Читать книгу Tödlicher Aufguss - Axel Birkmann - Страница 7

Tattooisme

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Es war das erste Mal für ihn, dass man ihn beauftragt hatte, nicht nur ein Phantombild von einem Gesicht zu zeichnen. Nein, der Polizeizeichner sollte eine Zeichnung von den Angaben und Beschreibungen eines Zeugen für einen kompletten Körper machen. Und das auch noch von einem nackten und seiner Meinung nach sehr hübschen Frauenkörper.

Alois Kreithmeier und Rainer Zeidler saßen am Schreibtisch und blickten interessiert auf die Zeichnung. Eine schlanke nackte Frau, mit schmalen Hüften, langen schwarzen Haaren, festem Busen und durchdringenden dunklen Augen schaute sie an. Sie war hübsch und hätte in jeder Männergazette auf den ersten Seiten abgebildet sein können, auch, wenn es sich hierbei nur um eine Bleistiftskizze handelte. Melanie hatte ein kurzer Blick darauf genügt. Die beiden Männer jedoch genossen es, die Zeichnung immer wieder anzustarren. Und sie ließen verlauten, sie müssten sich konzentrieren und sich das Bild einprägen, denn sie könnten ja später schlecht mit dem Bild in der Hand durch den Saunatrakt marschieren. Doch ihre Ausrede war eher dünn.

»Habt ihr sonst nichts zu tun, als der jungen Frau dauernd auf die Titten zu starren?«, schnauzte Melanie ihre beiden Kollegen an.

»Wir müssen uns seelisch und psychisch darauf vorbereiten«, klärte sie Alois auf. »Wir können diese junge Frau leider nur an Hand ihrer Figur und ihres Tattoos identifizieren. Mehr haben wir nicht.«

»Das ist mir schon klar. Und was macht ihr dann? Haltet ihr dann der Frau euren Ausweis vor die Nase und lest ihr ihre Rechte vor? Und verhaftet ihr sie dann und führt sie splitternackt ab?«

Kreithmeier schaute seine Kollegin ernst an.

»Was sollen deine blöden Fragen? Du kannst ja mitgehen. Dann darfst du sie in die Umkleide- oder in die Damensauna begleiten.«

»Ne lass mal. Ihr beide macht das schon. Da habe ich das vollste Vertrauen in euch. Ihr hängt ja schon seit einer Stunde über dieser Zeichnung. Und Kreiti, denk daran, es ist ein Nacktbereich, es fällt auf, wenn du die ganze Zeit im Bademantel herumläufst. Eigentlich seit ihr ja Undercover unterwegs.«

»Wir wissen ja gar nicht mal ob sie tatsächlich kommt. Wenn sie unsere Verdächtige ist, warum sollte sie dann zurück an ihren Tatort kommen?«

»Weil es erstens Mörder immer wieder auf eine unheimliche Weise an ihren Tatort zurück zieht und zweitens business as usual. Alles muss weiter gehen wie gewohnt. Das ist das Beste.«

»Wir könnten ja auch vor der Therme warten, bis sie kommt?«

»Geht ihr beiden nur mal rein. Der Rainer freut sich richtig. Gell?«

Rainer Zeidler grunzte nur bejahend.

Melanie sah ihn mitleidvoll an: »Der ist doch froh, wenn er mal keinen Plastikoverall trägt und aus seinem Labor im Keller herauskommen kann, die frische Luft einatmen und die Sonne auf seinem Körper spüren darf. Das Wetter ist super heute. Ihr könnt euch zwar noch nicht in einen Liegestuhl an den See legen, dafür ist es noch zu kalt, aber die Sonne scheint. Wobei das dann am Abend sowieso egal ist. Ab wann trifft sich denn die Szene?«

»Der Wildgruber hat gemeint, die ersten kommen so ab 17 Uhr. Direkt nach der Arbeit und bleiben dann bis zum Schluss. Er hat sich extra für heute Abend zum Dienst einteilen lassen. Er wird uns unterstützen.«

»Von der Dame mit der weißen Lilie am Hintern habt ihr kein Phantombild?«

»Nein. Sie muss etwa die gleiche Frisur haben, auch lange schwarze Haare. Und ihre Figur ist ähnlich. Sie könnten Schwestern sein, behauptet wenigstens der Wildgruber. Wir werden ja sehen.«

»Dann wünsche ich euch Beiden viel Spaß. Und was soll ich der Lehner sagen, falls sie zufällig nach dir fragen sollte? Dass ihr euch um 18 Uhr in der Keltenthronsauna treffen wollt? Falls sie wieder eine Suite mit ihrem Tennislehrer gebucht hat.«

»Ist sie mit dem noch zusammen?«

»Sieht so aus. Also, was soll ich sagen?«

»Ich bin im Außendienst. Ermitteln. Und lass diese Spitzen, Melanie. Keltenthron. Ich wüsste gar nicht, was ich machen soll, wenn sie plötzlich nackt vor mir stünde. Ich denke unserer gemeinsamen Zusammenarbeit wäre das abträglich. Ich würde sicher meinen Respekt vor ihr verlieren. Immer wenn ich dann vor ihr stehen, würde ich an unser Freikörperkulturtreffen denken.«

»Oder sie den Respekt vor ihr.«

»Schrecklich, einfach schrecklich«, stöhnte Alois.

»Jetzt mal den Teufel nicht an die Wand. Schnappt euch ganz einfach diese Frau, dann ist es später egal, wo ihr die aufgegriffen habt. Also viel Spaß«, sagte sie.

»Danke, den werden wir haben. Melanie, kann ich Gizmo so lange bei dir lassen?«

»Aber sicher doch. Gizmo darf heute bei Melanie übernachten, weil Herrchen sich unter nackte Frauen drängen muss, der Arme.«

Als Gizmo seinen und Melanies Namen hörte sprang er sofort von seiner Decke und tanzte um die Kommissarin herum. Melanie kraulte ihn hinter den Ohren und Gizmo genoss die Zärtlichkeiten.

»Na fein, da kann ich ja ohne Probleme verschwinden und euch allein lassen. Hast du noch etwas Spezielles zu tun?«, fragte Kreithmeier abschließend.

»Ich werde noch einmal den Mommsen, den Verleger befragen, es gibt doch noch einige Ungereimtheiten.«

»Welche denn?«

»Der Backhaus muss doch sicher einen Mail-Account gehabt haben und ein Handy. Mit diesen Infos könnte ich beim Provider seine letzten Mails und Telefonanrufe zurückverfolgen. Ihr habt doch kein Mobiltelefon gefunden, oder?«

»Nein«, antwortete Zeidler, »im Wagen und auch in der Wohnung nicht. Alles sehr mysteriös.«

»Na siehst du. Mit seinem Verleger hat er auf jeden Fall telefoniert und ihm per E-Mail Manuskriptseiten und Exposés geschickt.«

»Sicher ein Anhaltspunkt. Gut, häng dich dran. Wir stürzen uns in den Wellness-Tempel. Wünsch uns viel Erfolg.«

Melanie winkte ab: »Ihr beide seit wirklich zu bedauern.«

Sie ließ die beiden Männer allein und marschierte mit Gizmo zusammen Richtung Kaffeeautomat.

»Männer!« brummelte sie vor sich hin. »Vor allem in diesem Alter. Männer! Komm Gizmo.«

Gegen 18 Uhr trafen sich Kreithmeier und Zeidler mit Martin Wildgruber vor der Therme. Durch den Personaleingang schleuste er sie ins Innere zu einem Umkleideraum, in dem sie ihre Kleidung sicher verstauen konnten.

Rainer Zeidler war der Erste, der seine Straßenkleidung ausgezogen hatte und in einen Seidenkimono geschlüpft war. Kreithmeier ließ sich vom Saunameister einen kuscheligen Frotteebademantel geben. Als Rainer Zeidler sich auszog, konnte der Kommissar nicht um hin, ihn aus den Augenwinkeln zu betrachten, war er doch gespannt auf die geheimnisvollen Tattoos, die er sich in der Dragon Lady hatte stechen lassen. Obwohl Rainer ziemlich schnell seinen Kimono übergezogen hatte, konnte Alois einige von ihnen erspähen. Auf Rainers Schulterblatt entdeckte er das Zeichen von Yin und Yang, auf dem Rücken drei verzierte runde Kreise, die aussahen wie stilisierte Blumenkränze. Weitere konnte er zunächst nicht erkennen.

Martin Wildgruber öffnete eine Tür zum Wellness-Trakt, geleitete die beiden Polizisten hinein und schritt voraus Richtung Champagnerpool. Eine seiner Kolleginnen hatte für die Beiden zwei Liegen reserviert: direkt unter den Palmen in der Nähe des Schwimmbeckens. Von hier aus sollten sie einen guten Blick auf die badenden Gäste haben. Außerdem erlaubten sie ihnen den Zugang zum Paradise-Point, dem erhöhten Informationscounter für das Servicepersonal. Von hier konnte man fast den gesamten Bereich der Ruheliegen überblicken. Die richtige Ausgangsbasis, um nach den beiden Frauen Ausschau zu halten. Auf Wunsch der Geschäftsleitung und auch der beiden Kommissare, wurde die Anwesenheit der Polizisten dem übrigen Personal verschwiegen. Nur Martin Wildgruber und der Geschäftsführer der Anlage wussten Bescheid, warum sie heute zwei Kriminalbeamte als Gäste bei sich hatten.

Rainer breitete sein Badetuch über die Liege und ließ den Kimono fallen. Jetzt konnte Kreithmeier das erste Mal seinen Kollegen völlig nackt betrachten. Für seine über 50 Jahre hatte dieser eine gute Figur. Sicher halfen ihm auch seinen tibetanischen Übungen, die er jeden Morgen vor dem Frühstück ausführte.

»Du hast ja mehrere Tätowierungen«, staunte Kreithmeier und starrte auf seinen nackten Kollegen.

»Ja, ich habe früh damit angefangen. Auf der Schulter ist das Zeichen des Yin und Yang. Seine Kräfte sind es, die in ihrer Vernetzung die Lebensenergie ausmachen. Yin und Yang – das Leben in Balance, Gut und Böse, Hell und Dunkel – sind alles Begriffe aus der alten chinesischen Philosophie. Das Potenzial der beiden Urkräfte von Yin, den abwärts gerichteten Energiekräften, und Yang, den Aufwärtsstrebenden Energiekräften.«

»Und wegen diesem Yin und Yang machst du deine fünf Tibeter jeden Morgen?«

»Alois, ich bin wirklich stolz auf dich, du hast sie heute das erste Mal bei ihrem richtigen Namen genannt. Die fünf Tibeter. Richtig: der Kreisel, die Kerze, der Halbmond, die Brücke und der Berg.«

»Stopp Rainer, du musst sie mir jetzt nicht hier nackt vor machen, es reicht. Ich weiß es. Du kannst es.«

»Meine fünf Tibeter sind spezielle Übungen aus dem Yoga, die eine ganzheitliche Wirkung haben. Die Übungen sind sanft genug, dass sie in jeder Alters- und Leistungsstufe durchgeführt werden können. Selbst du könntest sie machen. Und das würde dir sicher nicht schaden: Aktivierung deines Körpers, Verbesserung der Durchblutung, Kräftigung deiner Rumpfmuskulatur, Dehnung bestimmter Muskelgruppen und vor allem auch die Verbesserung deiner Verdauung. Bei dem Mist, den du immer so isst.«

»Super. Klingt richtig toll.«

»Verarsch mich nicht. Es steckt eine sehr interessante Philosophie dahinter: Alles was sich schnell dreht ist stabil. Dreht es sich zu schnell, dann ist es nicht mehr zu kontrollieren bzw. zu steuern. Dreht es sich zu langsam, wird alles instabil. Dreht es sich nicht mehr, fällt es um.“

»Jetzt dreht es sich mir gleich. Zurück zu deinen Tattoos. Was bedeuten die Blumenkränze auf deiner Hüfte?«, fragte er.

Rainer drehte sich um die Achse. »Das sind indische Juwelen.«

»Und was bedeutet das? Etwas Religiöses?«

»Wohl Eher Glück und Wohlstand.«

»Und dieses Schriftzeichen auf deiner Wade?«

»Das heißt Om mani padme hum, das ist der Juwelen-Lotus. Ein Mantra.«

»Ich verstehe gar nichts. Bist du Buddhist oder Hindu, weil du dich so gut mit diesen Sachen auskennst.«

»Nein, das eher nicht. Mich interessieren die Kultur und vor allem die Weisheiten, die dahinterstecken. Om mani padme hum heißt wörtlich übersetzt letztendlich gar nichts, es ist nicht wichtig, was es bedeutet, sondern nur wie es klingt. Ein Mantra ist ein Lied, eine Hymne oder auch nur ein Vers, der beim Yoga gesummt oder gesungen wird. Die einzelnen Töne zwingen dich zu bestimmten Atemübungen, die dann deinen Körper schwingen lassen.«

»Puuh, was du alles so weißt. Und das Tattoo auf deinem Oberarm?«

»Im Yoga ist das Rezitieren von Mantren während der Meditation sowie im Gebet üblich«, klärte ihn Rainer auf. »Und die Tätowierung auf meinem Oberarm ist ein Elefant. Ganesha. Gemäß einer hinduistischen Legende hat Ganesha einen menschlichen Körper und einen Elefantenkopf. Jedes seiner Körperteile symbolisiert ein spirituelles Prinzip. Unter anderem sollen Ganeshas große Ohren und sein Kopf für Weisheit stehen, die durch sravana – das Hören – und manana – das Denken – erworben wurde. Ein Elefantenkopf auf einem menschlichen Körper soll höchste Weisheit repräsentieren. Warum interessierst du dich eigentlich für meine Tattoos? Möchtest du dich auch mal stechen lassen?«

»Ohhhh, ich weiß noch nicht. In meinem Alter? Dafür ist es zu spät. Und es tut auch richtig weh.«

»Es geht. Ich habe mir mein erstes Tattoo erst mit Vierzig stechen lassen. Und dann kam alle zwei Jahre eins dazu. Die kleinen gehen, wenn man vom Preis und von den Schmerzen ausgeht.«

»Dragon Lady?«

»Wie bitte?«

»Du hast sie alle vom Sven in der Dragon Lady stechen lassen?«

»Ja, woher weiß du das?«

»Der Typ hat was angedeutet.«

»Der Mann ist wirklich gut, den kann ich dir nur empfehlen, wenn du dir auch mal etwas tätowieren lassen willst.«

»So weit bin ich noch nicht. Ich habe nur deine Tattoos bewundert und vor allem nicht gewusst, dass du so was hast.«

»Gut. Lassen wir das einstweilen. Wie gehen wir jetzt weiter vor?«, wechselte Rainer Zeidler das Thema. »Wir sind ja nicht zum Spaß in der Therme. Hast du einen Plan?«

»Wir sollten unsere Sachen hier bei den beiden Liegen lassen, und immer wieder unauffällig durch den Saunabereich laufen und nach der Schwarzhaarigen mit dem Lilien-Tattoo Ausschau halten«, schlug Alois vor.

»Und was sollen wir dann machen, wenn wir sie entdeckt haben? Verhaften kann ich sie ja nicht, nur mit einem Lendenschurz bekleidet.«

»Natürlich nicht. Wer sie entdeckt hat, darf sie nicht mehr aus den Augen lassen, muss an ihr dran bleiben. Ich habe mein Handy dabei. Zur Not müssen wir uns per Mobilfunk verständigen.«

»Das ist dumm. Ich kann es doch nicht mitnehmen, schon gar nicht ins Wasser oder in eine Sauna. Ich bin doch dann nackt«, bemerkte Rainer.

»Du hast Recht Rainer. Außerdem sollen Handys im Saunatrakt verboten sein. Dann müssen wir Kontakt über den Martin Wildgruber aufbauen, der ist am Information Point am China Imbiss. Wie auch immer, der, der sie entdeckt, darf sie nicht aus den Augen verlieren, muss sie sogar eventuell nach draußen verfolgen. Und da haben wir dann wieder die Möglichkeit zu telefonieren.«

»Und wie machen wir es mit dem Auto. Soll ich sie zur Not mit einem Taxi verfolgen?«

»Nein, das wäre zu auffällig.« Kreithmeier überlegte. »Nein das wohl nicht. Ich gebe dir meinen Zweitschlüssel für den BMW. Wer die Dame zuerst gefunden, bleibt an ihr dran, sogar, wenn er seinen Partner nicht mehr benachrichtigen kann. Ich habe sonst keine andere Idee. Du vielleicht?«

»Nein. Aber so kann es gehen. Ich denke, wenn wir sie gefunden haben, wird sie nicht sofort die Sauna verlassen. Was ist mit dem Wildgruber? Sucht der mit?«

»Ja. Aber er hat auch Dienst. Er muss immer wieder zwischendurch einen Aufguss durchführen.«

»Hoffentlich nicht einen erneuten Aufguss des Todes.«

»Rainer!«, ermahnte Kreithmeier seinen Kollegen.

»Entschuldige. Schon gut.«

»Wir sollten den Bereich in zwei Sektionen aufteilen.«

»Das ist eine gute Idee«, bestätigte Rainer. »Du observierst alles vom Canale Grande bis zum Eingang plus Keltenthron. Und ich kümmere mich hier um den Neubau. Quasi von der Bar bis zur Rosensauna. Und den Schwimmbadbereich.«

»Was ist mit dem Rutschenbereich Galaxy und dem Thermenparadies?«, fragte Alois.

»Ich denke, da wird sie sich nicht sehen lassen«, sagte Rainer.

»Da hast du denke ich Recht. So wie mir der Wildgruber erzählt hat, wollen die Tätowierten sich wie auf einer Tattoo-Messe betrachten und bestaunen lassen. In den anderen Bereichen ist Textilzwang und sie sind voll mit Kindern und Jugendlichen.«

»Das glaube ich auch«, bestätigte Rainer seinem Kollegen. »Der Catwalk findet hier drinnen statt. Also gut, packen wir es an. Ich werde auf jeden Fall immer wieder mal zwischendurch die eine oder andere Sauna besuchen und einen Aufguss über mich ergehen lassen.«

»Dann sei aber vorsichtig«, mahnte Alois, »lass dich nicht von fremden Frauen anquatschen und lass niemand an deinen Rücken.«

»Werde ich mir merken. Also bis später.«

Rainer Zeidler schulterte sein Handtuch und schlürfte in seinen Badeschlappen davon. Nackt wie Gott ihn geschaffen hatte, mit einer Handvoll Tattoos auf der Haut, und seinen langen Haaren, die er jetzt wie eine Frau offen trug und die ihm das Aussehen des ewig jung gebliebenen Hippies gaben, einem Relikt aus der Flower-Power-Bewegung.

Der Letzte, der Woodstock live erlebt hatte.

Kreithmeier schmunzelte. Erstaunlich, was in diesem Mann so alles steckte. Im Dienst der beflissene Beamte der Spurensicherung, genau und exakt, einen leichten makabren Humor, immer etwas zynisch und provozierend. Und jetzt dieser Sonnenanbeter, der eigentlich in einer falschen Zeit und an einem falschen Ort lebte.

Rainer würde seiner Meinung eher nach Kalifornien passen, eher zu einer Hippie Kommune, mit dem Motto Make Love Not War; und nicht in die Domstadt Freising, katholisch und erzkonservativ. Aber irgendwie mochte er ihn. Er war ein Individuum und auf ihn war Verlass, das hatte er schon oft bewiesen. Und er war ein wenig selbstverliebt. Deswegen auch die langen Haare, diese außergewöhnlichen Tattoos, diesen alten VW Käfer und wahrscheinlich hörte er zu Hause auch noch den guten alten California Sound. Grateful Dead und Jefferson Airplane. Egal. Jetzt war er hier. Und sie waren hinter ihrem einzigen Anhaltspunkt her, der sie auf die Spur des Mörders in der Therme führen könnte, wenn die Theorie Dr. Wahlmeiers richtig war.

Kreithmeier wickelte sich sein Handtuch um die Hüfte und stolzierte mit eingezogenem Bauch Richtung Saunenbereich. Er blickte von seinem Platz in die große Halle. Vor ihm breitete sich der Champagnerpool mit Bar, Sprudelliegen und Jacuzzi aus. Die Bar war schon reichlich besetzt. Obwohl am heutigen Tag der inoffizielle Treff der Tätowierten Szene sein sollte, schien es für ihn nicht viel anders zu sein wie am Dienstag als er das erste Mal, mit seiner Kollegin Melanie Schütz, das Sauna-Paradies betreten hatte. Sicher, es waren seiner Meinung wesentlich jüngere Gäste da, und er konnte wesentlich mehr Tattoos entdecken.

Die meisten Männer hatten sich Schultern, Bizeps und Waden stechen lassen. Keltische Symbole, Totenköpfe, Indianer und Wikinger beherrschten hier das Bild. Auf den Frauenkörper prangten dagegen Sterne in allen möglichen Größen, japanische Schriftzeichen, Blumen und Schmetterlinge. Die schönsten Tätowierungen waren seiner Meinung farbige Drachen, die sich auf dem weiblichen Körper um die Hüfte herum vom Bauch direkt auf den Rücken schlängelten. Piercings konnte er dagegen keine entdecken. Martin Wildgruber muss so etwas gesagt haben wie, dass seit kurzem Intimschmuck in der Therme wegen der Hygiene nicht mehr erwünscht sei. Die Metallteilchen konnte man ja entfernen, bei einer Tätowierung war das nicht mehr möglich.

Unter anderem konnte er auch einige Frauen mit einem Arschgeweih sehen, so wurden die geschwungenen, verzweigten Fantasie-Ornamente genannt, die sich hauptsächlich Frauen auf dem Rücken oberhalb des Hinterns stechen ließen. Doch eine schwarze Lilie konnte er auf keinem der weiblichen Rücken entdecken.

Kreithmeier ließ das Badetuch an einem Metallständer zurück und glitt langsam ins warme Wasser des Pools. Es war obwohl lauwarm doch recht erfrischend. Er legte sich aufs Wasser und ließ sich treiben. In den seitlichen Vital- und Massageliegen tummelten sich junge Paare im sprudelnden Wasser. Sie schmusten und küssten sich und Kreithmeier wollte gar nicht wissen, was sie sonst noch alles taten. In der Hausordnung der Anlage hieß es, der Austausch von Zärtlichkeiten sei auf ein Minimum zu reduzieren; in den Badeanlagen – Saunakabinen, Dampfbädern, Whirlpools, Thermalwasserbecken und Liegebereichen – sei dies ganz zu unterlassen. Intime Handlungen würden mit Hausverbot und Strafanzeige geahndet. Kreithmeier schmunzelte und ließ sich ins Freie treiben.

Der junge Wildgruber hatte ihm bei seinem ersten Gespräch mitgeteilt, dass an solchen Tagen wie heute, die Angestellten mehr damit zu tun hatten, junge Pärchen auseinander zu bringen, als sich um die Sicherheit der Anlage zu kümmern.

Im Wasser planschen auf Kosten des Steuerzahlers, das war doch mal was, dachte er, als er sich in den Strudel gleiten ließ, eine Art Wasser-Karussell, das ihn durch einen Strömungskanal in einem weiten Oval um ein Dutzend Massageliegen gleiten ließ. Auch hier amüsierten sich junge Pärchen. Und ihre Hände waren nicht immer züchtig über der Wasseroberfläche zusehen. Die jungen tätowierten weiblichen Körper, die an ihm vorbei glitten oder in einer der Liegestätten lagen, hatten etwas Erotisches, etwas Prickelndes, etwas Sinnliches an sich. Es war das erste Mal für ihn, dass er sich mit Tattoos, ihrer Symbolik und den vielen unterschiedlichen Motiven geistig auseinander setzte. Bisher waren Tätowierungen für ihn nur Zeichen gelangweilter Knackis gewesen, die sich im Gefängnis von ihren Mitinsassen stechen ließen. Auf der Polizeischule hatte er das erste Mal von der Bedeutung der einzelnen Zeichen gehört.

Drei Punkte meistens in einem Dreieck zwischen Daumen und Zeigefinger tätowiert, bedeuteten einerseits, dass der Träger in Haft war, andererseits ein Symbol für die drei Affen: nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Das bedeutete, der Tätowierte ist ein Häftling, der keine Aussagen macht und seine Mitgefangenen nicht verrät. Dann gab es noch sogenannte Knasttränen: eine tränenförmige Tätowierung unter einem Auge. Die Träne stand für eine bestimmte Zeit in Haft. Alle zehn Jahre würde eine weitere Träne dazu kommen. Und schließlich noch das Spinnennetz, ein an offen sichtbarer Stelle tätowiertes, meist sehr einfach gestaltetes Spinnennetz. Es bedeutete, dass der Träger in Haft war.

Zusätzlich zu den Knast-Tattoos hatte er noch von den Tätowierungen innerhalb des organisierten Verbrechens gehört, aber leider noch keine zu Gesicht bekommen. Mitglieder der russischen Mafia ließen sich Sterne auf die Knie tätowieren, das heißt so viel, wie gehen vor niemandem auf die Knie. Die japanischen Yakuza ließen ihren kompletten Körper mit Drachen, Geishas und Phönixen bemalen.

Aus einer anfänglichen Verzierung für Asoziale und Kriminelle war mittlerweile eine neue Modeerscheinung geworden. Und die Technik war weit fortgeschritten. Kreithmeier konnte einige mehrfarbige Tattoos bewundern, wenn die Haut eines Saunagastes für kurze Zeit außerhalb des Wassers zu sehen war. Trotz aller Bewunderung für die individuellen Muster und Symbole – keines war doppelt – konnte er keine Lilie entdecken, sei es in Schwarz oder Weiß. Die geheimnisvolle Frau war anscheinend nicht da. Es wäre auch zu schön gewesen, dachte er.

Gut, mit der Zeichnung nach den Angaben Martin Wildgrubers könnte man eine Ringfahndung einleiten. Nur aus welchem Grund? Nur unter dem spekulativen Verdacht, dass sie möglicherweise etwas mit dem Tod des Schriftstellers zu tun hätte. Alles sehr wage. Und wo war der Zusammenhang?

Kreithmeier ließ sich aus dem Strudel heraus treiben und kämpfte sich zurück ins Halleninnere. Ein kurzer Blick hoch auf den Paradise-Point: Wildgruber stand an der Rezeption und überblickte konzentriert den Saunenbereich. Als er Kreithmeier im Wasser erblickte, winkte er ihm zu und schüttelte dabei nur kurz den Kopf.

Es wäre ja auch zu schön gewesen, diese Frau heute hier anzutreffen. Verdeckte Ermittlung in einem Sauna-Paradies. Wer war nur auf diese Idee gekommen? Rainer Zeidler genoss sicher diesen außergewöhnlichen Ausflug. Wellness und Entspannung während der Dienstzeit. Vielleicht sollte er es auch genießen und nicht so verbissen durchs Wasser pflügen?

Er stieg aus dem Wasser, wickelte sich wieder sein Handtuch um die Hüfte und schritt durch eine Glastür zu den Calla-Kaskaden, überdimensionale Blütenkelche der Calla-Blumen, aus denen pro Sekunde 300 Liter frisches Wasser zu Boden fallen sollten. Einige junge Frauen ließen das kühle Nass über ihre Körper gleiten, nur war leider keine von ihnen schwarzhaarig und hatte eine dunkle Lilie auf dem Rücken.

Auf dem Weg zur Alhambra kam er an der Wolpertinger Stube vorbei. Eine Sauna eingerichtet wie eine bayerische Zirbelstube: Holz, Kaminofen und voll – aber nur mit Männern. Es fand gerade ein Weißbieraufguss statt. In der Stube saßen etwa dreißig nackte Männer dicht nebeneinander auf Holzbänken und prosteten sich mit Erdinger Weißbier zu. Und unter den Weißbierfans entdeckte Kreithmeier einen bekannten Gast mit langen graubraunen Haaren: Rainer Zeidler. Er starrte durch das kleine Fenster in der Tür.

»Der Mistkerl«, fluchte er leise vor sich hin. Eine reine Männersauna war sicher kein potentielles Versteck für eine junge Frau. Und der Zeidler amüsierte sich köstlich. Der nahm den Job nicht für Ernst, ärgerte sich Kreithmeier, als Zeidler gutgelaunt den anderen Gästen mit einem Weißbierglas in der Hand zuprostete.

Nach ein paar Minuten, nachdem die Gäste in der Wolpertinger Stube ihr Bier leer getrunken hatten, öffnete sich die Tür und sie strömten schweißgebadet nach draußen. Kreithmeier passte Rainer Zeidler ab.

»So nimmt sich der Herr Zeidler also der verdeckten Ermittlung an. Eine reine Männersauna. Da wird unsere Gesuchte nicht dabei sein, oder?«

»Alois, ja wo kommst du denn her?«

»Ich war im Pool und habe nach unserer Frau Ausschau gehalten. Was ich von dir nicht sagen kann. Alkohol und lauter nackte Männer um dich herum. Macht es Spaß?«

»Das war übrigens alkoholfreies Weißbier. Und ich dachte, ich probiere es mal aus. Ich habe nicht sofort bemerkt, dass es sich um eine ausschließliche Männersauna handelt.«

»Ist jetzt auch egal. Und sonst irgendetwas entdeckt?«, hakte er ärgerlich nach.

»Viele Leute mit ausgefallenen Tattoos.«

»Und eine Lilie?«

»Nicht eine einzige. Das muss ein ganz besonderes Tattoo sein.«

»Also nichts?«

»Ja!«

»Ich glaube, sie kommt heute nicht.«

»Wollen wir es dann nächste Woche noch einmal probieren?«, fragte Rainer.

»Vergiss es. Die treffen sich immer nur am ersten Donnerstag des Monats. Und so lange können wir nicht warten.«

»Und was machen wir dann? Sie zur Fahndung ausschreiben?«, fragte Zeidler.

»Was bleibt uns anderes übrig. Es gibt nicht viel Möglichkeiten.« Kreithmeier blickte sich um.

»Wahrscheinlich hast du Recht.«

»Trennen wir uns wieder und macht jeder seinen Job. Ich gehe in den alten Teil des Sauna-Traktes, und du bleibst hier im Neuen. Es ist jetzt 19 Uhr. Treffen wir uns alle Stunde im Paradise-Point bei Martin Wildgruber. Wenn wir sie bis 22 Uhr nicht gefunden haben, dann dampfen wir hier ab.«

»Okay, so machen wir es«, unterstrich Zeidler den Vorschlag. »Ich ziehe mal los zur Meditations-Sauna. Da ist jetzt ein Klangschalenaufguss, der wird gern besucht, auch von den Tattoo Jüngern.«

Kreithmeier blickte seinen Kollegen finster an, sagte aber nichts weiter und ließ ihn ziehen.

»Ich glaube fast, der nimmt das alles nicht Ernst«, brummelte er vor sich hin, als er durch den Palazzo Veneziano schritt, eine pompöse Indoor Konstruktion mit Pool und italienischem Restaurant, freizügig einem Palast am Canale Grande in Venedig nachgebildet.

»Wäre besser, wenn jetzt die Melanie bei mir wäre, auf die ist wenigstens Verlass. Die würde unseren Einsatz nicht als lächerlich und überflüssig abkanzeln.«

Kreithmeier schlurfte in den älteren Teil der Anlage und inspizierte gewissenhaft jede einzelne Sauna. Er gönnte sich ein paar Minuten im Dampfbad, im Caldarium, im Tepidarium und in der Citrus-Sauna. Doch eine schwarze Lilie kam ihm nicht vor die Augen. Nach den Saunabesuchen kurz hintereinander wurde er müde und kämpfte sich die Stufen in den ersten Stock hinauf, zu den Ruheräumen der Vier Elemente. Gleich im ersten Raum, dem Raum der Erde, ließ er sich auf eines der Wasserbetten fallen und streckte alle Viere von sich. Er schlief sofort ein.

Als er von seinem eigenen Schnarchen geweckt wurde, brauchte er ein paar Sekunden, um sich zu sammeln. Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte und wie spät es war. Um Zwanzig Uhr wollten sie sich wieder treffen. Die Zeit war sicher schon vorbei. Es war dunkel im Raum und außer seiner und einer anderen Liege waren alle unbesetzt. Er rollte sich auf die Seite, um langsam wieder wach zu werden und entdeckte im Halbdunkel ein Pärchen, das sich engumschlungen unter einem großen Saunatuch gegenseitig streichelte und liebevoll küsste.

»Aha«, dachte er, »hier oben sind die Kontrollen nicht so scharf.

Der Austausch von Zärtlichkeiten sei auf ein Minimum zu reduzieren«, zitierte er die Hausordnung.

»Wo kein Kläger ist auch kein Richter«, schmunzelte er und schaute verstohlen auf das junge Paar.

Er musste an seine Jugend denken, wie er das erste Mal einen Kuss von einem Mädchen bekommen hatte. Solche Plätze wie diesen hier gab es damals nicht. Und zu Hause ging es schon gar nicht, da waren die Eltern und so blieb es meistens bei den ersten Erfahrungen im Kino oder auf der Rückbank seines alten Peugeot.

Die beiden konnten nicht voneinander lassen. Ob sie bemerkten, dass sie beobachtet wurden? Und wenn, dann schien es ihnen egal zu sein. Die Frau lag seitlich und eines ihrer makellosen Beine schaute aus dem Handtuch heraus. Sie hatten keinen Sex zusammen, aber das Gefummel und Geküsse waren die reinste Vorstufe dazu. Kreithmeier blickte wie gebannt auf das Paar. Es turnte ihn richtig an, obwohl es nicht viel zu sehen gab, aber allein die Vermutung, was ihre Hände unter dem Saunatuch alles tun könnten, erregte ihn. Seine Gedanken an das Treffen mit Rainer Zeidler waren längst verflogen. Seine Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt und er drehte sich noch ein wenig, um den beiden besser zuschauen zu können. Jetzt konnte er die Haare des Mädchens oder der jungen Frau erkennen. Wie alt sie war, konnte er nicht abschätzen. Ihre Beine waren rasiert und sie hatte, so weit er sehen konnte, eine junge glatte Haut.

Das Handtuch war von ihrem Kopf auf den Rücken gerutscht. Ihre Haare kamen jetzt im Dämmerlicht zum Vorschein: schwarze, lange gewellte Haare. Und jetzt konnte er erst erkennen, dass es sich um die Person seitlich von der Schwarzhaarigen nicht um einen Mann handelte. Es war auch eine Frau. Und die beiden Frauen küssten sich. Und zwar sehr intensiv. Auch die andere Frau hatte lange schwarze Haare. Eine Hand umfasste ihren festen kleinen Busen, und ein Mund küsste den ihren. Die beiden Frauen pressten fest ihre Lippen aufeinander und streichelten sich am ganzen Körper. Die Frau, von der er nur ihre Brust und ihren Bauch sehen konnte, stöhnte ganz leise. Eine Hand streichelte sie zwischen ihren Oberschenkeln. Immer schneller und schneller. Kreithmeier hatte so etwas noch nie gesehen. Es war wie in einem billigen Erotikfilm im Internet, in dem sich zwei Frauen gegenseitig zum Höhepunkt streichelten, zur Befriedigung der geilen Männerwelt, die sich gerne solche Filmchen ansah. Aber hier war es live und in Natura. Das hatte er bisher noch nicht erlebt. Und dass es ihn so anmachen würde, ihn so erregen, daran hätte er niemals gedacht. Er konnte nicht ablassen dort hinzuschauen.

Sein Anstand gebot ihm den Raum leise zu verlassen und die beiden sich ihrem Spiel allein zu überlassen, doch sein Fleisch war schwach, und so schaute er zu, wie die unbekannte Schönheit von der anderen Frau zu einem Höhepunkt gestreichelt wurde, sich in einem leisen endgültigen Stöhnen kurz aufbäumte und dann erschöpft in sich zusammen sackte. Sie mussten ihn eigentlich bemerkt haben, doch es störte die beiden Frauen nicht im Geringsten. Selbst ein Bade- oder Saunameister hätte sie jetzt nicht auseinander bringen können.

In diesem ihrem letzten Akt rutschte das Handtuch vollends von der Liege und Kreithmeier starrte auf den Rücken der Schwarzhaarigen, den sie ihm provozierend entgegen streckte. Ein kleines schwarzes Mal prangte oberhalb ihres runden Pos, eine Tätowierung. Kreithmeier biss sich fast auf die Zunge, um einen Schrei der Überraschung herunter zu schlucken. Das kleine Mal war eine schwarze Lilie.

Die beiden Frauen lagen noch eine Weile nebeneinander, dann standen sie auf, wickelten sich jede ein Handtuch um die Hüfte und verließen den Raum, den Kommissar mit angehaltenem Atem auf dem Wasserbett schwitzend zurück lassend. Kurz bevor die zweite Frau sich das Handtuch um die Hüfte geschwungen hatte, konnte er auch bei ihr einen hellen Fleck auf ihren ansonsten leicht gebräunten Körper erkennen: eine weiße Lilie, mit zartem dunklem Stich schwarz umrandet.

Als die beiden Frauen den Ruheraum verlassen hatten, stand er sofort auf und folgte ihnen. Er war außer Atem und sein Geist spielte ihm böse Streiche. Seine Gedanken waren wirr und er tat sich schwer, sich zu ordnen und zu Recht zu finden. Die beiden Damen liefen wie junge Elfen leichtfüßig vor ihm her Richtung Champagnerpool. Am Treppenabsatz ließen sie ihre Handtücher fallen und schritten als ob sie übers Wasser laufen könnten ins Wasserbecken. Von hinten sahen die beiden Frauen wie Schwestern aus, fast sogar wie Zwillingsschwestern. Beide trugen schulterlange schwarze Haare, hatten eine ähnlich gute Figur und waren beide auf der Hüfte tätowiert. Die eine mit einer schwarzen Lilie auf der linke Seite, die andere mit einer weißen auf der rechten Seite. Als sie so Arm in Arm vor ihm ins Wasser glitten, erinnerten ihn die beiden Lilien an das Symbol, das Rainer Zeidler auf dem Rücken trug: Yin und Yang.

Yin stand für das Dunkle, das Kalte, das Weibliche, das Introvertierte, das Passive, dargestellt durch den schwarzen Teil. Yang stand für das Helle, das Warme, das Männliche, das Extrovertierte, das Aktive, dargestellt durch den weißen Teil.

Ähnlich wie bei den beiden Halbschalen, waren die beiden Lilien stellvertretend für eine helle und reine Welt, und eine kalte und dunkle. Wenn es stimmte, dass eine der Frauen am Tod von Markus Backhaus maßgeblich verantwortlich war, dann war es die dunkle Seite der beiden gewesen, die Frau mit der schwarzen Blume, die Yin.

Kreithmeier schaute nachdenklich den beiden Frauen nach, wie sie an der Bar im Pool Platz nahmen und sich etwas zu trinken bestellten. Sie mussten ihn bemerkt haben. Er war der einzige Gast im Raum der Erde gewesen. Auch wenn die beiden noch so in Ekstase gewesen waren, die Frau mit der schwarzen Lilie musste ihn bemerkt haben. Die andere war zu sehr von den Zärtlichkeiten abgelenkt, die sie genossen hatte, so weit er sehen konnte. Die beiden Frauen waren sich sehr ähnlich. Jetzt wo sie auf einem Barhocker an der Poolbar saßen, konnte er zum ersten Mal ihre Gesichter erkennen. Der Polizeizeichner hatte ganze Arbeit geleistet und Martin Wildgruber die Frau sehr gut beschrieben. Sie waren beide sehr hübsch, besaßen dunkle geheimnisvolle Augen, schwarze volle und sinnliche Lippen und ein schmales Gesicht mit einer kleinen Nase. Sie saßen sehr dicht beieinander und hielten sich unter Wasser an ihren Händen.

Kreithmeier legte sich auf eine der sprudelnden Massage-Liegen. Von dort konnte er unauffällig die beiden Frauen an der Bar betrachten. Er musste ihnen irgendwelche Namen geben, dachte er, solange er ihren richtigen noch nicht wusste. Black Lily und White Lily, entschied er sich schließlich. Er schaute auf die große Uhr an der Wand über dem Schwimmbereich. Es war schon kurz nach 21 Uhr.

Ach du meine Güte, dachte er, den Rainer habe ich ganz vergessen, ich muss ganz schön lang geschlafen haben. Aber ich kann die beiden jetzt nicht allein lassen, wo ich sie gerade entdeckt habe. Waren die beiden lesbisch, fragte er sich. Und in welchem Zusammenhang standen sie zu Markus Backhaus? Wenn sie ein amouröses Abenteuer mit ihm hatten, dann waren sie bisexuell. Und der gewaltsame Tod des Schriftstellers, ein Akt der Eifersucht, oder die Befreiung sexueller Erniedrigung oder Abhängigkeit? Das passte alles nicht zusammen: ihre Anmut, ihre Schönheit und ihre sinnliche Ausstrahlung, vereint mit einem kaltblütig geplanten Mord. Und dass der Mord geplant worden war, das stand für ihn definitiv fest. Der Mörder musste wissen, dass der Backhaus in der Therme war und er muss darauf vorbereitet gewesen sein, denn Salz mit einer Prise Curare-Gift trug man nicht so ohne Weiteres mit sich herum. Das musste vorher präpariert werden. Und das war nicht ganz so einfach. Und der Mörder musste auch wissen, dass der Backhaus immer wieder mal in die Therme geht. Vielleicht hatte er ihn observiert und war ihm gefolgt, dann müsste er das Gift bei sich gehabt haben, um es sofort einsetzen zu können. Wo war denn nur der Zeidler?

Sein Blick schweifte durch die Halle. An ihrem gemeinsamen Platz unter Palmen war er nicht, das konnte er von seinem jetzigen Standpunkt aus erkennen. Er suchte den Paradise-Point nach ihm ab. Dort oben in der Gondel entdeckte er ihn. Er stand neben Martin Wildgruber. Und die beiden hielten von oben nach ihm Ausschau.

Kreithmeier hob vorsichtig die Hand und winkte ihnen. Zeidler erkannte ihn und winkte zurück. Auch Martin Wildgruber hatte ihn jetzt gesehen und gab sich zu erkennen. Kreithmeier deutete mit dem Arm Richtung Bar auf die beiden Frauen. Wildgruber und Zeidler folgten mit ihrem Blick seinem Arm.

Als Wildgruber die beiden Frauen aneinander gekuschelt an der Bar sitzen sah, fing er an wie wild mit seinen Armen zu wedeln und redete auf Zeidler ein. Der Geräuschpegel in der Halle war viel zu laut, als dass es jemand an der Bar hätte hören können. Trotzdem war die Aufmerksamkeit der Black Lily plötzlich nicht mehr bei ihrer Freundin. Als ob sie etwas gehört oder eine Bedrohung gespürt hatte, wich sie von ihrer Liebsten ab und drehte sich um die eigene Achse, um das Terrain um sie herum zu untersuchen. Sie starrte hoch zu Martin Wildgruber. Ihre Blicke trafen sich.

Wildgruber sprang einen Schritt zurück, doch es war zu spät. Sein Arm hatte immer noch auf die Bar gedeutet und der Mann mit den langen Haaren neben ihm starrte konzentriert auf den Pool, aber an ihnen vorbei. Sie folgte dem Blick des Mannes und entdeckte Alois Kreithmeier, der sofort untertauchte, als sie ihn erspähte. Unter Wasser musste er an den letzten Blick denken, den die Frau auf ihn geworfen hatte, die Black Lily. Der hatte nichts von Wärme und Güte und erotischer Sinnlichkeit, der Blick war kalt und berechnend. Sie hatte sofort bemerkt, dass sie beschattet wurden. Als ihm schließlich unter Wasser die Atemluft langsam ausging, tauchte er wieder auf und schnappte hektisch nach Luft. Dann erst registrierte er, dass der Platz an der Bar leer war, die beiden Frauen waren verschwunden. Sofort kämpfte er sich aus dem Wasser und legte sich sein Handtuch um die Hüfte. Sie konnten nicht weit sein, er war nicht einmal eine Minute unter Wasser gewesen.

Als er Richtung Ausgang rennen wollte, packte ihn jemand von hinten an der Schulter.

»Halt!«, rief Rainer Zeidler, »Wo willst du denn hin?«

»Die beiden Frauen, ich habe sie entdeckt, sie müssen Richtung Ausgang abgehauen sein.«

»Nein das sind sie nicht. Ich habe dich von dort oben erspäht und dann erst die beiden an der Bar gesehen. Und wie sie weggerannt sind. Sie sind hier rein, sie sind zu den Calla-Kaskaden gelaufen. Wir finden sie schon. Da können sie nicht raus. Du gehst von Rechts herum, ich komme von Links. Dann erwischen wir sie. Komm! Auf geht’s! Sie haben nur ein paar Sekunden Vorsprung.«

Kreithmeier blieb keine Zeit zum Nachdenken. Zeidler hatte sie von oben entkommen gesehen, er würde Recht haben. Sie teilten sich auf und rannten von beiden Seiten in den Saunabereich um sich an den Wasserfällen wieder zu treffen. Kreithmeier schaute in jede einzelne Saunakabine, sogar in die Wolpertinger Stube, doch die beiden Frauen waren verschwunden, als hätten sie sich in Luft aufgelöst.

Im Duschtempel mit den übergroßen Blütenkelchen traf er auf seinen Kollegen.

»Und?«, fragte er sauer.

»Nichts! Sind weg. Ich habe überall nachgeschaut, sie hatten keine Minute Vorsprung. Wo sollen sie denn von hier aus hin?«

»Scheiße, verdammte Scheiße. Hätte dieser Vollidiot Wildgruber sich nicht so wichtig genommen, hätten die beiden nichts bemerkt. Und nun haben wir sie verloren. Welche Peinlichkeit. Wie Anfänger haben wir uns benommen. Ich brauche jetzt ein bisschen frische Luft. Mir ist heiß. Und so ein Mist. Die können sich ja nicht in Luft aufgelöst haben. Scheiße!«

»Jetzt beruhige dich. Hier ist ein Balkon. Lass uns rausgehen.«

»Ich will mich aber nicht beruhigen«, schimpfte Kreithmeier.

Rainer Zeidler schritt voran und er folgte ihm. Die kühle Luft tat gut. Es waren nur wenige Gäste hier und sie blickten alle irgendwie entgeistert über das Balkongeländer auf die darunter vorbei laufende Straße. Kreithmeier beugte sich auch über die hölzerne Brüstung und musterte einen der Gäste.

Als fühlte der sich angesprochen sagte er zum Kommissar:

»Das hätten Sie gerade sehen sollen.«

»Was hätte ich sehen sollen?«

»Diese zwei jungen Frauen?«

»Ich verstehe nicht ganz.«

»Also wir stehen hier draußen und genießen die frische Luft nach einem heißen Saunagang, da geht die Tür auf und zwei junge Frauen spurten nur mit einem Handtuch um die Hüfte hier über die Holzterrasse und schwingen sich über die Balustrade. Elegant landen sie auf ihren Füssen, als ob sie das jeden Tag machen und rennen in die Nacht.«

»Schwarzhaarig und tätowiert?«

»Wie bitte?«

»Waren die beiden Frauen schwarzhaarig und auf dem Rücken tätowiert?«

»Wer ääh sind sie ....?«

»Beantworten Sie ganz einfach meine Frage. Waren die beiden Frauen schwarzhaarig und auf dem Rücken tätowiert?«

»Schwarzhaarig? Ja. Tätowiert? Es war zu dunkel, um das zu sehen. Sie waren zwar fast nackt, sind aber so schnell hier rüber gesprungen, dass ich nichts erkennen konnte.«

»Rainer!«, rief Kreithmeier, »hierher. Du hattest Recht gehabt. Die beiden sind hierher gerannt. Und über den Balkon geflohen. Sie sollen hier herunter gesprungen sein.«

»Das sind fast über drei Meter. Wie soll das gehen? Die hätten sich die Beine brechen können.«

»Das weiß ich nicht. Die beiden Herrschaften haben es gesehen.«

»Warum verfolgen Sie die beiden?«, fragte einer der beiden Gäste.

»Wir sind von der Polizei. Aber verlangen Sie jetzt bitte nicht unseren Ausweis.«

»Schon gut«, lachte der Mann. »Ich glaube es Ihnen auch so. Nackte Ermittlungen.«

Kreithmeier ließ ihn stehen. Er drehte sich zu Zeidler um und sagte: »Die haben uns ganz schön verarscht. Und dass die von hier oben auf die Straße gesprungen sind, ich kann es fast nicht glauben. Warum sind die vor uns geflohen? Wir haben doch gar nichts gegen sie in der Hand. Nur die Aussage des jungen Wildgrubers. Sonst gar nichts. Was haben sie zu verbergen? Dass sie ein solches Wagnis in Kauf nehmen. Sie hätten sich alles brechen können.«

»Oder sie sind so gut drauf, dass sie so etwas trainiert haben. Es gibt doch diese neue Extremsportart Parkour. Da rennen und springen die Sportler über Hindernisse. Dazu gehören auch Sprünge aus jeder Höhe.«

»Und wo wollen sie hin?«

»Sie werden über den Haupteingang an ihren Spind gelangen. Bis wir vorne sind, sind die beiden schon längst über alle Berge.«

»Du wirst Recht haben. Parkour? Kann man so etwas lernen?«

»Mit Sicherheit. Parkour kann prinzipiell überall, sowohl in natürlichem, wie auch im städtischen Umfeld praktiziert werden. Diese Sportler überwinden dabei alles Mögliche, alles, was ihnen dabei an Hindernissen in den Weg kommt: Pfützen, Papierkörbe, Bänke, Blumenbeete und Mülltonnen, ebenso wie Bauzäune, Mauern, Litfaßsäulen, Garagen und unter Umständen werden Hochhäuser und Hochhausschluchten übersprungen und überklettert. Der Sport ist äußerst anstrengend und erfordert eine besonders gute körperliche und geistige Fitness.«

»Die diese beiden Frauen haben müssen. Meinst du wir kommen über diesen Sport an die beiden heran?«

»Es gibt in München eine Schule dafür.«

»Woher weißt du das alles? Wieder jemand, der dir einen Gefallen schuldet?«

Rainer lachte: »Nein. Im Jahr 2004 kam ein französischer Spielfilm heraus. Von Luc Besson. Er spielt in den Ghettos von Paris. Und da war dieses Freerunning oder Parkour, wie es heute genannt wird, das Hauptthema des Films. Einige der besten französischen Parkour-Sportler spielten da mit und sorgten für spektakuläre Szenen. Seither hat mich das fasziniert. Aber ich bin zu alt dafür. Ich würde mir alle Knochen brechen. Ich bleibe bei meinem Yoga.«

»Wie auch immer? Packen wir zusammen. Ich will jetzt hier raus und ich habe Hunger. Lass uns gehen. Noch eine Pizza?«

»Gute Idee. Und was sagen wir morgen der Melanie?«

»Da wird mir noch etwas einfallen. Über sie mache ich mir keine Gedanken, ich denke eher an die Lehner.«

»Unsere liebe Frau Staatsanwältin?«

»Ja!«

»Ach, was ich noch wissen wollte, wo hast du die beiden aufgespürt?«

»Im Raum der Erde«, antwortete Kreithmeier knapp, zog sein Handtuch fester um die Hüfte und verließ den Balkon.

Rainer Zeidler trottete ihm brav hinterher. Raum der Erde, wiederholte er leise. Wo war denn der? Raum der Erde klang wie eines der vier Elemente. Rainer spürte, dass ihm Alois etwas verschwieg. Was immer es auch war, er wollte es herausfinden. Dafür arbeitete er ja in der Spurensicherung.

Tödlicher Aufguss

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