Читать книгу Der Makel der Freiheit - Axel-Johannes Korb - Страница 9
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Auf dem Tisch brannten die weißen Kerzen in silbernen Ständern und erhellten die große Wohnstube mit mattem Schein. Die Schatten der mächtigen hölzernen Deckenbalken flackerten. Hinter den bleiverglasten Fenstern sah man nichts als schwarze Nacht, während die Delfter Kacheln des Ofens Wärme spendeten. Der Vater saß dem Tisch vor, daneben die Mutter Antonia. Kilian und Katharina, seine Schwester, saßen sich gegenüber und scherzten, wie sie es von früher her gewöhnt waren.
Florian, der Jüngste, ein dreijähriger Bub und Liebling der Mutter, befand sich nahe bei den Eltern und wusste kaum, wie ihm geschah, wusste kaum, warum man ihn zur Schlafenszeit aus dem Bett geholt hatte, rieb sich wieder und wieder die Augen und wollte mit dem Heimkehrer nichts zu schaffen haben. Essen wollte er schon gar nicht. Kilian lernte den Kleinen, seinen Bruder, erst an diesem Abend kennen. Er versuchte, dessen Herz mit albernen Kinderspielen und Versen zu erobern. Florian aber zeigte kein Interesse und quengelte ob seiner Müdigkeit, bis der Vater ihn züchtigte. Kilian fühlte sich vom bloßen Anblick des kurzen, aber heftigen Gewaltakts peinlich berührt. Dennoch erkannte er in diesem Bübchen schon den Sohn des Vaters, jenes Modell eines hartgesottenen Charakters, der sich durch nichts und niemanden einschüchtern lässt. Auch jetzt, nach der Züchtigung, war Florian zwar zum Weinen zumute. Er unterdrückte diesen Trieb aber mit aller Gewalt.
Kilian konnte nur schlecht die Gegenwart des Schultheißen ertragen. Noch weniger konnte er es ausstehen, dass der Verlobte seiner Schwester, dass Rudolf Kuhn mit am Tisch saß. Er brachte nicht die Fähigkeit auf, diesem Emporkömmling in die Augen zu sehen. Trotz seines Denkens von der Gleichheit aller Menschen erkannte er an sich selbst ein aristokratisches Element, an dem es Rudolf mangelte, weshalb er niemals zu einem ebenbürtigen Partner oder gar Anverwandten heranreifen konnte. Dennoch versuchte er mit aller Kraft, an diesem Abend keinen unangenehmen Einstand zu haben.
Die Frauen lachten viel, während Kilian Begebenheiten seines Leipziger Studentenlebens zum Besten gab. Er pries voller Überzeugung die Schönheit der Stadt und die Herrlichkeit der vergangenen Jahre. Von der Universität berichtete er kaum, hingegen mehr von den Freunden, den Kommilitonen, die aus allen Territorien des Reiches und aus aller Herren Länder gekommen waren, um an der Alma Mater Lipsiensis in das Recht eingeführt zu werden. Das hatte er zwar alles in regem brieflichen Verkehr den Eltern bereits mitgeteilt, erging sich aber nun in der lebendigen Nachahmung der Personen – ein Gebiet, das er außerordentlich beherrschte und auf dem er sein schauspielerisches Talent bewies. Zugleich beeilte er sich zu versichern, dass das Zu-Hause-Sein ihn ungleich mehr glücklich mache, was sich allerdings nicht mit der Wahrheit traf.
Kilian wusste, wie sehr es den Vater schmerzen musste, den eigenen Sohn im Widerstand gegen das Althergebrachte zu sehen. Doch konnte er kaum anders, als allerorten zu räsonieren und zu rebellieren. Die Jahre in Leipzig hatten ihm einen anderen Weg gezeigt als jenen, den man in seiner Heimat seit bald einem Jahrtausend ging. Es war ein Weg, der sich von der Idee her bestimmte und der die Vernunft, sei sie geschäftlich oder politisch, zur Nebensache herabstufte. Es war die Idee, die die Welt verändern musste, und nicht das Fügen in die Verhältnisse, die nur Erstarrung zeitigen konnten.
Aber die Distanz zwischen ihm und Bonifaz war gar nicht so groß. Zwischen Vater und Sohn bestand ein stilles Einverständnis, so still, dass man es sich gegenseitig zuzuflüstern niemals gewagt hätte. Mit den Planungen Bonifazens wollte Kilian zwar nichts zu schaffen haben. Die Strategie aber, die der Vater mit der Verheiratung Katharinas verfolgte, musste er gutheißen, auch wenn er der Meinung war, das Unternehmen sei zum Scheitern verurteilt. Denn der Wille der Kuhns war kaum zu überschätzen.
Beiden war die Misslichkeit der Lage gänzlich bewusst. Selbstverständlich war Rudolf der Spross von einer Art Schweinehirt, selbstverständlich war er ein Emporkömmling, der alles daran setzte, das stinkende Gewerbe seiner Herkunft durch politischen Einfluss zu veredeln. Bonifaz war gewillt, über die schlechte Herkunft des Falsettisten hinwegzusehen Katharinas Verheiratung mit dem Spross einer Aufsteigerfamilie mochte ihn, was die Frage der Mitgift betraf, zwar ein Vermögen kosten. Er witterte jedoch die wirtschaftliche Chance, die diesem Unterfangen innewohnte. Das Bündeln des Vermögens mochte politische Kräfte freisetzen, die die Stadt seit den Tagen ihrer verlorenen Reichsfreiheit nicht mehr gesehen hatte. Vielleicht würde man demnächst stärker auf das allzeit verlässliche Geld setzen müssen. Wer wusste schon, was mit dem Kurfürsten eines Tages geschehen würde?
Dies aber war ein Kalkül für die nächste Generation, für sich selbst konnte Bonifaz Kramer nichts mehr erwarten. Er hatte erreicht, was zu erreichen war, und war als Fremder zum einflussreichen und wohlhabenden Schultheißen herangereift. Dennoch war es ihm verwehrt, die Hoffnung auf eine Veränderung der Umstände offen zu formulieren. Diese Gedanken behielt er für sich und zog seinen allzeit geschwätzigen und aufmüpfigen Sohn nicht ins Vertrauen, um nicht selbst am Ende als Verräter dastehen zu müssen.
Katharina schmückte an Rudolfs Seite die Szene nur eingeschränkt. Denn in dem Maße, in welchem Kilian das weibliche Geschlecht für sich zu gewinnen wusste, wurde das männliche durch die matronenhafte Erscheinung der Schwester abgeschreckt. Sie war die Tochter ihres Vaters. Die zum Übergewicht neigende Statur und der hiermit freilich im Zusammenhang stehende, nicht zu zügelnde Appetit hatten das Mädchen bereits in seinen Jungfrauenjahren deformiert.
Katharina berichtete, wie der Vater eines Abends mit seinem Sekretarius aufgetaucht sei, wie er diesen in die Wohnstube gebracht habe, wie Rudolf ein Sträußchen aus der Rocktasche hervorgeholt und mit zitternder Stimme um ihre Hand angehalten habe. Sie erzählte, wie sie zunächst nicht gewusst habe, was sie sagen sollte, wie sie den Augenkontakt zur Mutter gesucht habe, um sich in diesem bedrängten Moment Rat zu holen. Antonia aber war eingeweiht und nickte eifrig. Alles war vorbereitet, die entscheidenden Gespräche waren zwischen den Eltern, dem Bräutigam und seiner Familie schon geführt worden. Im Augenblick der Verlobung durfte Katharina nicht anderes, als ja zu sagen.
Nun meinte sie, alles werde gut und ließ sich dazu hinreißen, von Glück und Freude zu sprechen, was allerdings nicht überzeugt klang. Obgleich Kilian Bedauern fühlte, dachte er, dass im Grunde alles in Ordnung sei. Hatte nicht auch Bonifaz seinen gesellschaftlichen Rang einer glänzenden Heirat zu verdanken?
Kilian hielt sich an den Befehl des Vaters und unterließ jedes politische Gespräch, schwätzte nicht von der Revolution und den Franzosen, nicht von Barrikaden oder Pfaffen. Nur einmal wurde er herausgefordert. Rudolf fragte: „Kilian, warum bist du zum Studium gerade nach Leipzig gegangen? Wäre es nicht besser gewesen, an eine rechtgläubige Universität zu gehen?“ Da sah Kilian seinem künftigen Schwager nun doch in die Augen und sagte: „Ach was, katholisch oder protestantisch, was macht das schon für einen Unterschied? Bei uns in Leipzig war es gleichgültig, zu welcher Partei man sich zählte. Dort war nur eines wichtig: die Humanität, das Menschsein an sich, sonst nichts.“ – „Aha …, die Humanität …, soso …“, erwiderte Rudolf, indem er die Augenbrauen nach oben zog und überlegen nickte. Kilian empfand dieses Gebaren als Beleidigung, sein Blick verfinsterte sich, er holte tief Luft und setzte zu einer revolutionären Tirade an, als der Vater laut und deutlich sagte: „Gut ist’s.“ Dabei schaute er derart streng drein, dass Kilian Angst bekam. „Langweile uns nicht mit solchem Geschwätz! Jetzt bist du wieder zu Hause. Hier wird geredet, was ich für richtig halte. Nichts weiter davon!“ Kilian wagte es nicht, ein weiteres Wort zu sprechen. Auch Rudolf wollte nichts mehr von Leipzig wissen. Die Damen ihrerseits sahen betreten drein. Eine peinliche Stille legte sich über die festliche Tafel. Doch der kleine Florian durchbrach sie. Er rieb sich die Augen und flehte die Mutter an, dass sie ihn wieder ins Bett entließe. Sie fügte sich.
Kilian bewunderte sie. Trotz ihrer bald fünfundvierzig Jahre war sie eine schöne Frau von jugendlichem Reiz geblieben. Bonifaz Kramer war zu glauben, wenn er erzählte, wie er in jungen Jahren durch den bloßen Anblick in Liebe zu Antonia, der Tochter des reichen Goldschmieds, entbrannt sei. Er habe bereits beschlossen, dieses zarte Mädchen zu ehelichen, bevor er mit ihr das erste Mal gesprochen habe. Kilian betrachtete seine Mutter immer wieder mit Bewunderung und empfand Mitleid für diese zierliche Person, die einen so hässlichen, gewaltigen Mann ertragen musste. Er meinte, dass sie unter Bonifaz litt, der mit seiner beherrschenden Art keinerlei Widerspruch zu dulden schien. Doch in all diesen Dingen täuschte Kilian sich. Denn zum einen fragte der Vater seine Frau in jeder wichtigen Angelegenheit um Rat, bevor er eine Entscheidung traf. Zum anderen liebte Antonia Kramer ihren Mann auf innige Weise, ohne dies vor den Kindern durch Worte oder Taten auszudrücken. Ihre Liebe war derart stark, dass sie ganz regelmäßig starke körperliche Aufwallungen empfand, die sie zwangen, sich ihm hinzugeben.
Der Rest des Abends verlief im Plauderton. Alle wechselten ein paar Worte miteinander. Nur der Heimkehrer und sein ehemaliger Schulkamerad kamen nicht mehr miteinander ins Gespräch. Kilian beobachtete, wie der künftige Schwager mit verlangenden Blicken nach der jungen Magd schielte, die sich um die Versorgung der Festtafel kümmerte. Er meinte in einem Moment, in dem sich Barbara unbeobachtet wähnte, zu erkennen, wie sie Rudolf einen verschwörerischen Blick zuwarf. All das widerte Kilian an. Er wünschte sich wieder in seine enge Leipziger Kammer zurück, die für ihn ein Hort der Freiheit gewesen war, wohingegen ihm die edle Wohnstube des Kramerhauses mit ihren bleiverglasten Fenstern, ihrer festlichen Tafel und dem Ofen mit den blauweißen Delfter Kacheln ein einziger Graus wurde, kaum dass er nach Hause zurückgekehrt war.
Aber er schwor sich, diese Abscheu niemandem mitzuteilen, zumal die Mutter glücklich schien, den verlorenen Sohn wiedergefunden zu haben. Nachdem man sich am Wein gütlich getan und den Gast in aller gebotenen Höflichkeit verabschiedet hatte, ging Kilian in seine Kammer, fiel auf seine Schlafstatt nieder und befand sich nach wenigen Augenblicken tiefen Atmens in einem traumlosen Schlaf.
Obwohl der Morgen alsbald die Nacht aus der Kammer vertrieb, drehte sich Kilian noch lange in den Laken und Decken, ehe er sich der Wäsche widmete und die nicht abgelegte Kleidung ordnete. Er machte sich bald auf, um bei einem Spaziergang seine alte Heimat neu zu entdecken. Er nahm seinen Hut, trat aus dem Haus und fand sich im Treiben des Marktes mit seinen Gerüchen, Geräuschen und Gauklern wieder. Es gestaltete sich angesichts des Trubels nicht leicht, den Platz zu überqueren. Er bemerkte, wie sein elegantes Erscheinen inmitten der Bauern und Handwerker auffiel, wie sehr er sich durch Vornehmheit von allen Übrigen abhob. Mancher fragte sich, mit wem man es hier zu tun habe. Andere wiederum meinten, ihn zu erkennen, grüßten zaghaft, indem sie die Hand an den Hut führten oder den Kopf fast unmerklich neigten, ohne dabei die Miene zu verziehen. Kilian konnte sich seiner Wirkung sicher sein, konnte wissen, dass seine Anwesenheit den Gegenstand zahlreicher Gespräche bilden würde. Er genoss seinen Auftritt.
Mit Fremden kam man in dieser Stadt, die in einem mittelalterlichen Mauerring sämtliche Häuser, Kirchen und Türme auf engem Raum begrenzte, nur schlecht zurande. Kilian meinte, nach all den Jahren in der berühmten Universitätsstadt zu spüren, dass sich diese Begrenzung nicht allein auf das Räumliche beschränke, sondern sich ins Persönliche übertrage.
Das Markttreiben war allerdings mit jenem Leipzigs vergleichbar. Es war ein einziges großes Gewimmel von Menschen. Er streifte zwischen den Ständen umher, betrachtete die Waren, die die Bauern im Nieselregen feilboten, schaute den flatternden Hühnern in ihren beengten Käfigen und den grunzenden Schweinen in den notdürftigen Koben zu, wie sie ihre letzten Lebensstunden fristeten. Das Geschrei der Händler und Trödler im knochenlosen Idiom der Heimat bewunderte er wegen seiner Lautstärke und beobachtete das geschäftige Umherwandern der Kauflustigen mit ihren Körben und Wagen voller Viktualien.
Er blieb bei dem einen oder anderen Gaukler stehen, der seine Künste den Gaffern darbot, damit diese ihn mit klingender Münze dafür entlohnten. Jeder buhlte um die Gunst des Publikums. Eine kurze Weile verharrte er bei einem Jungen, der, kaum den Kinderschuhen entwachsen, nicht nur mit einer immer weiter steigenden Anzahl lederner Bälle jonglierte, sondern überdies seinen Körper in Bewegung setzte und dabei zu wilden Sprüngen anhob, sodass sich alles zusammen in einem einzigen Strömen befand.
Die Fuhrwerke, die sich am schmalen, mühsam frei gehaltenen Durchweg des Platzes stauten, trieben mit ihren Rädern den Dreck des Bodens in die Höhe. Kilian bemerkte, wie ein besonderes Gefährt aus Richtung des großen Stadttors auf den Platz einfuhr, das von vier braunen Pferden gezogen wurde. Es war just jene schwarze Kutsche, die gestern unter den heiseren Schreien ihres Lenkers rasant an ihm vorbeigerauscht war. Er erkannte sie nicht zuletzt wegen des prächtigen Wappens am Schlag. Jetzt bewegte sich der Wagen langsam. Die edlen Pferde wirkten ruhig. Der Kutscher saß hochaufrecht auf seinem Bock. Ein Raunen ging durch die Menge, als sich das Gespann auf der Mitte seiner Durchfahrt befand. Man bekundete Ehrfurcht, verneigte sich oder beugte die Knie. Kilian allerdings blieb aufrecht stehen und versuchte, einen Blick durch die Scheiben zu erheischen. Schemenhaft erkannte er eine gepuderte Perücke, ein edles geistliches Gewand und einen überheblichen Blick. Am meisten missfiel ihm das ehrfürchtige Flüstern der Menge um ihn her. „Ihr Knechte und Fürstendiener, ihr Jünger der Pfaffen“, dachte er sich, „was seid ihr doch so schwach. Verjagt sie von ihren Thronen und stürzt ihre Kutschen in den Fluss!“
Wie er sich diese Gedanken so feierlich durch den Kopf gehen ließ, drängte es ihn, sie öffentlich auszusprechen, sie seinen Mitmenschen kundzutun, damit sie mündige Bürger würden und einen Ausgang aus ihrer Misere fänden. Aber die Lippen blieben ihm verschlossen, als er an den Vater dachte. Hier, in dieser Stadt, war eine solch revolutionäre Rede nicht möglich. Im Rathaus saß Bonifaz Kramer und wachte darüber, dass die Bauern und Bürger treue Diener des Kurfürsten seien. Was war das doch für eine Vergangenheit, in der man hier lebte! „Wartet nur“, dachte er, „auch euch holt die Gegenwart ein. Die Zukunft ist im Kommen, die Vergangenheit im Schwinden. Bald werdet ihr aufstehen, bald werdet ihr auf diesem Platz eine Revolution veranstalten. Frankreich hat gezeigt, dass so etwas möglich ist. Auch bei uns wird es möglich sein – und zwar bald.“
So setzte Kilian unverrichteter Reden seinen Spaziergang fort und besuchte die Stätten seiner Kindheit und Jugend, als seien es Museumsstücke, mit denen er nicht mehr viel zu schaffen habe, als seien es Zeugnisse einer untergegangenen Kultur, die nur zur Freude der Zuschauer von allerhand Schauspielern bevölkert würden.