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Rein ist nicht rein

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Melanie Schütz saß an ihrem Schreibtisch, hielt einen Becher Kaffee in der Hand und hörte ihren beiden Kollegen aufmerksam zu, als sie von ihren Abenteuern in der Therme berichteten. Ihr Gesichtsausdruck war freundlich, doch im Inneren spürte sie eine gewisse Schadensfreude als die beiden ihr die Flucht der zwei halbnackten Frauen aus der Therme schilderten. Melanie bemühte sich eine geschäftsmäßige Haltung zu bewahren, obwohl sie eigentlich laut los lachen wollte. Sie malte sich in ihrer Fantasie das Bild aus, wie zwei halbnackte Kommissare zwei barbusigen schwarzen Schönheiten in der Therme hinter her gerannt waren.

»Also, wenn ich euren Rapport zusammenfassen darf, dann war außer Spesen nichts gewesen?«

»Ganz so würde ich es nicht ausdrücken«, konterte Rainer Zeidler.

»Wieso?«

»Alois hatte die beiden im Raum der Erde entdeckt. Auf einer Liege. Es hat zwar eine Zeitlang gedauert, bis er mir alles erzählt und mich schließlich in den Raum geführt hat, aber es hat sich letztendlich gelohnt.«

»Was hat sich gelohnt?«, fragte Melanie interessiert.

»Sein Bericht über den Raum der Erde«, antwortete Zeidler brav.

»Raum der Erde? Wie geheimnisvoll? Was hast du denn da drinnen gemacht, Alois? Und was die beiden Frauen? Wie nennst du sie seit gestern? Black Lily und White Lily? Klingt irgendwie nach tropischen Cocktails.«

»Blödsinn«, knurrte Kreithmeier. »Wir haben ja keine Namen. Nichts. Wie immer. Und der Raum der Erde ist nur ein Ruheraum.«

»Ach, haben wir ein bisschen Schläfchen gemacht?« Melanie konnte nicht anders. Sie musste ihn noch ein wenig ärgern.

»Ich musste mich halt mal ausruhen.«

»Nackte Titten und nackte Ärsche anschauen ist ganz schön anstrengend. Und die Mädels? Haben die sich auch ausgeruht?«

»Nicht direkt. Aber Rainer hat etwas gefunden.«

Rainer zog eine Plastiktüte aus der Tasche und hielt sie Melanie vor die Nase: »Zwei schwarze lange Haare. Ich mache gleich einen DNA Test und dann sehen wir weiter. Wenn wir eine von den beiden schon irgendwann mal gentechnisch erfasst haben, dann haben wir sie.«

»Was aber noch immer nicht heißt, dass eine von ihnen am Tod von Backhaus schuldig ist.«

»Aber hauptverdächtig. Warum sind sie denn sonst geflohen? Und das mit dieser Turnübung. Vom Balkon springen. Das ist schon eigenartig.«

»Das mag ja alles stimmen«, entgegnete Melanie, »aber ohne ein Verhör einer dieser beiden Frauen, kommen wir keinen Schritt weiter. Da stimmt ihr mir doch zu? Und was ich auch nicht okay fand von euch, dass ihr mich gestern Abend nicht angerufen habt. Ich saß mit Gizmo zusammen vor der Glotze und habe gewartet. Aber wahrscheinlich habt ihr euch geschämt und deswegen......«

»... Wir waren noch Pizza essen und der Akku meines Handys war leer«, entschuldigte sich Kreithmeier.

»Alois, es gibt immer noch ein Festnetz, auch in einer Pizzeria. Das sind alles nur Ausreden. Wie auch immer. Gehen wir jetzt lieber an die Arbeit. Ich bekomme heute im Laufe des Tages den Gesprächsnachweis von Markus Backhaus Handy und vom Internetprovider seinen Email-Account zugesandt. Dann kann Schurig versuchen ihn zu knacken und die letzten Mails überprüfen.«

»Ich verschwinde mal in den Keller, kümmere mich um die Haarprobe. Dann melde ich mich wieder«, verabschiedete sich Rainer Zeidler.

Melanie sah ihm kurz nach, dann schnappte sie sich das Telefon und rief ein weiteres Mal in Wernigerode an.

Alois saß an seinem Schreibtisch und starrte Löcher in die Luft.

Peinlich, dachte er, es war richtig peinlich gewesen, wie die beiden jungen Frauen sie geleimt hatten. Dank Melanies aufopfernder Hilfe hatte er vor zwei Monaten aufgehört zu rauchen, aber jetzt gelüstete es ihn. Er kramte in seinen Schubladen umher, um vielleicht noch ein altes Päckchen Zigaretten zu finden, doch es war leider nichts da. Melanie hatte dafür schon gesorgt, dass keine Glimmstängel irgendwo versteckt ihn wieder zum Rauchen verleiten konnten.

»Scheiß egal«, knurrte er vor sich hin, »ich brauche jetzt eine Zigarette.«

Er stand auf und wollte das Büro verlassen, um bei einem Kollegen eine zu schnorren, als Gizmo seine Bewegung sah und sich sofort aufrichtete und mit dem Schwanz wedelte.

»Na gut. Komm!«, rief er seinem Hund zu, »gehen wir einmal kurz vors Haus.«

In der Bereitschaft entdeckte Kreithmeier Polizeiwachtmeister Dallinger, wie er sich mit einem Drucker abmühte.

»Na, will das alte Ding nicht mehr?«, fragte er höflich.

»Papierstau wie immer. Das Ding ist schon uralt. Aber du weißt ja selbst, was für einen Papierkram es erfordert, einen neuen Drucker zu bekommen. Da quäle ich mich lieber mit dem alten herum.«

»Mach mal hinten die Klappe auf! Da hängt meistens was«, versuchte Kreithmeier zu helfen.

»Habe ich schon versucht. Wie war übrigens gestern euer Undercover-Einsatz?«, lächelte Dallinger verschmitzt.

»Wieso?«, fragte Kreithmeier scheinheilig.

»Ich habe nur gedacht.«

»Ich wusste gar nicht, dass du fürs Denken bezahlt wirst.«

»Was willst du? Du stehst doch hier nicht so rum und drängst mir ein Gespräch über verstörte Drucker auf. Das interessiert dich doch sonst nicht. Also was willst du, Alois?«

»Eine Zigarette.«

Dallinger lachte.

»Ich denke du rauchst nicht mehr. Auf jeden Fall hat die liebe Melanie damit überall herumgetönt, dass sie dich vom Rauchen weggebracht hat.«

»Hast du nun eine Zigarette für mich oder nicht?« Kreithmeier klopfte nervös auf die Theke.

»Das muss ja gestern ein Einsatz gewesen sein, wenn es dich so mitnimmt, dass du wieder den Drogen verfällst.«

»Du Depp! Du bist und bleibst ein Depp.«

Dallinger lachte immer noch.

»Ist schon okay, ich besorge dir eine Zigarette. Ich habe ja gut lachen, ich rauche auch seit einem halben Jahr nicht mehr.«

»Aha! Und dann eine große Klappe«, schnaubte der Kommissar.

»Du weißt ja: Die, die mit dem Rauchen aufgehört haben, sind die Schlimmsten. Und die Rückfallquote im ersten Jahr ist am Höchsten.«

»Hallo, Herr Doktor Dallinger. Hast du dich auf die vakante Stelle des Freisinger Polizeipsychologen beworben, oder kannst du mir ganz einfach ohne große Worte eine einzige Zigarette besorgen. Deine Jungs rauchen doch fast alle. Und bring auch gleich Feuer mit.«

Dallinger lachte und schritt in den Nebenraum und rief laut: »Kann mir jemand von euch für unseren Herrn Kriminalhauptkommissar Alois Kreithmeier eine Zigarette geben, er ist in seine alte Sucht zurück gefallen.«

Mit einer Zigarette und einem Feuerzeug in der Hand kam er zurück in den Bereitschaftsraum und händigte die Utensilien seinem Kollegen aus.

Kreithmeier steckte die Zigarette in den Mund und Dallinger gab ihm Feuer. »Wohl bekomm’s«, fügte der hinzu.

»Ach leck mich, komm Gizmo, die Uniformierten sind alle ein bisschen dämlich. Komm, wir gehen raus, es könnte ja ansteckend sein.«

Dallinger drückte auf den Türöffner und ließ den Kommissar mit seinem Hund ins Freie. Er stand nur da und lachte ihm hinter her.

Kreithmeier sog die nikotinhaltige Luft so fest rein, dass es ihm in der Lunge brannte. Obwohl er knapp vor zwei Monaten mit dieser Sucht aufgehört hatte, spürte er die heiße Luft in seinem Hals, wie sie ihn kratzte und er beinahe husten musste. Er war nichts mehr gewohnt, dachte er. Seine Lunge würde über zehn Jahre brauchen, um sich wieder zu regenerieren, hatte ihm Melanie vorgerechnet. Dann würde eben die Regenerationszeit zwei Monate später anfangen und zwei Monate später enden. Genussvoll zog er an der Zigarette. Es ging ihm gar nicht um den Geschmack, es ging ihm eher um dieses Ritual, in der frischen Luft zu stehen, den Rauch zu inhalieren, ihn eine Zeit lang in der Lunge behalten, bis sie brannte und ihn dann in einem langen Zug auszublasen.

Gizmo rannte zwischen den Bäumen des Grundstücks hin und her und nahm von seinem Herrchen keine Notiz. Ihm tat die frische Luft genauso gut. Der Schnee der letzten Tage war weggetaut und es war das erste Mal weit über Null Grad. Die sibirische Kälte war abgezogen und der Frühling kündigte sich an. Kreithmeier nahm einen letzten Zug, warf die Zigarettenkippe auf den Boden und trat sie mit aller Kraft aus.

»So, dass war wirklich meine Letzte. Aber ich habe sie gebraucht. Jetzt höre ich wirklich auf. Komm Gizmo, wir gehen wieder rein.«

Er marschierte ohne zu Grüßen an der Bereitschaft vorbei und würdigte seinen Kollegen Dallinger keines Blickes. Er wollte gerade die Treppe in den ersten Stock nehmen, da besann er sich eines Besseren und schritt die Kellertreppe hinab zu den Gemächern der Spurensicherung.

»Komm Gizmo, wir schauen mal, was der liebe Rainer macht.«

Irgendwie war der Hund auf die Spurensicherung nicht so gut zu sprechen, oder die Treppe, den dunklen Keller hinunter, machte ihm Angst, auf jeden Fall hörte er nicht und rannte mit raushängender Zunge ins Obergeschoss zu Melanie, die ihn mit einem charmanten Kraulen überraschte.

Kreithmeier sah seinem ungezogenen Hund nach und machte sich allein auf den Weg in die Katakomben. Josef Schurig hämmerte auf einer Tastatur umeinander und Rainer Zeidler hielt sich ein Reagenzglas vor die Nase. Von einem Kofferradio klang Bob Marleys Positive Vibration durch die ungemütlichen Räume der Spusi. Reggae war nicht gerade ein Musikstil, für den sich Kreithmeier begeistern konnte, vor allem wenn die Bassgitarre eintönig durch die Kellergewölbe dröhnte.

»Wie könnt ihr nur bei dieser Musik arbeiten?«, fragte er die beiden.

»If you get down and you quarrel everyday, You're saying prayers to the devils, I say. Woo-oh-ooh! Why not help one another on the way? Make it much easier«, sang Rainer Zeidler plötzlich zum Rhythmus der Musik, die blechern aus dem Radio erklang.

»Und was heißt das?«

»Wenn du schlecht drauf bist, und den ganzen Tag nur streitest, sendest du Gebete an die Teufel. Ich sage Wo-oh-ooh! Warum man keinem anderen auf diese Weise hilft? Es geht vieles einfacher.«

»Da bin ich ja froh, dass du so denkst. Und was hast du für mich, wie kannst du mir helfen, einen dieser berechnenden Teufel aufzuspüren?«

»Nicht sehr viel.«

»Rainer, dieses Wort NICHTS, das höre ich so oft von dir. Kannst du mir nicht mal sagen: Alois, der Fall ist geklärt, der Täter ist überführt und du darfst jetzt nach Hause gehen.«

»Ich habe doch diese schwarzen Haare aus dem Ruheraum mitgenommen, von der Liege, auf der sich die beiden Frauen amüsiert haben.«

»Ja und?«

»Es sind Haare von einer Perücke. Diese Haare sind japanische Kanekalon Fasern.«

»Was ist denn das?« Kreithmeier blickte den Kollegen entgeistert an.

»Die Kanekalon Faser besteht aus zwei Kunstfasern: Acrylnitril und Venylchlorid. Es ist ein relativ langwieriger Prozess solch einen Strang herzustellen. Diese Fasern werden hauptsächlich für täuschend echte Kunsthaarperücken verwendet. Am Theater zum Beispiel. Oder für teure Faschingskostüme.«

»Das heißt, die beiden Frauen haben keine echten schwarzen Haare.«

»Richtig.«

»Ach du Scheiße, das heißt ja außerdem, wir können unser Phantombild in die Tonne kloppen.«

»Oder ein paar Neue mit verschiedenen Farbvariationen herstellen. Das Tattoo gibt uns im angezogenen Zustand keinen Anhaltspunkt. Und junge Frauen mit einer knackigen Figur gibt es Hunderte im Umkreis München. Und wir wissen ja nicht einmal, wo sie wohnen, arbeiten und sich sonst noch herum treiben. Und welche Haarfarbe sie in Natur haben.«

»Es gibt keine einfachen Fälle. Was hast du mit diesem Herumgehopse herausgefunden, diesem Par..., Par..., Pardingsbum?«, fragte Alois.

»... diesem Parkour? Nichts. Ich habe in München angerufen, aber sie führen keine Listen über ehemalige Kunden. Und diese Sportart erfreut sich immer mehr Kundschaft. Es ist der letzte Schrei. Und für junge Leute der Extremsport schlechthin. Es gibt auch Kurse, wie du lernst ein Hochhaus hinunterzurennen.«

»Was?«

»Da bist du natürlich angeschnallt. Aber es muss schon geil sein, den Munich Uptown oder einen der Türme der Munich Twins steil hinabzulaufen.«

Kreithmeier tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Du spinnst. Also, du hast auf jeden Fall nichts für mich.«

»Wenn du so willst, ja.«

»Wer hat die Schlüssel für das Haus vom Backhaus?«

»Der Schurig.«

»Ich brauche sie, ich werde mich dort noch einmal umschauen.«

»Da waren wir doch schon«, bemerkte Zeidler, »wir haben alles untersucht. Da wirst du nichts finden. Das ist alles klinisch rein.«

»Rein ist nicht rein«, faselte Kreithmeier.

»Ein selten dämlicher Spruch. Rein kann man nicht steigern.«

»Doch Rein, Rainer, am Reinsten.«

»Blödmann.« Diesmal zeigte ihm Zeidler einen Vogel.

»Mir Wurscht, ich brauche jetzt den Schlüssel.«

»Josef, wirf doch mal bitte den Hausschlüssel von der Bude vom Backhaus rüber«, rief Zeidler seinem Kollegen zu. Und zum Kreithmeier gewendet: »Und du willst dort alleine hin? Soll ich vielleicht mitkommen?«

»Ich nehme nur Melanie mit und Gizmo, meinen Spürhund. Und einen Plan vom Gebäude. Habt ihr so etwas?«

Rainer Zeidler schüttelte mit dem Kopf.

Kreithmeier ließ nicht locker: »Wer hat das Gebäude gebaut, das ist noch nicht so alt?«

»Ein Architekturbüro aus Freising. Das Baukonzept, so heißen sie, glaube ich.«

Kreithmeier fing den Schlüssel auf, den ihm Josef Schurig zuwarf und verließ den Keller. Zeidler sah ihm nach, schüttelte den Kopf und sagte zu sich: »Rein ist nicht rein. So ein Quatschkopf.«

Kurze Zeit später öffnete Kreithmeier das Haus des verstorbenen Schriftstellers ein zweites Mal. Diesmal hatte er einen Bauplan dabei und breitete ihn auf dem Esstisch in der Küche aus. Gizmo hatte keine große Lust, das Haus zu untersuchen. Er setzte sich im Esszimmer unter den Tisch und schaute den beiden Kommissaren gelangweilt zu.

»Das ist der Plan«, sagte Kreithmeier und deutete auf die ausgebreitete Fotokopie.

»Wie es aussieht, gibt es keinen Keller. Es ist auf jeden Fall kein Kellergeschoss eingezeichnet und eine Treppe nach unten haben wir auch nicht gefunden. Da hat er gespart. Jetzt werden wir Schritt für Schritt jeden Raum noch einmal gewissenhaft untersuchen. Ich bin der Meinung, der Mann muss irgendeinen geheimen Raum, eine Art Archiv, Bilderkammer oder etwas in der Richtung hier eingebaut haben. Der Mann hat jahrelang geschrieben, da muss es doch so etwas wie eine Aktensammlung geben. Seine Notizen, seine Recherchen, seine Manuskripte, wo ist das alles?«

»In einem Schließfach in einer Bank?«, fragte Melanie und beugte sich über den Gebäudeplan.

»Oder er hat hier im Haus einen Safe versteckt, aber den müssten dann Zeidler und Schurig gefunden haben. Die waren doch einen ganzen Tag hier drinnen.«

»Nichts haben sie gefunden.« Kreithmeier war etwas ungehalten. »Rein gar nichts. Und das kommt mir spanisch vor. Hier war jemand vor uns da und hat sauber gemacht. Ob er was gefunden hat, das wissen wir nicht. Und vor allem auch nicht, was er gesucht haben könnte.«

»Also gut, wie du meinst, gehen wir jeden Raum noch einmal ganz in Ruhe von vorne durch. Klopfen wir die Wände ab und vergleichen alles mit den Bauzeichnungen. Aber da müssten wir schon gewaltiges Glück haben, wenn wir noch etwas entdecken sollten.«

»Dem Gründlichen gehört die Welt«, fügte er hinzu.

»Ist das ein Zitat, oder wieder ein blöder Spruch von dir?«

»Keine Ahnung. Fangen wir ganz einfach an!«

Melanie und Alois nahmen sich Zimmer für Zimmer vor, doch sie entdeckten nichts Neues. Die Wohnung war sauber und sah aus wie in einem Möbelprospekt für Modernes Wohnen. Wenn sie es nicht besser wüssten, könnte man direkt meinen, dieses Haus wäre ein Musterhaus, ähnlich denen im Bauzentrum in Poing, nur dazu gebaut, um potentiellen Hauskäufern ein Ambiente zu vermitteln, wie es einmal in einem Haus der jeweiligen Firma aussehen könnte.

Alois untersuchte die Küche. Kühlschrank, Geschirrspülmaschine und Herd sahen aus wie geleckt, als ob nie jemand in dieser seiner Meinung nach wunderschönen Küche jemals gekocht oder ein Essen zubereitet hat. Im kleinen Speiseschrank standen Konserven und Eingemachtes in Gläsern – eher als Dekoration – nicht als Vorrat für jemanden, der hier drinnen gelebt haben soll.

Melanie überprüfte das Festnetztelefon und den Anrufbeantworter. Keine gespeicherten Telefonnummern, keine Wahlwiederholung und keine Ansage. Das Gerät war klinisch rein. Wie gerade erst installiert. Als sie den monumentalen Flachfernseher einschaltete, zappte das erste Programm auf. Sie konnte leider keine Rückschlüsse auf das normale Fernsehverhalten des toten Schriftstellers ziehen.

In einer Schublade eines Medienschranks entdeckte sie eine stattliche Sammlung von DVDs. Einige von denen waren Horrorfilme: Vampir-, Geister- und Zombiefilme. Die meisten kannte sie nicht. Es mussten eigens für dieses Genre produzierte Streifen sein, die den Weg nie in die Kinos gefunden hatten. Im hinteren Teil einer Schublade etwas versteckt, fand sie Filme, die ihrer Meinung nach eher zum Genre Softporno oder Hardcoreporno einzuordnen waren. Die Titel waren eindeutig: »Heiße Vampireladies saugen dich aus«, »Super heiße Vampirlesben«, »der Stolz von Dracula«, »Entführt, gefangen und vergewaltigt von Vampiren« und »Gefesselt und entehrt«. Fast alle diese DVDs waren ab 18 Jahre und die Titel versprachen Sex mit Untoten und heißen Vampirdamen.

»Schau mal, Alois. Ist das hier nichts für dich?« Sie hielt einen Film mit dem Titel »Ausgesaugt und durchgefickt« in der Hand.

»Was soll das denn? Glaubst du ich brauche so etwas?«

»Ich weiß nicht. Aber unser feiner Herr Schriftsteller hat eine ganze Sammlung davon. Hat seine Nächte lieber mit Sex auf der Leinwand als auf dem Bettlaken verbracht.«

»Vielleicht ja beides. Aber eine Freundin haben wir bis jetzt noch nicht ausfindig machen können.«

»Nein.«

Melanie legte die DVD zurück in die Schublade.

»Sollen wir mal ein paar Minuten reinschauen?«, fragte sie ihren Kollegen.

»Meinst du denn, du kannst da noch was lernen? Ich wette, Zeidler und Schurig haben sich eine DVD zusammen angeschaut.«

»Du hast sicher Recht, was kann ich noch lernen? Machen wir im ersten Stock weiter. Einen Keller hat dieses Haus ja immer noch nicht.«

Im ersten Stock untersuchten sie das Bad, das Schlafzimmer, ein Ankleidezimmer und das Arbeitszimmer des Toten. Doch auch auf den zweiten Blick ergaben sich für die beiden Kommissare nichts Neues, nichts Unentdecktes, was sie nicht schon am Montagnacht hätten entdecken können.

Das Bett sah unberührt aus. Der Kleiderschrank aufgeräumt. Selbst der Behälter für schmutzige Wäsche war leer und Waschmaschine und Trockner im Badezimmer sahen aus wie gerade aufgestellt.

»Könnte es nicht sein, dass dieser Backhaus eine zweite Wohnung hat«, fragte Melanie ihren Kollegen. »Mir kommt hier alles viel zu geschleckt vor, es sieht unbewohnt aus. So lebt kein Mensch. Nicht einmal das Zahnputzglas hat Schmutz. Bei mir zu Hause hängt immer etwas Zahnpasta an der Bürste oder am Glas. Hier ist nichts. Oder es will uns jemand weiß machen, der Markus Backhaus hat nie hier drinnen gelebt. Hat er überhaupt gelebt? Wir haben zwar seine Leiche. Aber geschrieben hat er unter einem Pseudonym. Es gibt Bücher von ihm, ein Konto und ein Anlagedepot bei der Freisinger Bank. Einen Wagen. Keine Frau, keine Freunde, keine Verwandten. Eine Woche ist fast herum und bis jetzt hat sich niemand gemeldet, der ihn vermisst oder Angst um ihn hat. Der Backhaus ist ein Phantom.«

»Das ist Quatsch. Sonst hätten wir ja keine Leiche«, brummte Kreithmeier.

»Vielleicht sind sein Ausweis und sein Führerschein Fälschungen? Vielleicht hat er ein Doppelleben geführt?«, fragte Melanie rein rhetorisch.

»Blödsinn. Sein Verleger hat ihn zwar schon lange nicht mehr gesehen, aber ihn mir am Telefon genauestens beschrieben. Der Tote in der Pathologie ist Markus Backhaus alias Black Beth. Definitiv. Und es hat ihn jemand gezielt aus dem Weg geräumt. Das war kein Versehen. Oder ein psychotischer Killer, der aus Gutdünken, ganz einfach in der Therme, den Erstbesten mit vergiftetem Salz einreibt und dann darauf wartet, bis der Gesalbte das Zeitliche segnet, mit dem Diesseits abschließt, und das durch einen tödlichen Aufguss. Das wäre ja noch zu verstehen, wenn die Therme daraufhin erpresst würde. Doch das ist nicht geschehen.«

»Warum hat jemand hier so pedantisch aufgeräumt? Was hat er versucht damit zu verschleiern? Und warum das alles, Alois?«

»Ich weiß es nicht, Melanie. Was ist so Geheimnisvolles an einem albernen Horrorgeschichten Schriftsteller?«

»Der unter einem Pseudonym schreibt, und dessen tatsächlicher Name nicht einmal seinen eingefleischten Fans geläufig ist.«

»Warum bringt man jemanden um?« Kreithmeier stellte die Frage nicht direkt an seine Kollegin. Er stellte sie eher, um überhaupt etwas zu fragen.

»Du meinst die am meisten vorkommenden Tatmotive? Polizeiakademie Lektion Drei.«

»Ja.«

Melanie überlegte. Dann antwortete sie wie bei einer mündlichen Prüfung: »Eifersucht, Liebe, Rache, Geld und Neid.«

»Gut, fangen wir mit der Eifersucht an«, sagte Alois. »Wir kennen nicht sein Liebesleben, wissen aber, dass er sich zur Stimulanz den einen oder anderen Porno reingezogen hat. Allein oder mit Freundin.«

»Wir wissen es nicht, wir nehmen es nur an«, bemerkte sie.

»Okay, meinetwegen. Nur solange wir keine Freundin gefunden haben, ist das Thema Eifersucht nicht relevant. Einverstanden?«

»Ja.«

»Liebe? Fällt unter Ersteres. Rache? Klingt irgendwie passend. Nur wegen was? Hat er einem Autor die Ideen gestohlen?« Kreithmeier blickte dabei auf den Bücherschrank.

»Wenn du seinen Verleger fragst: Nein!«

»Geld? Geld hat er genug. Verdient mit seinem Geschreibsel genug davon. Und Neid? Ein Fan, ein Stalker, ein verstoßener Liebhaber seiner Werke? Könnte sein. Würde der hier so sauber machen? Wohl eher nicht. Was könnte es noch sein?«

»Erpressung?«, fragte Melanie.

»Wegen was? Glaube ich nicht.«

»Oder er könnte auf etwas gestoßen sein, bei seinen Nachforschungen für seine neue Romanreihe, was er nicht sehen durfte. Und deswegen.«

Kreithmeier dachte kurz nach: »Und was spielen die beiden Frauen darin für eine Rolle?«

»Sex. Sexspiele. Prostitution. Sexuelle Abhängigkeit oder die reine Sucht nach Macht. Macht über andere Menschen.«

»Wer? Backhaus oder die Lilienfrauen?« Melanie schaute ihn an.

»Das müssten wir noch herausfinden.«

Alois Kreithmeier breitete den Plan des Hauses auf dem Bett aus und studierte die Zeichnung. In dem Moment klingelte sein Telefon. Er meldete sich. Es war die Dienststelle.

»Einen Toten. Wo? Ach du meine Güte. Wer ist es, wisst ihr das schon? Wer? Scheiße. Das gibt es doch nicht. Das darf doch nicht wahr sein. Wir kommen. Ja, zehn bis zwanzig Minuten. Oder so.«

Melanie schaute ihren Kollegen verwirrt an.

»Was ist passiert? Du zitterst ja. Was ist denn bloß los?«

»Sie haben eine männliche Leiche gefunden. Auf einem Friedhof in einer kleinen Gemeinde im Landkreis Erding. Nicht weit entfernt von der Therme.«

»Weiß man schon, wer es ist?«

»Ja. Sie wissen es. Es ist Martin Wildgruber.«

»Der Martin Wildgruber? Der junge Mann aus der Therme?«, fragte Melanie erschüttert.

»Ja. Leider.«

»Mord?«

»So wie es aussieht, ja. Lass uns gehen. Wir kommen später wieder hierher. Wir müssen los. Man wartet auf uns. Zeidler und Schurig sind auch schon informiert. Es ist schrecklich, der Bursche war noch so jung.«

»Und wie? Wie ist er gestorben?« Ihre Stimme überschlug sich.

»Das weiß ich noch nicht. Komm! Wir werden es bald wissen.«

Zwanzig Minuten später parkte Kreithmeier den Wagen vor einer Friedhofsmauer. Vor dem Friedhof, der durch ein paar Uniformierte abgesperrt war, standen zwei Polizeifahrzeuge, ein Leichenwagen und vor der Absperrung hatten sich ein paar Schaulustige versammelt, die neugierig durch die geschmiedeten Tore ins Innere blickten, um etwas von dem mitzubekommen, was sich auf dem Gelände abspielte. Gizmo musste ihm Fahrzeug bleiben.

Als Kreithmeier und Schütz sich durch die Menge drängelten, kam ein Mann in schwarzem Anzug direkt auf sie zu. Er packte den Kommissar am Arm, seine braunen Augen funkelten wie irre und er rief hysterisch: »Sind Sie der Kriminalkommissar aus Freising?«

»Ja. Das bin ich. Und Sie?«

»Ich habe immer gewusst, dass das Böse seinen dunklen Atem über unser Dorf ausgebreitet hat, aber dass es einen heiligen Platz wie unseren Friedhof schändet, dass hatte ich nicht vorausgeahnt. Das ist eine Katastrophe. Und ich habe es geahnt. Helfen Sie uns!«

Der Mann packte Kreithmeier immer fester am Arm. Der wollte sich aus der Umklammerung winden, doch es gelang ihm nicht.

»Herrgott noch mal, lassen Sie meinen Arm los. Und wer sind Sie?«

»Fluche nicht mein Sohn. Fluche nicht. Der Herr sei dein Hirte und er wache über dich.«

»Schon gut. Ich kann auf mich selbst aufpassen. Wie heißen Sie und wer sind Sie?«

»Klosterkemper, mein Name ist Franz-Josef Klosterkemper. Ich bin der Pfarrer hier vor Ort. Und ich habe immer vor dem Bösen gewarnt. Jetzt hat es zugeschlagen. Und das genau hier auf unserem Feld der letzten Ruhe.«

»Wir unterhalten uns später.«

Kreithmeier machte eine schnelle Bewegung mit dem Oberkörper und drehte sich dabei aus dem Griff des Geistlichen. Er bekam seinen Arm frei, schob den Mann auf die Seite und sagte: »Laufen Sie nicht weg. Ich komme später zu Ihnen, jetzt muss ich aber da hinein. Später. Lassen Sie mich gehen. Ich komme wieder.«

Der Pfarrer schritt zur Seite und ließ den Kommissar vorbei. Melanie schob sich hinter ihm durch an den neugierigen Leuten vorbei. Nachdem sie einem Polizeibeamten ihre Ausweise unter die Nase gehalten hatten, durften sie passieren.

Kreithmeier schritt zielstrebig auf eine Gruppe von Menschen zu, unter denen er Rainer Zeidler, Josef Schurig und den Arzt vom Erdinger Krankenhaus Dr. Wahlmeier erkannte. Sie versperrten ihm die Sicht auf die Fundstätte der männlichen Leiche. Und so packte er als Erstes Zeidler am Arm: »Was ist hier passiert?«

»Das musst du dir schon selbst anschauen. Erfreulich ist es nicht gerade. Es handelt sich bei dem Toten um den jungen Mann aus der Therme.«

»Das weiß ich schon, aber was ist hier passiert?«, wiederholte er sich.

»Komm. Ich zeige es dir.«

Zeidler marschierte voraus zu einem größeren Familiengrab mit einem polierten Marmorstein als Grababdeckung. Auf diesem schwarzen Stein hatte man den Toten aufgebahrt. Martin Wildgruber lag auf dem Rücken. Seine Hände waren auf der Brust gefaltet. Er hatte ein weißes Gewand an, mit einem schwarzen Zeichen auf der Brust, das von seinen Händen halb verdeckt wurde. Kreithmeier konnte nicht genau erkennen, um was es sich konkret handelte, er blickte traurig auf die jungen Gesichtszüge des Toten, auf seine aschfahle Haut. Seine Augen waren geschlossen und sein Mund hatte sich zu einem Lächeln geformt.

»Ein letztes Lächeln in den letzten Minuten seines irdischen Lebens«, dachte der Kommissar.

Die Aufbahrung des Toten, die geschlossenen Augen, das weiße Baumwollgewand, und dann noch die Stelle, eine Grababdeckung eines Familiengrabes auf einem Friedhof, alles kam ihm so unwirklich vor. Auch konnte er auf den ersten Blick keine äußerlichen Merkmale einer Gewaltanwendung entdecken. Der junge Mann sah aus, als ob er sich selbst zum Ausruhen auf den Stein gelegt hätte, dann dort eingeschlafen wäre und jetzt jeden Moment aufwachen und sich über die umherstehenden Menschen amüsieren würde, die angeblich dachten, er wäre tot, doch er war es nicht. Nur ein bisschen müde, mehr nicht.

Und das Gewand, würde man ihn fragen, das sei sein Nachthemd, würde er antworten. Bequem und rein. Reine weiße Baumwolle. Das Zeichen? Was für ein Zeichen, würde er fragen. Das Zeichen auf seiner Brust. Das sehe er heute zum ersten Mal. Es könnte eine Blume sein, würde er sagen, eine stilisierte Blume, es sehe einer Lilie ähnlich. Einer schwarzen Lilie, der Blume der Huren und Verräter. Verräter? Nein, ein Verräter sei er nicht. Wie er hier auf den Friedhof gekommen sei, würde ihn dann jemand fragen. Das wüsste er nicht. Er möchte jetzt nur noch nach Hause. Doch das ging nicht mehr. Der Junge war tot. Ob er das denn nicht wüsste?

»Alois!«, unterbrach jemand an seiner Seite die Gedanken des Kommissars. Kreithmeier schüttelte sich, wandte den Blick von dem Toten ab und starrte mit leerem Blick auf das Friedhofsgelände. Er wartete darauf, dass er erwachte und der Albtraum aufhörte.

»Träumst du?«, fragte Melanie Schütz neben ihm.

»Ich?« Kreithmeier zitterte. »Nein. Natürlich nicht.«

»Du warst mit deinen Gedanken ganz woanders. Wo warst du? Du kennst doch den Mann hier?«

»Natürlich. Rainer und ich haben ihn am Donnerstag noch ganz lebendig im Sauna-Paradies gesehen. Und jetzt liegt er hier. Unfassbar. Ich kann es nicht glauben. Warum, Melanie, warum? Er war noch so jung. Und er hatte das Leben noch vor sich. Wer hat das getan und vor allem warum?«

»Ich weiß es nicht.« Und zu Zeidler gewandt fragte sie: »Was ist hier geschehen, Rainer? Warum hat er sterben müssen? Und woran? Und wer hat ihn so aufgebahrt. Das ist fast wie ein Ritual. Eine Art Fememord. Was wisst ihr denn schon?«

Rainer Zeidler schüttelte ohne zu antworten den Kopf.

»Woran ist er gestorben?« Kreithmeier stupste den Arzt an, der neben dem Grabstein kniete und vorsichtig den Leichnam untersuchte.

»Etwas Genaueres kann ich leider noch nicht sagen. Er hat zwei rote Male am Hals wie zwei Einstiche. Er muss sehr viel Blut verloren haben. Ich weiß nicht post mortem oder ante mortem.«

»Wie bitte?«

Dr. Wahlmeier hob den Kopf und sah dem Kommissar direkt in die Augen: »Ich weiß nicht ob er das viele Blut nach seinem oder vor seinem Tod verloren hat. Wenn er nicht an etwas anderem gestorben ist, dann ist er verblutet.«

»Aber hier sind nirgends Spuren von frischem Blut zu sehen.«

»Das ist richtig«, bestätigte der Arzt. »Was ich jetzt schon mit angrenzender Sicherheit sagen kann, dass der Fundort nicht der Tatort ist.«

»Und wann ist er gestorben?«

»Heute Nacht. Zwischen Mitternacht und drei Uhr früh. Das kann ich an Hand der Leichenstarre sagen.«

»Heißt das«, fragte Kreithmeier hektisch, »dass der junge Mann hat mitbekommen müssen, wie er langsam verblutet und sein Leben verschwindet?«

»Kann sein, muss aber nicht. Ich werde Ihnen alles nach der Obduktion sagen können. Nur eines ist klar, der junge Mann ist ohne Schmerzen gestorben. Viele Selbstmörder legen sich bei ihrem Suizid in eine warme Badewanne, öffnen sich dann die Pulsadern und verbluten in der Wanne. Sie schlafen langsam ein bis der letzte Funken Leben aus ihrem blutleeren Körper entwichen ist.«

»Aber Selbstmord schließen Sie aus. Herr Doktor.«

»Noch nicht.«

»Und wer hat ihn dann hier so aufgebahrt?«

»Ein Komplize, ein Helfer, vielleicht ein Freund.«

»Auf einem Friedhof?«

»Ein Friedhof hat etwas Endgültiges, etwas Reines, die Stille und die Ruhe der Verstorbenen. Und das weiße Gewand sieht aus wie ein Büßergewand in der Kirche. Dir werden deine Sünden vergeben. Du trittst rein und frei von irdischer Schuld vor deinen Schöpfer.«

Kreithmeier schüttelte seinen Kopf. »Sie glauben doch nicht, dass das hier alles ein religiöses Ritual sein soll, oder?«

»Warum nicht. Sie wissen ja sicher noch aus ihrem Kommunionsunterricht, dass Selbstmörder nicht auf geweihtem Boden begraben werden dürfen, also niemals auf einem kirchlichen Friedhof.«

»Das ist doch noch aus dem Mittelalter. Das wird heute nicht mehr praktiziert.«

»In kleinen Gemeinden sicherlich noch, da könnte ich wetten.«

»Aber Sie wissen ja nicht, ob es ein Selbstmord war oder nicht. Zeigen Sie mir bitte die beiden Male.«

Dr. Wahlmeier deutete auf zwei erbsengroße rote Male am rechten Hals direkt auf der Halsschlagader.

»Hier sehen Sie die beiden roten Male. Es kann durchaus sein, dass er hier darüber sein Blut verloren hat. Nur selbst kann er sich diese Wunden nicht zugefügt haben.«

»Also doch Mord«, fasste Kreithmeier zusammen.

»Warten Sie mit Ihren Spekulationen, bis Sie meinen Bericht gelesen haben. Kann ich den Leichnam jetzt abtransportieren lassen?«

»Setzen Sie sich bitte mit der Spurensicherung auseinander, mit Herrn Zeidler oder Herrn Schurig. Wenn die den Toten frei geben, dann ja.«

Kreithmeier schritt auf einen Polizeibeamten zu: »Rauchen Sie?«

»Ja!«, antwortete der Beamte überrascht. »Wollen Sie eine Zigarette, Herr Kommissar?«

»Bitte. Ich rauche zwar nicht mehr, aber dieser Anblick wirft mich wieder zurück.«

»Hier bitte, bedienen Sie sich. Ich finde den Anblick nicht so schlimm. Bei einem Verkehrsunfall sieht es oft viel grausamer aus. Hier sieht es fast so aus, als ob der Tote gar nicht wirklich tot ist. Es sieht aus, als ob er schläft.«

»Geben Sie mir eine Zigarette und halten Sie bitte den Mund«, sagte Kreithmeier knapp und hielt dem Beamten seine ausgestreckte Hand hin.

Der Polizist drückte ihm ein Päckchen Marlboro in die Hand und Kommissar Kreithmeier fingerte sich eine Zigarette aus der Schachtel, steckte sie in den Mund und ließ sich Feuer geben. Ohne ein Wort des Dankes wankte er zwischen Gräbern in den hinteren Teil der Friedhofsanlage Richtung Aussegnungshalle.

Der Tod des jungen Mannes hatte ihn schwer getroffen. Hatte er eine Mitschuld an seinem Tod, fragte er sich, während er wie zur Bestrafung seiner selbst, den Rauch der Zigarette brachial in seine Lungen saugte und ihn dort so lange wie möglich fest hielt. Erst als das Nikotin in seinem Rachen brannte und seine Lunge die verbrauchte Luft ausstoßen wollte, gab er nach, öffnete den Mund und blies sie mit einem kräftigen Stoß aus.

»Fängst du wieder an zu Rauchen?«, fragte eine Frauenstimme hinter ihm.

Er drehte sich nicht um, zog ein weiteres Mal an der Marlboro und sagte dann: »Ich brauchte es ganz einfach. Mich hat der Tod des jungen Wildgruber sehr mitgenommen.«

Melanie stand plötzlich neben ihm.

»Das kann ich ja verstehen«, sagte sie, »aber lass das Rauchen sein. Nikotin hilft dir dabei nicht.«

»Aber es beruhigt.«

»Nikotin ist eines der stärksten Pflanzen- beziehungsweise Nervengifte, die es gibt und die für den Menschen tödliche Dosis liegt bei nur 50 bis 60 mg. Nur 5 Zigaretten – in Wasser aufgelöst – ergeben diese Dosis. Rede lieber mit mir. Das ist gesünder.«

»Da gibt es nicht viel zu reden. Ich bin zum Teil Schuld an seinem Tod.«

»Quatsch!«

»Doch, Melanie. Wenn diese beiden Frauen ihn mit uns zusammen gesehen haben, dann haben sie sicher sofort kombiniert, dass er sie an die Polizei verraten hat. Und dann haben sie ihn bestraft.«

»Das heißt, du bist der Meinung, die beiden Frauen aus der Therme sind deine Hauptverdächtigen? Die potentiellen Mörderinnen?«

»Wer soll es denn sonst sein? Und wir kommen keinen Schritt weiter. Der Tod von Markus Backhaus hat ganz sicher etwas mit diesem hier zu tun.«

Melanie wehte mit der Hand den Rauch aus ihrem Gesicht: »Der Schriftsteller und sein Fan.«

»Ja. Und ich werde den oder die Mörder finden, das verspreche ich dir.«

»Und ich werde dir dabei helfen. Aber es hat keinen Sinn hier still vor sich hinzugrübeln und Gift deinem Körper zuzufügen. Komm wieder zu den Anderen.« Sie berührte ihn sanft am Arm. »Komm, es sieht komisch aus, wenn du hier so allein herumstiefelst. Unprofessionell. Und es könnte jemand auf die Idee kommen, dass du ein privates Interesse an der Aufklärung haben könntest, Befangenheit. Man könnte dir den Fall wegnehmen.«

»LKA?«, fragte Kreithmeier sie.

»Die Herren Burger und Hoger hätten sicher ihren Spaß daran.«

»Gut, was sollen wir deiner Meinung nach tun?«

»Erst einmal die Zeugen hier vor Ort befragen.«

Kreithmeier drehte sich zu ihr um: »Und wer hat den Toten gefunden?«

»Eine ältere Dame, die frische Blumen auf das Grab ihres verschiedenen Mannes stellen wollte. Ein Beamter nimmt ihre Aussage auf.«

»Und was war das vorhin mit dem Pfarrer?«, fragte er sie.

»Dieser durchgeknallte Typ vor der Absperrung?«

»Der hat sie ja nicht alle. Das Böse ist unter uns. Ich habe es ja schon immer gewusst. Der dunkle Atem des Todes breitet sich nun auch über unser Dorf aus«, wiederholte er die frommen Sprüche des Geistlichen.

»Der Pfaff hat wohl zu viel seines eigenen Messweins konsumiert.«

»Da kannst du Recht haben, Melanie, aber wir sollten uns trotzdem mit ihm unterhalten. Verrückte sprechen oft die Wahrheit, auch wenn sie es selbst nicht merken oder wissen.«

»Das kannst du allein machen, Alois. Du kennst meine Einstellung zur Kirche insbesondere zur Katholischen. Daran hat sich nichts geändert.«

»Ja, ich weiß«, sagte er fast flehend, »aber ich bitte dich auch, mich zu begleiten. Gerade diese deine Einstellung macht dich unangreifbar gegen solche katechetischen Sprüche. Du bist da weit objektiver als ich.«

»Na gut. Ich komm mit.«

»Aber versprich mir, diesen Pfarrer ganz normal zu behandeln.«

»Ja, das mache ich«, gelobte Melanie.

»Schauen wir noch einmal kurz bei der Spusi vorbei, ob sie noch etwas gefunden haben.»

»Ja, es ist gut, wenn du dich dort zeigst. Du bist der Dienstälteste von uns beiden. Du bist der Chef. Und nun benimm dich auch so.«

»Wird gemacht, Melanie, wird gemacht.«

Tödlicher Aufguss

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