Читать книгу Der Makel der Freiheit - Axel-Johannes Korb - Страница 12

Оглавление

VI

Bonifaz sah es nicht gern, wenn Kilian an den Nachmittagen mit dem Geigenkasten unter dem Arm das Haus verließ, um damit durch Feld und Wald zu streifen. Er hatte sich seinen Sohn noch einmal zur Brust genommen, hatte ihn an die Übereinkunft erinnert, hatte ihn ermahnt, sich nützlich zu machen, sei es in der Apotheke bei Bruder Jeremias oder wo auch immer, gerade jetzt könne man keine Träumereien gebrauchen, es gelte, sich auf den Krieg vorzubereiten. Das sei eine harte Sache und habe nichts mit nutzlosem Zeitvertreib zu tun.

Als Taugenichts wollte sich Kilian nicht bezeichnen lassen. Er verwies auf seine morgendliche Tätigkeit in der Apotheke und beklagte sich zugleich über den Apothekenbruder, der es nicht duldete, wenn sich sein Gehilfe aufwendigen Prozeduren zuwandte und hierzu in den dicken Folianten mit ihren farbigen Darstellungen schmökerte. Bruder Jeremias schlage ihm das Buch regelmäßig unter der Nase zu. Bonifaz wollte davon nichts hören. Kilian dachte, der Grund für seine Abneigung gegen diese Berichte sei die Vermutung, der Sohn entziehe sich bequem dem Unbequemen.

Bonifaz Kramer konnte es hingegen nicht ertragen, wie sein Sohn zum Diener pfäffischen Gehabes wurde. So ermahnte er ihn zwar in aller Deutlichkeit zum Schaffen, wusste sich aber hilflos und akzeptierte in aller Heimlichkeit den Drang Kilians, mit dem Geigenkasten unter dem Arm ins Freie zu kommen, um die engen Mauern der Stadt an den Nachmittagen hinter sich zu lassen und für einige Stunden das Weite zu suchen.

Erst aus der Ferne vermochte es Kilian, versöhnlich auf die Stadt zu blicken. Die Mauern, die bunten Balken, die vier Tortürme und die eng gedrängten Dächer schauten weit über alle Land. Am prächtigsten nahm sich das Ensemble der leicht erhöht liegenden drei Kirchen mit ihren fünf Türmen aus. Sie reckten ihren roten Sandstein in den Himmel, während es schien, als wollten ihre Schieferdächer das Grau des Spätwinters spiegeln. Die Klosterbasilika selbst war mit einem goldenen Verkündungsengel bekrönt, der in seinem Glanz alles Übrige festlich überragen und beherrschen mochte, obgleich er sein Fähnchen doch nur nach dem Wind richtete.

Dass sich die Sonne schon seit Wochen nicht mehr gezeigt hatte, bedrückte Kilian auf weiter Flur weniger als in der engen Stadt. Hier draußen wirkte das Leben leichter und heiterer. Sein Blick glitt über das flache Land. In der Ferne grüßten die bewaldeten Hügel. Verstreut fanden sich die kleinen Weiler der Bauern. Er pfiff sein Liedchen weg und konnte das Ausschlagen der Bäume kaum erwarten.

Kilian liebte den rauschenden Bach, der seinen Weg geleitete, liebte das in steter Bewegung befangene Mühlrad und liebte den grünen Wiesenhang, auf dem das Müllerhaus wie eine Kapelle thronte. Hier traf er seinen Freund Hyazinth, den jungen Müller, der die Maschinen klappern ließ und dessen Gesicht stets weiße Staubspuren zeigte.

Hyazinth war ein kleines Männlein. Sein Kinn wurde von einer tiefen Grube in zwei Hälften geteilt. Seine Augen waren von grauen Kreisen umrandet, seine Arme schwer und muskulös. Des Morgens lieferten die Bauern ihre Säcke auf Karren und Wagen an, um sie noch am selben Tage abzuholen. Hyazinth schleppte sie hinein zu den großen Trichtern, wo er ihren Inhalt dem ratternden Mahlwerk anvertraute, um schließlich das Mehl in den gleichen Säcken wieder hinauszubefördern. Trotz aller Reizlosigkeit des Äußeren schritt er bei diesem anstrengenden Schleppen stolz daher, schaute würdig drein, feierte auf diese Weise seine wichtige Aufgabe und war ein wenig stolz, dass die Mühle des Klosters seiner großen, vom Vernunftzeitalter durchdrungenen Maschine unterlegen war.

Kilian war von der Technik der gewaltigen Mahlmaschine fasziniert. Er konnte kaum glauben, welche Kräfte das Wasser des unscheinbaren Baches aufbrachte, um das Mühlenrad anzutreiben und eine Unzahl von Stangen und Steinen in Bewegung zu setzen. Er bewunderte die Ingenieurskunst, die dieses Maschinenwerk hervorgebracht hatte. Oft saß er im Mühlenraum auf einem Schemel, legte sein Kinn in die Hände und betrachtete, wie der starke, kleine, edle und würdige Hyazinth einen Sack nach dem anderen in die Trichter wuchtete. Wenn Kilian in diesem Raum eine Weile ausharrte, so trug auch er Spuren davon, wurde vom weißen Nebel eingehüllt und konnte alsbald seinen Namen mit großen geschwungenen Buchstaben in den Staub des Geigenkastens schreiben, den er auf den Schoß gelegt hatte.

Wenn aber das Mühlenrad nicht lief, wenn es einmal nichts zu mahlen gab, dann vertrieben sich Kilian und Hyazinth ihre Zeit beim Musizieren. Hier lagen Sinn und Zweck der Freundschaft. Kilian stimmte die Geige, während sich der junge Müller an sein Hammerklavier setzte und einspielte. Ihrer beider Virtuosität ergänzte sich. Man spielte Sonaten in galantem Stil. Rauf und runter bewegten sich die Finger auf Geigenhals und Tasten, mal schmetternd, mal lyrisch, mal fröhlich, mal bedrückend. Kilian ließ die Geige singen, während Hyazinth dem Klavier ungeahnten Ausdruck entlockte. Das Musizieren war ihnen ein Spiel, bei dem sie ihre Gemüter austobten, die durch Bildung und Arbeit kanalisiert und verfremdet waren. Sie fühlten sich ungebunden und entkamen für Augenblicke der Welt mit ihren Mühlenrädern, Apotheken und Kanzleien.

Kilian lag weniger an Hyazinth als am Musizieren. Die Klänge der Gemeinsamkeit sah man nicht, sie waren flüchtig. Sie kannten keine Mauern und ließen sich nicht einsperren. Die Töne verteilten sich im Raum und suchten das Weite. Hier waren keine engen Gassen, keine Mauern, keine Türme, keine Pfaffen. Die Musik kannte keine Schranken. Kilian fühlte sich in eine bessere Welt entrückt.

Bei Hyazinth war ihm so wohl zumute, wie zuletzt auf einer Wirtshausbank in Leipzig.

Der Freund führte ein abgeschiedenes Leben, versenkte sich ins Musikalische, arbeitete stetig an seinem Instrument und las an langen Abenden im Schein der Kerzen Partituren und unendliche Romane. Schon sein Vater, der alte Müller, war von besonderem Schlag gewesen. Er hatte Hyazinth auf die Lateinschule geschickt. Dort war der Sohn eines Handwerkers allezeit unangefochten Primus gewesen, während sich die Kinder der Stadtpatrizier mit lateinischer Grammatik und Algebra sehr schwertaten. Das Klavier hatte der alte Müller sich und seiner Familie vom Munde abgespart, hatte es aus der kaiserlichen Hauptstadt Wien bezogen, nachdem des Sohnes Talent beim Unterricht auf dem Klostercembalo offenbar geworden war. Das Hammerklavier des Müllers, auf dem sich Hyazinth so vortrefflich begabt zeigte, war das beste, modernste und schönste Instrument im gesamten pfäffischen Kurfürstentum. Es war das einzige Möbelstück, bei dem sich Hyazinth die Mühe machte, den weißen Staub zu entfernen, der sich tagtäglich über allen Böden und in allen Ritzen ausbreitete.

Bald nach Erwerb des Hammerklaviers war der alte Müllermeister verstorben. Der weiße Staub war Tag für Tag in die Ritzen seiner Lunge eingedrungen und hatte ihm schließlich das Atmen unmöglich gemacht. Hyazinth hatte keine andere Wahl gehabt, als ihm im Müllersamt nachzufolgen. Die eigene wirtschaftliche Not, die Unverzichtbarkeit der Mühle für das tägliche Brot hatten ihn dazu getrieben, obgleich der alte Müller es lieber gesehen hätte, wenn sich Hyazinth gemeinsam mit Kilian zum Studium nach Leipzig begeben hätte. Dazu war es nicht gekommen, nicht zuletzt galt es, die Mutter zu versorgen, die dem Vater im Lungenleiden nachgefolgt und schon seit geraumer Zeit das Bett zu hüten gezwungen war. Hyazinth aber liebte sein einsames Leben und die Musik. Er träumte nachts wie tags davon, selbst einmal zu komponieren.

Doch so musikalisch sprudelnd sich Hyazinth auch zeigte, im Gespräch war er verstockt und einsilbig. Seine Interessen konzentrierten sich allein auf die Musik und nicht auf die Politik. Kilian brachte ihm eines Tages die Nachricht vom Anrücken der Revolution, schrie sie sogleich heraus, als er noch atemlos im Türrahmen stand und Hyazinth beim Stemmen der Säcke antraf. Der junge Müller quittierte die Neuigkeit nur mit einem Kopfnicken. Was war schon eine Revolution gegen die harmonische Kühnheit eines Bach? Was konnten Tausende von Soldaten noch Schreckliches anrichten, wenn doch Mozart schon lange nicht mehr unter den Lebenden weilte? Die Aufregung Kilians war ihm fremd. Letzterer ärgerte sich über diese stumpfe Teilnahmslosigkeit an der Weltveränderung, redete auf Hyazinth ein, vermochte es jedoch nicht, ihm auch nur einen Satz hierüber zu entlocken. Anstatt sich mit der Wirklichkeit zu beschäftigen, versank Hyazinth tief in Romanwelten. Anstatt sich gegen den Lauf der Dinge zu stemmen, widmete er sich dem spanischen Ritter von der traurigen Gestalt, seinem treuen Gefährten, der schönen Geliebten und den unbezwingbaren Mühlen, die so ganz anders als die Seine funktionierten. Kilian blieb nur so lange in Rage, wie sie nicht Musik miteinander machten. Die Wichtigkeit der weltlichen Dinge ging bei diesen Gottesdiensten an der Kunst verloren.

Was bedeutete es schon, dass sich unter der städtischen Bürgerschaft Angst breitmachte, dass die Menschen in großer Hast ihr Leben ordneten, von dem sie nicht wussten, ob sie es noch lange behalten würden? An allen Altären der Stadt, ob in den Kirchen oder im Freien, wurde ohne Unterlass gebetet. Die Klosterbrüder spürten, dass sie zur Seelsorge gebraucht würden, und sei es auch das letzte Mal. Die Handwerker inspizierten eifrig die mürbe Stadtmauer, besserten sie stellenweise aus und dachten, mit Mörtel und rotem Sandstein den Kanonen der Franzosen wehren zu können. Im Grunde aber bestand Gewissheit über die Aussichtslosigkeit einer Abwehr.

Kilian wurde das Atmen immer schwerer. Er wollte kaum mehr zurück in das Pfaffennest. Ihn kostete es Überwindung, durch die Tore zu schreiten und die Weite des Feldes gegen die Enge der Stadt einzutauschen.

Eines frühen Abends, nachdem er sich von Hyazinth verabschiedet hatte, war ihm der Gedanke an das enge Fachwerkhaus am Marktplatz derart zuwider, dass er, anstatt auf die Stadt zuzugehen, eine andere Richtung einschlug und weiter den leichten Hang hinaufwanderte. Nachdem er einige Minuten gegangen war, kam er auf eine weite Wiese. Sonnenlicht breitete sich aus. Es duftete herrlich. Er schritt über das Grün und kam an einen Quell, der sanft sprudelte und sich aus seiner rötlich-sandsteinernen Einfassung in ein kleines Bächlein ergoss. Rundherum standen Blumen, die ihre Blütenkelche verschämt zur Erde hängen ließen.

Dennoch konnten nur sie es sein, die derart dufteten. Kilian war plötzlich, als werde er von seinen Sinneseindrücken übermannt und betäubt. Seine Beine zitterten. Sein Herz schlug schneller. Er ließ den Geigenkasten auf die Erde sinken, zog seinen bestickten Rock aus und legte sich der Länge nach hin. Der Himmel riss auf. Da öffneten sich die Blumen – es waren schneeweiße Osterglocken – und reckten sich zur Sonne hin. An den Stängeln prangten die jungfräulichen Blüten im Schein des Abendlichts. Sie verströmten ihren betörenden Duft.

Da schien es Kilian in seinem betäubten Dämmerschlaf, als wirbelten die Blumen rund um ihn her. Er spürte auch die wärmenden Strahlen auf seinem Gesicht. Er war von Glück erfüllt. Die Aue war schön wie kaum jemals zuvor. Innerhalb weniger Augenblicke war es Frühling geworden. Alles schien ihm wie ein Zauber. Er wusste kaum, wie ihm geschah.

Seit Monaten hatte sich die Sonne nicht mehr gezeigt. Nun leuchtete sie rötlich und warm am Abendhimmel. Er fühlte sich, als würden ihn die Blumen ein Stück weit dem Himmel entgegenheben. Der Quell sprudelte. Die Sonne leuchtete. Die Osterglocken wirbelten. Es war ihm wie Erlösung. Es war Karfreitag.

Der Makel der Freiheit

Подняться наверх