Читать книгу Der Makel der Freiheit - Axel-Johannes Korb - Страница 7
ОглавлениеI
Kilian Kramer packte seine Siebensachen im schwachen Licht der Kerze. In der Morgendämmerung brach er auf. Noch heute wollte er heimatliche Gefilde erreichen. Aus der Vergangenheit, diesem erstarrten und vereisten Bild, musste wieder Gegenwart und Leben werden. Der ärmliche Gasthof dieser Nacht sollte die letzte Station seiner Reise gewesen sein. Mit eisernem Willen war der große Tagesmarsch zu schaffen.
Er gönnte sich keine Rast. Die Stunden vergingen schnell. Der Morgen schien kurz. Der Mittag verflog. Kilian war nun müde und fror. Die Feuchtigkeit wandelte sich in Frost. Ringsherum lagen die Felder still und brach. Das Braun ihrer Erde vermischte sich mit dem Grau des Himmels. Seine Beine schmerzten vor Ermattung. Die Kälte drang von der Erde herauf und befiel seine Glieder. Die Arme hatte er über Kreuz vor den Körper geschlagen. Der Hut saß ihm tief im Gesicht. Er neigte sich nach vorne und stolperte über die steinige Landstraße.
Weit und breit war Stille, nichts als Acker, mancherorts unterbrochen von Nadelhainen. Die Dörfer, durch die er kam, wirkten verlassen. Frauen zapften an den Brunnen eisiges Wasser, trafen mit anderen zusammen und beschränkten ihre Unterhaltungen auf das Notwendigste. Er spitzte die Ohren, verlangsamte seinen Schritt und lauschte. Sie beklagten sich über den harten Winter, berichteten von Krankheit und Sterben, bestärkten sich gegenseitig in der Hoffnung auf Sonne und Wärme.
Kilian achtete auf das kantenfreie Singen der Sprache mit ihrer Verschleifung der Silben. Sie schien ein einziges, in ihren klingenden Lauten dunkel gefärbtes und dahinrauschendes Zischen zu sein. Er erkannte dieses Idiom als das seiner Heimat wieder. Es konnte nicht mehr weit sein bis nach Hause. Die Zuversicht, die ihn beim Aufbruch in Leipzig im Gedanken an das Altvertraute, den Ort der Geburt, erfasst hatte, mischte sich nun mit Beklemmung und der Befürchtung, dass sich in diesem Landstrich nicht das Geringste verändert, dass sich das Alte in der Gegenwart nicht bewährt habe.
Der heimatlichen Sprache war er in den letzten Jahren entfremdet worden. Nur ganz leicht trübte das umrisslose, dunkle Zischen noch seine Worte und Sätze, genug zwar, um in der Fremde als Kind des Pfaffenlandes aufzufallen, jedoch zu wenig, um es mit dem knochenlosen Dahinrauschen aufnehmen zu können.
Die deutlichen Umrisse seiner Silben waren das äußere Zeichen einer innerlichen Veränderung. Sie standen für den neuen Menschen, den die fremde Metropole aus ihm gemacht hatte, eine Veränderung, die sich zunächst ungewollt und wie von selbst vollzogen, die er jedoch bemerkt und für gut befunden hatte. Jetzt war ihm, als höre er in seine Vergangenheit hinein, als bedrohten ihn die Mächte von Kindheit und Jugend. Ihm war, als stürmten sie an ihn heran, als wollten sie ihn an sich reißen und mit eisernen Armen umklammern. Er aber würde sich ihnen entgegenstellen und für die Freiheit kämpfen.
Er eilte zügig durch die grauen Dorfstraßen und folgte den Wegen bis zum Fluss. Er wanderte hinunter und immer weiter. Auf offener Flur wurde jedes Geräusch gedämpft. Kaum ein Laut entstieg der Natur. Alles schien auf den frostigen Zustand seines Gemüts Rücksicht zu nehmen, indem es sich vornehm zurückhielt und jede Störung vermied. Die Stille legte sich wie ein Schleier über die Felder. Sie entstieg den Hainen und breitete sich über die Rinde der Weiher und Bäche aus.
In diese Ruhe drang ein Geräusch ein, erst ganz leise, dann anschwellend, schließlich aufbrausend. Kilian drehte sich um. Ein Gefährt rauschte heran. Ein Kutscher trieb mit wildem Kommando ein Vierergespann brauner Pferde zum Galopp, die vor einen schwarz lackierten Wagen gespannt waren. Kilian trat eilig zur Seite. Schon rauschte der Tross rücksichtslos und mit großer Geschwindigkeit an ihm vorüber. Die vier Braunen galoppierten, und der Wagen sprang über die Straße. Pferde und Kutsche wollten schon hinter dem nächsten Nadelhain verschwinden, als Kilian der Fahrtwind eisig ins Gesicht schlug.
Die Stille kam wieder zurück, in die sich immer mehr Dämmerung mischte. Das Licht des Tages ging zur Neige. Der Abend drängte heran. Die Kälte fuhr ihm durch Mark und Bein. Er schüttelte sich. Gerne hätte er in diesem Moment die eisige Flur mit einem warmen Wagen getauscht. Aber für eine solche Reise fehlten ihm die Mittel. Den größten Teil seines letzten Geldes hatte er in einem Leipziger Keller auf den Kopf gehauen und damit allerhand bekanntes wie unbekanntes Volk freigehalten. Er hatte am Abend vor der Abreise seine Börse vor den Augen des Wirtes ausgeleert. Die Münzen klangen hell, als sie auf das Holz des Tresens fielen. Dieser Ton läutete eines der Feste ein, wie sie die große Stadt in regelmäßigen Abständen durchlebte, wenn ein Semester am Ende und das Examinieren abgeschlossen waren.
Noch einmal hatte Kilian das getan, was in Leipzig seine Lieblingsbeschäftigung gewesen war. Er hatte mit seinen Kommilitonen zahlreiche Gläser geleert, um anschließend auf die Bank zu steigen und vor allen Anwesenden die Rede von den alten Zöpfen zu schwingen, die alsbald abgeschnitten gehörten. Bis zum Morgengrauen wurde gelärmt, gesungen und Tumult erzeugt.
Doch die Strafe folgte auf dem Fuße. Ab dem nächsten Tag musste ein Leben geführt werden, das dem eines Landstreichers ähnlich sah, musste um Obdach und Brot hart verhandelt oder gar gebettelt werden. Kilian wusste, dass in der vierspännigen Kutsche, die so rücksichtslos an ihm vorbeigerauscht war, keine Not herrschte, dass dieser Wagen just jene alten Zöpfe beförderte, die man in den Wirtskellern von Leipzig verspottet hatte. Am Schlag des eleganten Gefährts hatte er das Wappen des Kurfürsten erkannt.
Jetzt hieß es, schnell voranzustolpern, ehe die Dunkelheit weiteres Fortkommen erschweren würde. Er spannte all seine Leibeskräfte an und hatte bald die Gewissheit, dass es nicht mehr weit sein konnte. Alle Bäume und Sträucher am Wegesrand schienen ihm bald aus vergangenen Zeiten bekannt. Auch der graue Himmel war ihm von alters her vertraut, als er plötzlich von einer Anhöhe den in weiter Schleife ausschwingenden Fluss sah, der eine Stadt fest in seinen Armen hielt. Da war die Heimat. Da war das Ende der Reise. Hier unten lag der Ort mit seinen vielen Türmen, mit den trutzigen Mauern und dem bunten Gebälk der Häuser.
Kilian hielt an und rang nach Atem. Der Himmel riss an einer kleinen Stelle auf. Die Sonne drang hindurch und beleuchtete die Steine. Die Türme glänzten silbrig. Die Mauern schimmerten rötlich. Das Gebälk der Häuser blinkte in allen Farben des Regenbogens. Mit den letzten Strahlen des Tages legte die Sonne ihren schwachen Schein um die Siedlung und markierte das Ziel. Für einen Augenblick staunte Kilian, dankte für die glückliche Ankunft und spürte, wie jede Beklemmung von ihm wich.
Freudig rannte er von der Anhöhe hinunter und rief dem Flößer zu: „Hol über, hol über!“ Dieser hatte bereits begonnen, seine Fähre am anderen Ufer zu vertauen und sein Tagwerk zu beenden. Kilian aber rief aus Leibeskräften: „Hol über, hol über!“, und winkte mit seinem Hut und den letzten Münzen, die er besaß und mühsam aus den Tiefen der schäbigen Rocktasche gekramt hatte. Der Flößer schaute mürrisch drein. Dennoch stemmte er noch einmal das Ruder, ließ es zu Wasser, setzte das Floß in Bewegung und holte Kilian vom anderen Ufer. Als dieser die Fähre betrat, verschloss sich der Himmel, sodass sich Türme, Mauern und Gebälk vor seinen Augen wieder eintrübten. Wie er sich auf den Fluten der Heimat näherte und wie es bis zum anderen Ufer nur noch einige wenige Meter waren, da überkam ihn die Ahnung, dass er in dieser Stadt wohl nicht selig werden würde.