noch etwas anderes beschäftigte: Maja.
Das letzte Jahr war für ihn gleichzeitig der Beginn einer zermürbenden Selbstfindungsphase gewesen. All die unverarbeiteten Baustellen, die er im Laufe seines Lebens aufgemacht und nie fertig gestellt hatte, waren in ihm hochgekommen. Unter anderem seine damalige On-Off-Beziehung zu seiner Ex-Freundin Larissa, die aus ihm einen anderen Menschen gemacht hatte. Nie hatte er es ihr recht machen können. Ständig hatte sie ihn kritisiert und ihn herumkommandiert, bis sie zum Schluss sogar versucht hatte, ihm den Umgang mit seinen Freunden zu verbieten. Er war nur noch ein Schatten seiner selbst gewesen. Ein Pantoffelheld, der samstagnachmittags lieber mit Larissa durch die Geschäfte schlenderte, als zum Bundesligaspiel zu gehen. In dieser Endphase ihrer Beziehung hatte alles in ihm rebelliert. Sein Körper hatte mit Symptomen reagiert, die er bis dahin nur aus der ‚Apotheken-Umschau’ kannte. Täglich Kopf- und Magenschmerzen, dazu Nackenverspannung, Schlaflosigkeit und Albträume. Das alles hatte er in Kauf genommen, damit Larissa bei ihm blieb, nur geholfen hat es nichts. Sie hatte ihn trotzdem verlassen und war heimlich zu seinem damaligen besten Freund gezogen, nachdem er die beiden zusammen im Bett erwischt hatte. Die Trennung von Larissa, Pattis Ermordung und der anschließende Kontaktabbruch zu seinen Eltern. All das war zu viel auf einmal gewesen.
Nach und nach hatte er sich immer mehr zurückgezogen, bis er schließlich nicht mehr ans Telefon gegangen war. Zu dieser Zeit war er am Tiefpunkt seines Lebens angelangt. Seine Lebensfreude, sein unbändiger Optimismus und seine Leidenschaft zum Fußball, all das war versiegt. Im Nachhinein betrachtet war das die Quittung für die jahrelange Selbstverstümmelung gewesen, die er mit sich selbst betrieben hatte. Hinter ihm lag ein anstrengender Weg der Selbsterkenntnis, der mit Pattis Tod begonnen hatte und noch längst nicht zu Ende war. Und Maja? Sie hatte die längst zugeschlagenen Türen, von denen er nicht gewusst hatte, dass sie überhaupt noch existierten, wieder geöffnet. Maja war seine Medizin. Sein Serum. Nur ahnte sie nichts davon, und er hatte auch nicht vor, ihr das zu sagen, solange sie an ihrem treulosen Freund festhielt.
In Gedanken versunken stieg er aus und ließ seinen Blick über das Anwesen der Heidkamps schweifen.
„Mark?“
Verwundert schaute er auf.
„Was überlegst du?“
Er fuhr sich über sein unrasiertes Kinn. „Ich hatte gerade darüber nachgedacht, ob Dahlmann am Dienstag irgendwie anders war …“, log er.
„Was glaubst du, wer könnte hinter ihm her sein?“
Mark zog seine Schulterblätter hoch. „Das kann ich dir beim besten Willen nicht sagen. Da gibt es bestimmt einige.“
Mark richtete seine Aufmerksamkeit auf einen älteren Mann mit grauen Haaren und Lodenmantel, der vor dem Haus zu warten schien. Ein leises Summen war zu hören, bis der Senior im Haus verschwunden war. Mark sprintete los und erreichte den Eingangsbereich rechtzeitig, bevor die Tür ins Schloss fiel. Mit einem breiten Grinsen hielt er Maja die Tür auf, während der Rentner seinen Mantel an der Garderobe aufhängte und die Zahnarztpraxis betrat.
Am Ende des Flurs führte eine Treppe hinauf in den ersten Stock. „Ich glaube, es ist besser, wenn sie auf unseren Besuch vorbereitet ist“, sagte Maja augenzwinkernd und drückte auf den oberen Klingelknopf.
Eine Frau mit langem Pferdeschwanz und einer um mindestens zwei Nummern zu großen Haremshose wartete am Treppenabsatz und blickte die Staatsanwältin und den Kriminalkommissar fragend an. Mark schätzte sie auf Mitte dreißig. Neben ihr stand ein kleines Mädchen mit rotblonden Zöpfen und leicht abstehenden Segelohren. Ängstlich umklammerte sie das Bein ihrer Mutter.
Mark vermutete, dass es sich um Dahlmanns Enkeltochter handelte, aber sicher war er sich nicht, da er die Enkelin bisher nur ein einziges Mal auf einem Familienfoto gesehen hatte, vor über eineinhalb Jahren. Er erinnerte sich deshalb noch so genau an den Tag, weil Dahlmann zum ersten Mal seine verletzliche Seite gezeigt und erstmalig über seine Enkelkinder gesprochen hatte. Bis dahin hatte Mark nicht gewusst, dass sein Chef schon zweifacher Großvater war. In diesem Augenblick war ihm zum ersten Mal bewusst geworden, wie penibel Dahlmann sein Privatleben abschirmte und alle Menschen, die ihm etwas bedeuteten, von seinen Kollegen fernhielt. Aber wieso?
Mark lächelte die Kleine an.
„Sind Sie Natalie Heidkamp?“, hörte er Maja fragen, und zeitgleich veränderte sich der Gesichtsausdruck der Frau, die mit einem Mal besorgt aussah. Kaum wahrnehmbar nickte sie.
„Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Wir sind Kollegen Ihres Vaters. Ich bin Staatsanwältin Maja Reinhold und das ist Kriminalhauptkommissar Mark Birkholz.“
Die Frau nickte erneut und wich zurück. „Mein Vater ist nicht hier. Und meine Mutter auch nicht“, erwiderte sie forsch.
„Das ist bedauerlich. Wir hatten gehofft, Ihre Eltern bei Ihnen anzutreffen, denn offen gestanden machen wir uns große Sorgen um Ihren Vater. Seit zwei Tagen ist er nicht zum Dienst erschienen. Vielleicht wissen Sie ja, wo er sich aufhält.“
„Mama, was ist mit Opa?“, fragte die Kleine und blickte ihre Mutter aus großen Kulleraugen an.
„Opa geht‘s gut, Mäuschen. Mach dir keine Sorgen“, beruhigte Natalie Heidkamp ihre Tochter. Sie warf einen Blick über die Schulter und sagte: „Ich fürchte, ich kann Ihnen da leider nicht weiterhelfen. Wissen Sie, mein Verhältnis zu meinem Vater war in letzter Zeit nicht sonderlich intensiv … Wenn Sie verstehen, was ich meine?“
„Aber Mama, vielleicht weiß Oma, wo der Opa ist.“
Frau Heidkamp lachte gekünstelt. „Mäuschen, die Oma weiß auch nicht, wo der Opa ist.“
„Aber das weißt du doch gar nicht, wenn du sie noch nicht gefragt hast. Soll ich die Oma fragen?“
„Nein, lass die Oma bitte in Ruhe“, fuhr sie ihr Kind an.
Mark beugte sich zu der Kleinen hinunter. „Sag mal, wie heißt du eigentlich?“
„Was glaubst du denn, wie ich heiße?“
Er lachte. „Das ist aber eine gemeine Frage. Einen kleinen Tipp bräuchte ich schon.“
„Mein Name hat am Ende eine Spitze, und Mama macht dann noch einen Strich durch.“
„Also endet dein Name mit einem A.“
„Keine Ahnung, weiß nicht.“ Die Kleine verzog ihren Mund und zuckte mit den Schultern.
„Sie heißt Lisa“, lüftete die Mutter das Geheimnis.
„Lisa. Kaum ein anderer Name hätte besser zu dir gepasst. Sag mal Lisa, ist die Oma auch da?“, hakte er nach.
„Herr Birkholz, was soll das? Ich habe Ihnen doch gesagt, dass sie nicht hier ist.“
Lisa sah ihre Mutter mit weit aufgerissenen Augen an und schlang ihre dünnen Ärmchen noch fester um ihren Oberschenkel.
„Lass gut sein, Natalie“, vernahm Mark aus der Wohnung eine Frauenstimme. Kurz darauf erschien eine kleine, rundliche Frau an der Wohnungstür, die er eindeutig als Christine Dahlmann identifizierte. Erschöpft und blass sah sie aus, wenn auch durchaus wohl genährt. Eilig richtete er sich auf und reichte ihr die Hand.
„Wir stören Sie nur ungern, aber wir müssen dringend mit Ihnen sprechen. Ihr Mann ist seit zwei Tagen nicht mehr zur Arbeit erschienen, und wir machen uns natürlich Sorgen.“
„Sorgen?“, erwiderte sie nachdenklich.
Erst jetzt bemerkte er die Tränen in ihren Augen. Zu seiner Schande wurde er unsicher, und für einen Moment herrschte betretenes Schweigen.
Zum Glück ergriff Maja das Wort. „Ihr Haus wirkt unbewohnt. Wohnen Sie denn noch dort?“
Die Gesichter von Mutter und Tochter wirkten mit einem Mal wie versteinert.
Maja räusperte sich, nachdem die Frauen keinerlei Anstalten machten, ihr zu antworten. „Sein Dienstwagen ist ebenfalls spurlos verschwunden. Außerdem haben wir bei allen in Frage kommenden Krankenhäusern nachgefragt, doch dort wusste niemand etwas. Die ganze Situation ist mehr als sonderbar.“
Christine Dahlmann nickte. „Ich glaube, da gibt es noch mehr Dinge, über die sie sich wundern werden. Aber kommen Sie erst mal herein.“