Читать книгу Blutiges Freibier - Axel Birkmann - Страница 3

Dirndl und Lederhose

Оглавление

Dolce Vita, dachte er. Dolce Vita!

Warum tat er sich das bloß an? Warum hatte er sich überhaupt darauf eingelassen? Wo er doch Ansammlungen von Menschen in solchen Größenanordnungen hasste. Warum nur?

Alois Kreithmeier stand in seinem Schlafzimmer vor seinem Kleiderschrank und betrachtete sich im Spiegel. Missmutig schaute er an sich herunter. Was er sah, begeisterte ihn nicht im Geringsten. Für ihn war das alles Kasperltheater oder dummer Mummenschanz. Fasching. Fasnet. Karneval. Oder wie auch immer. Er fühlte sich in seiner Haut nicht wohl. Sollten doch die Preußen so etwas anziehen. Die brauchten es, um nicht aufzufallen. Obwohl, wenn sie dann den Mund aufmachten und etwas sagten.

Er blickte in den Spiegel und sah sich genauestens an. Er erblickte sein Spiegelbild, das Spiegelbild eines Mannes in der Blüte seines Lebens. Er hatte ein paar Kilogramm abgenommen, dank der Überredungskünste seiner Kollegin Melanie Schütz. Und das stand ihm gut. Sein Bierbauch war verschwunden. Er musterte diesen Mann im Spiegel, der in kurzer Lederhose, graugrünen Wollwadenwärmern, so genannten Loiferl, schwarzen Haferlschuhen, einem rotweiß karierten Trachtenhemd und einem grauen Janker in seinem Schlafzimmer stand, ziemlich griesgrämig drein schaute, vor allem, weil ihm seine Kollegin, die zudem auch noch aus Thüringen kam, ihn ohne die richtige Verkleidung nicht mit aufs alljährliche Freisinger Volksfest mitnehmen würde. Denn sie würde, so hatte sie ihn mit Engelszungen überredet, oder besser gesagt, weich gekocht, ja sie würde auch in Tracht, in einem feschen Dirndl erscheinen. Und sie beide sollten doch zusammen passen. Ein Paar abgeben. Wenn man sie denn zusammen sehen würde. Wer auch immer das sein sollte.

»Melanie, meine fesche Kollegin, eine Preußin aus Thüringen, in einem Dirndl?«, knurrte Kreithmeier sein Spiegelbild an. Auch wenn er noch so verärgert und mürrisch drein schaute, er fand, er sah gut aus in seinem Gewand. Die paar Kilogramm weniger standen ihm. Und seine Wadeln waren zum herzeigen. Und auf die Freisinger Wiesn passte er in diesem Staat besser als in einem seiner blauen Adler- oder K+L-Ruppert-Anzüge, geschweige denn schwarzer Lederjacke mit Jeans. Aber es ging ihm ganz einfach ums Prinzip.

Da fast jeder mittlerweile, ob deutscher, japanischer, neuseeländischer oder italienischer Preuße sich für das Oktoberfest in irgendeine billige Tracht warf, musste er als gebürtiger Oberpfälzer diesen Verkleidungswahnsinn nicht mitmachen und schon gar nicht unterstützen. Doch er hatte keine echte Chance gegen Melanie. Ihre Drohung, dass sie, falls er nicht in Tracht mit ihr auf die Freisinger Wiesn gehe, ihn nie wieder ein Wort privater Natur mit ihr sprechen ließ, hatte ihn motiviert und schließlich widerwillig überzeugt, in den untersten Fächern seines Kleiderschranks nach den entsprechenden Kleidungsstücken zu suchen.

Und er wurde fündig. Und er war überrascht, wie alles noch passte. Vor allem seine Krachlederne aus echtem Hirsch.

Jetzt war es sowieso rum, Melanie würde bald klingeln, ein Zurück gab es nicht mehr. Und dann würde sie mit ihm Arm in Arm auf die Luitpoldanlage schlendern, zum Gespött aller Leute und mit 6.000 verrückten Fans Dolce Vita im Festzelt anhören: »Bier, Hendl, Brezn und die Krüge hoch. Oans, Zwoa, Gsuffa.«

Wie er das hasste.

Seine Gefühlsregungen wurden mit dem lauten Schellen der Hausglocke gestört. Es klingelte an der Wohnungstür. Melanie, durchzuckte es ihn. War es denn schon so spät?

Ein letzter Blick in den Spiegel, dann drehte er auf dem Absatz um, eilte zur Tür und öffnete. Ihm blieb die Begrüßung im Hals stecken. Vor ihm stand eine bildhübsche Frau mit langen blonden Haaren, die in alter Tradition zu einem Kranz hochgesteckt waren. Die junge Frau selbst steckte in einem hellblauen, klassischen Dirndl, mit weißer Schürze und Bluse und lächelte ihn verlegen an. Sie sah einfach hinreißend aus. Wie sie ihn so ansah und sein Outfit musterte, hatte er fast seine Schmähtiraden von vorhin über Trachten und Verkleidung vergessen. Melanie sah zum Anknabbern aus. Sie beugte sich vor, gab ihm einen zaghaften Kuss auf die Wange und sagte: »Können wir, Kreiti? Es wird sicher voll heute.«

Kreithmeier fand seine Stimme wieder und murmelte nur ein knappes Ja. Dann zog er hinter sich die Türe zu, Melanie hängte sich an ihm ein und sie schlugen zu Fuß den Weg in die Isarauen ein, eigentlich direkt zur Luitpoldanlage, zum Festplatz, auf dem anlässlich des diesjährigen Freisinger Volksfestes das Bierzelt, die Fahrgeschäfte und die diversen Wurf-, Schieß- und Fressbuden aufgebaut waren.

Es war Dienstag, der 11. September 2012. Und wie jedes Jahr am Dienstag während des Volksfestes würde heute im Festzelt die Stimmungsband Dolce Vita auftreten, die seit 1984 immer noch in der gleichen Besetzung die Bierzelte von Freising bis nach Straubing zum Kochen brachte. Sogar in Wernigerode im Harz traten sie auf. Und genau zu diesem Spektakel hatte Melanie ihn überredet, sie zu begleiten.

Mit ihrem Freund Richard Kramer, der emsigen Laborratte, wie Alois ihn immer genannt hatte, war seit kurzem Schluss, und so musste Alois wohl oder übel dran glauben. Dolce Vita.

Sie schlenderten über den Damm Richtung Festplatz. Es war warm, die Sonne schien: Kaiserwetter. Sie waren früh dran, das Konzert würde erst um halb Acht beginnen, aber man sollte früh genug vorher dort sein, denn sonst bekam man keinen Platz. Jedes Jahr feierten fast 6.000 Volksfestbesucher den Auftritt der Showband. Und Melanie wollte sie auf keinen Fall versäumen.

Sie hatte sich bei ihrem Kommissar an seiner rechten Seite untergehakt und genoss die warme Septembersonne auf ihren nackten Schultern. Sie war hart im Nehmen und hatte für den Abend keine Stola mitgenommen. Zur Not konnte Alois ihr ja seinen Trachtenjanker über die Schulter legen. Sie riss sich von ihm los, tänzelte mit ihren flachen Schuhen ein paar Meter vor ihm her, drehte sich im Gehen um und sagte: »Habe ich dir eigentlich schon gesagt, dass du umwerfend gut aussiehst? Vor allem für Jemanden, der so ein Geschiss ums Anziehen macht wie du.«

Sie warf ihm eine Kusshand zu.

Kreithmeier schüttelte verlegen den Kopf und stammelte nur ein kurzes »Nein«.

»Ja, du siehst richtig geil aus, zum Verlieben. Knackige Wadeln, breite Schultern, keinen Bauch, beim Friseur warst du auch noch, frisch rasiert, geil, einfach geil.«

Kreithmeier sagte nichts. Diese Worte aus dem Mund seiner Kollegin zu hören waren wie der Lobgesang der Sirenen. Und das dies gerade von ihr kommen musste, von einer Frau, die ihn immer wieder gefoppt hatte, mit seinem Übergewicht, seinem nervigen Rauchen und seinen üblen Essgewohnheiten. Obwohl eine Frau aus den neuen Bundesländern sicher nicht die nötige Kompetenz aufweisen konnte, einen waschechten Bayern in Lederhose und Trachtengewand richtig zu beurteilen. Aber es tat ihm gut.

Sie hakte sich wieder bei ihm ein und er gab ihr als Dank einen Kuss auf den Kopf. Es fühlte sich gut an, sie in seinen Armen zu haben. Als sie an der Luitpoldhalle vorbeikamen, konnte er einen kurzen Blick auf eines der großen Fenster erhaschen. Er konnte sie beide als Spiegelbild erspähen. Und er musste neidlos anerkennen, sie beide sahen großartig aus. Mister und Misses Bavaria. Ein großer kräftiger Mann in kurzer, knackiger Lederhose und ein blonder Rauschgoldengel im Tegernseer Dirndl. Alois schmunzelte. Seine muffigen Gedanken waren verflogen. Er war stolz auf sich. Und auf das Mädel, das neben ihm unruhig daher hopste. Jeder würde sie für ein Liebes- oder Ehepaar halten, dabei waren sie nur Kollegen. Und sie waren Freunde. Doch außer ein paar Umarmungen, ein paar Küsschen, war niemals etwas passiert. Und das war auch gut so. Uns so sollte es auch bleiben.

Sein letztes tiefgründiges sexuelles Erlebnis war eine Zeit lang her. Eine Wahnsinnsnacht mit einer Wahnsinnsfrau. Nur leider stellte sich später heraus, dass sie eine Mörderin war und ihre Sühne in einem Freitod suchte.

Danach hatte sich Kreithmeier in die Arbeit gestürzt und hatte seinen Mail-Account in einer der angesagten Freundschafts- und Heiratsvermittlungsbörsen geschlossen. Das letzte halbe Jahr war langweilig gewesen. Nach den beiden letzten Morden war nichts passiert. Die Domstadt Freising war wieder in ihren kriminalistischen Dornröschenschlaf versunken und die schlimmen Finger gaben sich in München oder in Augsburg die Hand. Er hatte die Zeit genutzt, seine Wohnung neu einzurichten, und somit etwas mehr Farbe und Gemütlichkeit in seine trutzige Festung gebracht.

Festung nannte Melanie immer seine vier Wände oder seine graue Trutzburg. Weil er sich nach der Trennung von seiner Frau, immer wieder in seine eigenen vier Wände zurück gezogen, und dem Sinn des Lebens hinter her trauerte, aber auch nichts unternommen hatte, um es farbiger, lebhafter und vor allem lebenswerter zu gestalten.

Statt seiner Frau hatte er jetzt einen Hund. Gizmo. Einen Mischling aus dem Tierheim. Weiß, kräftig, treu und anschmiegsam. Wie ein kleiner Eisbär sah er aus. Aber der kleine musste leider heute zu Hause bleiben.

Und Alois hatte sich in einem Fitnessstudio angemeldet. Ein wenig Ausdauersport. Krafttraining. Und er hatte seine Ernährung umgestellt. Statt Brötchen gab es Vollkornbrot, statt Marmelade Geflügelwurst und statt Tiefkühlpizza stand öfter frischer Fisch, Salat mit Hähnchenbrust und Gemüse auf dem Essensplan. Er hatte an Köperfülle abgenommen und an Kondition zugenommen. Sonst hätten die Klamotten niemals gepasst. Hatte er die Lederhose doch mit Sicherheit das letzte Mal vor über zehn Jahren getragen. Zur Kirchweih oder zu einer Trachtenhochzeit. Lang, lang war es her.

Das einzige Übel, von dem er noch nicht lassen konnte, war die Raucherei. Er hatte sie zwar stark eingeschränkt und nur noch auf ein paar Glimmstängel pro Tag reduziert. Aber wenn er nachdenken musste, oder wenn er mit Gizmo gleich am frühen Morgen durch die Isarauen schritt und dabei genüsslich eine qualmte, das hatte er sich noch nicht verkneifen können, bei allen Angriffen und Seitenhieben seiner Kollegin, das blieb. Das gönnte er sich noch. Es gab dann ja noch etwas, was man sich für 2013 vornehmen konnte. Der 31. 12. 2012 wäre das geeignete Datum, exakt an diesem Tag mit dem Rauchen aufzuhören. Doch das dauerte noch ein viertel Jahr. Und das wollte er genießen. Wie um dieses auch noch zu unterstreichen, zog er ein Päckchen Marlboro Light aus der Tasche und zündete sich eine Zigarette an.

Melanie sagte nichts, sie wusste, ein Kommentar von ihr könnte den Abend kippen und ihre und seine gute Laune verjagen. Sie hüstelte nur etwas und sah ihn fragend an.

»Na, ja, eine Letzte«, sagte er. »Im Bierzelt ist ja seit kurzem Rauchen verboten.«

»Das ist auch gut so«, kommentierte Melanie Alois Bemerkung, und biss sich auf die Zähne, um keine Grundsatzdiskussion über die gesundheitsgefährdeten Risiken des Rauchens vom Stapel zu lassen.

»Solange sie das Biertrinken darin nicht verbieten«, schmunzelte er etwas verlegen und blies den Rauch links zur Seite um Melanie damit nicht zu belästigen.

»Danke!«, sagte sie leise. Sie hatte es wohlwollend registriert, dass er ihr neues Dirndl nicht mit Nikotin geschwängerten Rauchschwaden imprägnieren wollte.

Alois sah sie an, dann schnippte er die Zigarette in einem weiten Bogen auf die Straße und lächelte: »Na gut, das war es erst einmal. Stürzen wir uns ins Getümmel. Hast du eigentlich etwas reserviert?«

»Der Rainer wollte das tun. Er kennt einen von den Bedienungen.«

»Und sag jetzt bitte nicht, der schuldet ihm noch was«, rief er laut aus.

»Doch. So ähnlich hat er sich dabei ausgedrückt. Wir treffen ihn pünktlich um 19 Uhr am Eingang vor dem Zelt. Dann wissen wir mehr.«

»Wer kommt eigentlich noch alles?«, wollte Kreithmeier wissen.

»Also der Rainer, sein Kollege, der Schurig, der Dallinger und ein paar Jungs von der Bereitschaft.«

»Kommt auch dein Freund vom Bayerischen Landeskriminalamt, dieser affektierte Dandy, dieser Burger?«

»Nein. Außerdem ist er nicht mein Freund.«

»Stimmt«, sagte Alois, »er hat ja erst zweimal bei dir übernachtet, da spricht man noch nicht von Freundschaft. Eher von einem Date oder einem One-Night-Stand.«

»Du Knallkopf. Zwischen dem Burger und mir war nichts, ist nichts und wird niemals etwas sein«, konterte Melanie angriffslustig.

»In der Not frisst der Teufel Fliegen.«

»Dass ich nicht gleich lache. Auch wenn mit Richard überraschenderweise Schluss ist, heißt das noch lange nicht, dass ich gleich danach mit einem Kollegen ins Bett hupfen muss. Kann es eigentlich sein, mein lieber Kreiti, dass du etwas eifersüchtig bist?«

Alois Kreithmeier schluckte. Er hasste es, wenn sie ihn Kreiti nannte. War er das? Eifersüchtig? Es konnte ihm ja eigentlich egal sein, was seine Kollegin alles in ihrer Freizeit tat oder nicht tat. Oder etwa nicht? Er fühlte sich ertappt. Er sagte nichts und zog Melanie auf den Festplatz.

»Lass uns noch vorher eine Runde Kettenkarussell fahren«, wechselte er das Thema. »Komm Melanie, ich lade dich ein.«

Melanie hatte verstanden. Dieses Thema war ihm peinlich. Auch wenn ihr Kreiti das niemals bestätigt hatte oder jemals bestätigen würde, er war wirklich eifersüchtig. Er mochte sie, und dieses weit über ihre polizeiliche Kollegialität hinaus. Doch für ihn gab es eiserne ungeschriebene Gesetze, an die er sich mit aller Kraft hielt. Job ist Job und Schnaps ist Schnaps. Er würde nie etwas mit einer Kollegin anfangen, also niemals etwas mit ihr. Und das war auch gut so. Obwohl es ihr auch ab und zu leid tat. Alois war ein gut aussehender Mann, wenn er sich entsprechend kleidete und sich pflegte. Doch er war privat wie ein Vorhängeschloss. Man brauchte einen Schlüssel oder einen Dietrich, um ihn zu öffnen. Und diese Dinge hatte sie noch nicht.

Das Kettenkarussell ließ ihre Gedanken in die noch warme September Abendluft treiben. Ihr Rock wehte ihr um die Waden und zeigte einen Teil ihrer nackten Beine. Es fröstelte sie leicht um die Schultern, aber die schnell drehende Bewegung und der frische Fahrwind in ihrem Gesicht brachten sie auf ganz andere Gedanken.

Rainer Zeidler erwartete sie am Eingang des Festzeltes. Wie besprochen.

Er sah aus wie ein Wilderer. Eine lange dunkle Lederhose, geschnürte Bergschuhe, ein grünes Leinenhemd und darüber eine Strickjacke mit Fellbesatz, und zu guter Letzt noch ein Filzhut mit Gamsbart auf seinen zu einem Pferdeschwanz zusammen gebundenen Haaren, ließen ihn aussehen wie aus einem bayerischen Heimatstück. Der Jäger von Fall oder der Wildschütz Jännerwein.

Alois schluckte einen Aufschrei und ein Auflachen leise und heimlich hinunter und begrüßte ihn höflich. Neben Rainer stand Josef Schurig, auch ganz in Tracht. Nur nicht so burschikos. Eher elegant. Also ob er in die Kirche gehen wollte. Josef Schurig trug einen dunkelblauen Lodenanzug, dazu schwarze glänzende Haferlschuhe und ein weißes Hemd mit Stickereien.

Kreithmeier musste sofort an eine Fernsehsendung der späten 60 er und Anfang der 70 er Jahre denken: Das Königlich Bayerische Amtsgericht. Besonderes Markenzeichen der Serie war der stets schnupfende Amtsrichter August Stierhammer, der manchmal eigenartige und listige Methoden der Prozessführung an den Tag legte. Die beiden erinnerten ihn daran. Rainer der Wilderer und der Schurig als sein Verteidiger. Und er, der Alois, er würde der Richter sein. Und beide verurteilen. Er erinnerte sich an den letzten Spruch am Ende jeder Folge, immer von Gustl Bayrhammer gesprochen: »Ob Freispruch oder Zuchthaus – und auf die Guillotin' hat unser Herr Rat eh niemanden geschickt.«

»Grüßt euch!«, sagte Rainer Zeidler zu den beiden Kommissaren, als sie plötzlich vor ihm standen. »Sauber seht’s aus. Kernig. Und des Dirndl. Melanie, alle Achtung. Siehst aus wie die Hallertauer Hopfenkönigin.«

»Danke für die Blumen«, gurrte Melanie zurück.

»Und die Dirndlschleife auf der linken Seite, also noch zu haben«, gluckste Rainer.

Melanie lachte und antwortete ihm auf sächsisch hochdeutsch. »Ja meen Gutster. Des mit diesen Schleifen, da ist es wie mit der sprichwörtlichen schwarzen Katze: Schleife links, Glück bringt’s! Gell.«

»Stimmt!«, bestätigte der Zeidler. »Denn wenn die Dirndlträgerin ihre Schürze auf der linken Seite bindet, ist sie ledig und noch zu haben. Anbandeln ist in diesem Fall also erlaubt oder sogar erwünscht! Und was geht heute noch so Melanie?«

»Hör auf zu blödeln«, mischte sich Alois Kreithmeier muffig ein. »Hast du einen Tisch für uns bekommen, Rainer?«

»Was glaubst du denn? Eh klar.«

»Es schuldet dir sicher jemand noch einen Gefallen?«, hakte Alois nach.

Rainer blickte seinen Kollegen leicht verwundert an, dann sagte er nur kurz: »Mir nach.« Und lief voraus ins Zelt.

Melanie, Alois und Schurig folgten ihm.

Das Festzelt war soweit Alois sehen konnte, fast schon voll. Überall saßen Leute, teilweise in Tracht, aber auch nur in Freizeitkleidung, mit Jeans, Lederjacke und Turnschuhen. Er wäre also mit seiner normalen Kleidung nicht aufgefallen.

Das Zelt war riesengroß. Ähnlich einem Bierzelt auf dem Oktoberfest in München. Feste Seitenwände aus Holz mit richtigen Fenstern. Eine Bühne auf der rechten Seite und einen hölzernen Balkon mit Boxen auf der linken Seite. Und der Vordereingang konnte geöffnet werden. Vor dem Zelt standen wie in einem Biergarten, weitere Tisch- und Sitzbankgarnituren, an denen Gäste bei schönem Wetter Platz nehmen konnten. Für die unter Umständen schon recht kühlen Spätsommerabende hatte der Wirt Gasstrahler aufgestellt, die dementsprechend Wärme abgeben sollten. Doch heute Abend war es noch angenehm warm und der eigentliche Rummel würde im Zelt statt finden, wenn in wenigen Minuten die Band Dolce Vita die Festzeltgäste auf die Bänke trieb. Dann würden 6.000 Menschen auf den Bänken stehen und grölen. Und sich immer wieder mit Bierkrügen zuprosten.

Wenn Alois an die Schallwelle dachte, die sich in den nächsten Stunden durch das Zelt wälzen würde, dann wurde ihm ganz anders. Am Liebsten hätte er sofort kehrt gemacht und wäre nach Hause geflohen, die Kleidung ausgezogen und sich zu seinem Hund auf die Coach geschneckelt und lieber irgendeinen Schwachsinn im Fernsehen angesehen, als mit seinen Kollegen die »Krüge hoch« gerufen.

Rainer hatte einen Tisch nicht weit entfernt von der Theke, eine an der Längsseite des Zeltes entlang gehende Absperrung, hinter der gekocht, gebraten, angerichtet und ausgeschenkt wurde. Eine Armada an Bedienungs- und Küchenpersonal sollte dafür sorgen, dass keiner der Gäste verhungern oder verdursten musste.

Bayerische Schmankerl und frisch gezapftes Freisinger Bier.

Polizeiwachtmeister Dallinger und drei seiner Kollegen, die heute nicht zum Dienst auf dem Volksfest eingeteilt waren, saßen schon am Tisch und begrüßten herzlich die beiden Kriminaler und die Herren der Spurensicherung.

Alois mochte den Dallinger nicht so besonders. Er hatte für ihn ein loses Mundwerk und war dafür berühmt, nichts aber auch gar nichts für sich zu behalten und jedem möglichen Gerücht weitere Nahrung zu geben. So hatte er zum Beispiel vor einem halbem Jahr auf dem Polizeirevier verlauten lassen, dass Alois und Melanie ein Paar wären, nur weil er sie einmal engumschlungen gesehen hatte. Das ging bis nach Erding und bis zur Staatsanwältin Lehner nach Landshut, der daraufhin nichts Besseres einfiel, Melanie Vorhaltungen über ihre Beziehung zu ihrem Chef zu machen. Nur es war nichts. Rein gar nichts. Alois machte gute Meine zum bösen Spiel und grüßte die Uniformierten herzlich, die alle vier in Lederhose und Trachtenjanker schon mit einer Maß Bier vor sich am Tisch saßen.

»Habe die Ehre, Kollegen«, grüßte er knapp.

Vielleicht sollte er mal eine Eingabe ins Innenministerium machen, dachte er, als er das vierblättrige Kleeblatt vor sich sitzen sah, dass die Polizisten während der Wiesen in Dirndl und Lederhose Dienst verrichten sollten. Die Lufthansa, fast alle Hotels in München und Umgebung und andere Firmen, statteten längst während dieser Tage ihre Mitarbeiter mit dieser Art Verkleidung aus.

Sie setzen sich. Kurze Zeit später stand eine junge Asiatin vor ihnen und bat um die Bestellung. Als sie wenige Augenblicke später den Neuankömmlingen jeweils eine Maß Bier auf den Tisch gestellt hatte, konnte der Dallinger nicht seine Klappe halten.

»Jetzt samma in einem bayerischen Bierzelt und wen hamms als Bedienung?«, brummte er grantig in sein Bierglas. »A Schlitzauge. Ja wo samma denn. Hammer denn keine Bayern, die im Bierzelt oarbeitn wolln?«

»Ich weiß es nicht«, antworte Melanie. »Aber in den meisten Biergärten in München arbeiten doch auch keine Bayern mehr. Vielleicht gerade noch in der Paulaner Werbung. Aber in Natura. Da wird sächsisch, schwäbisch, platt und berlinerisch gesprochen.«

»Des sogt grod di Richtige.« Dallinger lachte laut auf und prostete Melanie zu.

»Richtig, Dallinger. Prost. Auch wenn du ein waschechter Bayer bist, leg dich niemals beim Trinken mit einer Ostdeutschen an.«

»Da habe ich schon davon gehört.« Dallinger veränderte seine Stimme und sprach nun hochdeutsch mit Melanie. »Sie sollen ja den Burger vom BLKA böse abgefüllt haben.«

»Das ist ja schon ewig her. Vergiss es Dallinger. Vergiss es ganz einfach.«

Ihre letzten Worte gingen in der Lautstärke unter, die jetzt von der Bühne am anderen Ende des Zeltes herkam. Dolce Vita hatte begonnen zu spielen. Es war Dienstag, der 11. September 2013.

Und Alois hörte zu. Er merkte es den fünf Musikern an, dass es ihnen Spaß machte auf der Bühne zu stehen, was sich schnell auf das Publikum im Freisinger Festzelt übertrug. Kurze Zeit später stand alles auf den Bänken. Melanie zog ihn plötzlich am Arm hoch und so musste auch er zum Rhythmus der Musik zuckend auf dem schmalen hölzernen Brett stehen.

Von zünftig bayrischen Schunkelliedern, Schlagern und Evergreens über aktuelle Hits bis hin zu klassischen Rocknummern: Alles war dabei.

Immer wieder schubste Melanie ihren Kollegen mit der Hüfte an und umschlang seinen Hals bei besonders schönen Musiktiteln. Bei dem alten Kiss-Titel »I was made for loving you, baby«, busselte sie ihn regelrecht ab. Bei einem Song, der von einem Bob handelte wiegten sich alle im Bierzelt nach den Richtungsangaben des Sängers. Links zwo drei und Rechts zwo drei. Alois konnte nur staunen über die Ausgelassenheit des Freisinger Publikums. Überwiegend Jugendliche. Vor allem hübsche Mädchen im Dirndl und ausgeschnittenen Dekolletees. Nett anzusehen. Langsam war er froh, dass er mit seiner Kluft dazu gehörte. Und je rockiger die Band aufspielte, desto ausgelassener war die Stimmung an ihrem Tisch.

Bei einem Volksmusikstück versuchte sich Rainer Zeidler mit einem Schuhplattler. Er hieb sich mit der flachen Hand lauthals schreiend und jodelnd auf die Oberschenkel und wäre dabei beinahe von der Bank gestürzt, wenn ihn nicht sein Kollege Schurig noch rechtzeitig gehalten hätte.

Ein Höhepunkt des Abends war sicherlich das jährlich wechselnde Showprogramm mit umgetexteten Liedern, Parodien und Darstellungen großer und bekannter Künstler und Persönlichkeiten. Die Vielseitigkeit der einzelnen Musiker war kaum zu überbieten und garantierte ein äußerst abwechslungsreiches Repertoire. Es war für Alois auch nicht weiter verwunderlich, dass die Band nun schon seit 24 Jahren in der gleichen Besetzung auftrat.

Ein Garant für den Erfolg von Dolce Vita war nicht zuletzt das Gespür, das richtige Lied zum richtigen Zeitpunkt zu spielen. Ihr Einsatz modernster Ton- und Lichttechnik sorgte für einen angenehmen Sound und eine professionelle, ausgefeilte Lightshow.

Mit der Kombination aus Musik, Show, Unterhaltung und Stimmung wurde Dolce Vita wieder einmal zu einem unvergesslichen Abend auf dem Freisinger Volksfest.

Alle Rekorde gebrochen haben müsste der diesjährige Volksfestabend mit der Showband Dolce Vita. Das Bierzelt war komplett ausgebucht – an die 7.000 Besucher drängten sich an Tischen, auf den Bänken und in den Gängen. Und als der Regen einsetzte, strömten noch mehr unter die schützenden Vordächer. Nicht mehr zu toppen war auch die Stimmung: Vom ersten Song an gab’s kein Halten mehr. Und mitten drin unsere Freisinger Kommissare.

Nach fast drei Stunden Musik, die Krüge hoch, Geschunkel und Getanze war alles vorbei. Um Mitternacht wurde das Licht im Zelt hell aufgedreht. Ordner und Bedienungen geleiteten die letzten Gäste hinaus. Die Küche war schon seit einer halben Stunde geschlossen und die letzten Maß Bier waren längst ausgeschenkt worden. Das Zelt leerte sich zügig. Die ersten Putzkräfte räumten die Tische auf, stellten die Bänke darauf und sammelten den Müll auf dem Boden ein.

Dallinger war mit seinen Kollegen schon vor einer halben Stunde aufgebrochen. Alois, Melanie und die beiden von der Spurensicherung saßen noch. Irgendwie belämmert hockten sie am Tisch. Alois versuchte durch mehrmaliges in die Nase schnauben den Druck in seinen Ohren auszugleichen. Sie waren die letzten Stunden einer regelrechten Dauerbeschallung von weit über 100 Dezibel ausgesetzt worden. Er wollte sich gar nicht vorstellen, wie laut es vorne an der Bühne gewesen sein musste.

Leicht irritiert starrte er in seinen leeren Bierkrug. Er war müde, hatte einen mehr oder weniger leichten Schwips. Es waren doch einige Maß gewesen und er hasste es, jetzt nach Hause laufen zu müssen.

»Nehmen wir uns ein Taxi, Melanie, ich bin zu faul nach Hause zu gehen,« sagte er in seinen Krug.

»Von mir aus«, antwortete sie. »Obwohl ein kleiner Spaziergang in der kühlen Nachtluft uns sicher gut tun würde.«

»Melanie!«, flehte er müde.

»Ist schon gut, Alois, ein Taxi, wenn wir überhaupt eines bekommen.«

Die kleine Asiatin kam an ihren Tisch, schnappte sich die leeren Bierkrüge und sagte höflich: »Wenn ihr dann bitte auch gehen würdet, ich muss noch die Tische abputzen und morgen geht es gleich weiter. Auch ich bin müde.«

»Ja, ja, wir gehen gleich!« Melanie stand auf, brachte mit den Händen ihr Dirndl einigermaßen in Ordnung und sagte zu den Kollegen: »Ihr habt es gehört, die machen jetzt gleich das Licht aus, lasst uns gehen.«

»Ein geiler Abend. Lange nicht mehr so viel Spaß gehabt. Links zwo drei und Rechts zwo drei«, sang Rainer und stand auf. »Komm, Alois, pack ma’s. War doch Ends geil, oder?«

Josef Schurig machte es seinem Kollegen nach und folgte ihm. Alois raffte sich hoch. Er blickte ein letztes Mal ins leere Festzelt. Er konnte es gar nicht fassen, wie hier gerade noch der Bär getobt hat. Tausende junger Leute auf den Bänken, geschunkelt, geschrien, gesungen und getanzt. Und jetzt war alles so ruhig.

Seine Ohren surrten immer noch.

Plötzlich zerriss ein Schrei die Stille.

Aus dem Küchenbereich rannte eine Frau hysterisch schreiend in den Gastbereich. Sie schrie wie am Spieß immer wieder die gleichen Worte ins Zelt hinein. Die zum Aufbruch bereiten letzten Gäste, die die Tische abräumenden Bedienungen und die saubermachenden Hilfskräfte, blieben wie angewurzelt stehen und sahen zu der völlig aufgelösten Frau.

Eine Frau um die Fünfzig, oder drüber, in Dirndl, mit hochrotem Kopf, weit aufgerissenen Augen, verzerrtem Mund, lief schreiend auf sie zu.

Erst jetzt konnte man die undeutlichen Worte verstehen. Sie rief immer wieder: »Ein Toter, ein Toter, im Bierlager liegt ein Toter. Erschlagen. Der Wirt, ein Toter. Er ist tot. Tot. Tot.«

Blutiges Freibier

Подняться наверх