Читать книгу Rachegold - Axel P. Müller - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеAndreas freute sich schon auf Yvonne, obwohl sie sich erst in drei Tagen treffen wollten. Die Besuche bei ihr waren immer ein Erlebnis. Yvonne hieß eigentlich Ludmila Horáková und kam aus Tschechien, also geboren in der ehemaligen Tschechoslowakei oder CSR, wie es die so genannten Kommunisten getauft hatten. Sie hatte sich den Künstlernamen zugelegt, um ihre Herkunft zu kaschieren und für deutsche Zungen leichter aussprechbar zu sein. Ludmila klang russisch und mit denen wollte sie vom Grunde ihres Herzens nicht in Verbindung gebracht werden, solange dort ein totalitäres System herrschte. Sie hätte nichts gegen den Kommunismus in seiner ideologischen Form gehabt, aber das was dort praktiziert wurde, hatte mit den genialen Erfindern dieser Lebensform nichts, aber auch gar nichts zu tun. Auch gab es eine unangenehme Neigung vieler Mitmenschen, Namen abzukürzen, ob man wollte oder nicht. Aus Ludmila würde dann Mila oder sogar Lu und beides gefiel ihr überhaupt nicht.
Ihr wirklicher Name und ihre Herkunft waren nur Eingeweihten oder offiziellen Stellen bekannt, auch an ihrem Klingelschild im Concordia Hochhaus stand nur ihr Pseudonym „Yvonne“. Das Haus war direkt am Rhein gelegen mit einem atemberaubenden Rundumblick auf Köln und die erstaunlich grüne und hügelige Umgebung. Andreas musste zugeben, Yvonne war ein Callgirl der besseren Sorte, keine Prostituierte der billigen Art, sowohl preislich als auch qualitativ, dafür sah sie wohl auch zu gut aus. In den lokalen Zeitungen inserierte sie als Begleitdame für seriöse Herren. Früher hatte sie sich als Escort Dame angeboten, seitdem sich aber jede billige Straßenstricherin so nannte, hatte sie die Bezeichnung in den Zeitungsannoncen geändert. Wie sie von sich selber sagte, machte sie noch lange nicht alles, was die angeblich seriösen Kunden sich von ihr wünschten. Dafür machte sie das, was sie machte, unbestreitbar äußerst geschickt und einfühlsam. Sie war auch keineswegs bereit, jeden Kunden zu akzeptieren. Wenn ein potentieller Kunde schon am Telefon unseriös wirkte oder schon auf gewisse Sexualpraktiken zu sprechen kam, lehnte sie dankend ab. Sie wollte bestimmen, ob nach einem Restaurantbesuch ein letztes Glas in ihrer Wohnung getrunken wurde oder auch nicht. Nur selten besuchte sie einen Klienten, den sie nicht kannte, auf dessen Hotelzimmer. In ihrer Stammkundschaft waren erstaunlich viele Damen, die auf Geschäftsreisen abends eine gepflegte Unterhaltung wünschten und sie als Schutzschild suchten, um nicht andauernd von Männern angemacht zu werden. Sie hatte Andreas aber nie verraten, ob sie selbst mit Frauen ins Bett ging, auf seine Frage hatte sie immer nur über den Rand ihres Glases geheimnisvoll und verführerisch einem imaginären Punkt an der Wand zugelächelt.
Andreas liebte die Stunden mit ihr, er genoss die intelligente Unterhaltung, ihr charmantes Wesen, er war gierig nach ihren Zärtlichkeiten, die sie individuell auf ihre Kunden, die sie Freunde nannte, abgestimmt hatte. Mit ihr gab es kein normales Rendezvous, die gemeinsamen Stunden wurden zelebriert.
Sie war fast einmeterachtzig groß und hatte nicht enden wollende Beine, langes brünettes Haar mit einem Stich ins rötliche. Ihre Figur war nicht nur für den männlichen Betrachter perfekt, obwohl ihre Geschlechtsgenossinnen immer ein paar Kleinigkeiten fanden, die sie an anderen Frauen auszusetzen hatten. War das Konkurrenzneid? So hatte eine Bekannte einmal abschätzig behauptet, als sie sich zufällig trafen, Yvonne habe einen Hängearsch. Daraufhin hatte er diese Rundungen etwas genauer unter die Lupe genommen und festgestellt, dass ihm gar nicht bewusst war, was ein Hängearsch eigentlich sein sollte. Er musste sich eingestehen, dass ihm diese ausladende hintere Front aus der Erinnerung vor dieser Bemerkung im unbekleideten Zustand ausgezeichnet gefallen hatte und er nun dankbar war, von der Bekannten darauf aufmerksam gemacht worden zu sein. So hatte er einen Anlass, diesen Körperteil sowohl im bekleideten und auch unbekleidetem Zustand genauer zu studieren. Sein Urteil fiel absolut positiv aus, für ihn war es makellos und erotisierend.
Ihr Puppengesicht mit der nach hinten gewölbten Stirn kam besonders gut zur Geltung, wenn sie am Hinterkopf einen Dutt trug. Sie war nicht die klassische Schönheit wie damals die junge Liz Taylor, Grace Kelly oder Natalie Wood, dafür hatte sie eine zu große Lücke zwischen den Schneidezähnen und eine leicht seitlich verstärkte Nasenspitze, aber sie wurde von allen Bekannten und Freunden, die sie schon einmal gesehen hatten, als äußerst attraktiv eingestuft. Eine makellose Schönheit machte ohnehin den meisten Leuten Angst. Sie sprach nur für den geschulten Zuhörer mit einem leichten Akzent, trotz ihrer Herkunft konnte er keine dialektische Parallele zu dem böhmischen Soldaten Schweik ausmachen. Neben ihrem betörenden Charme hatte sie noch eine gesunde Portion Humor und sie ließ sich jeden Unsinn oder Streich gefallen. Alles in allem eine Person, mit der man gerne zusammen war und mit der es nie langweilig wurde. Sie war belesen und sogar über Politik, Literatur und Musik konnte man sich mit ihr unterhalten, ob Klassik, Jazz, Rock oder Pop, na gut, darüber brauchte man nicht zu reden. Mit ihr war es nie langweilig, in ihrer Begleitung flog die Zeit überschnell vorbei.
Er hatte sich mit ihr angefreundet, wenn nicht sogar etwas in sie verliebt. Wenn man ihren Worten in dieser Beziehung glauben durfte, bestand das auf Gegenseitigkeit. Als Zeichen, dass sie ihn auch mochte, wertete er die Tatsache, dass sie gelegentlich auch ohne volle Bezahlung oder sogar kostenlos mit ihm zusammen war. Das kam zwar nicht allzu oft vor, war ihm aber immer eine willkommene Entlastung seiner angespannten Finanzlage.
Der übliche Abend sah so aus, dass er sie in ihrer Wohnung abholte, dass sie vielleicht zu Beginn etwas knutschten, gewissermaßen als freudige Begrüßung und dass sie danach in ein gepflegtes Restaurant gingen. Anschließend begaben sie sich noch auf einen oder ein paar Cocktails in eine Bar, sie liebte bezeichnenderweise „Sex on the Beach“ und anschließend spazierten sie Hand in Hand noch ein paar Schritte bis zu ihrer Wohnung im Concordia Hochhaus. Im Fahrstuhl, der sie in luftige Höhen katapultierte, überbrückten sie die Zeit mit leidenschaftlichen Küssen in Vorbereitung auf den ersehnten Tagesausklang.
Sie war extrem geschickt vorgegangen, als sie ihn nach seinen Vorlieben für Damenunterwäsche ausgefragt hatte und er ihr freudig in erotisierender Erwartung alles aufzählte, was er so mochte: Halterlose Strümpfe, schwarz oder weiß, French Knickers oder Hipsters und dazu passende durchscheinende Büstenhalter. Keine Korsagen, und auch keine String Tangas, die empfand er als zu obszön, so etwas hätte er eher bei einer Straßenprostituierten erwartet. Von dem Moment an trug sie zu seiner Begeisterung ausschließlich diese Dessous bei ihren Treffen, was er jedes Mal mit einer Palette von Zärtlichkeiten belohnte.
Da so ein Abend mit ihr nicht gerade billig war, besuchte er sie zwei bis drei Mal monatlich, sonst hätte das sein monatliches Budget absolut gesprengt. Seit er seine Festanstellung bei dem Globus Magazin, einer Umweltpostille, gekündigt hatte und nunmehr als freier Journalist tätig sein wollte, waren seine Mittel beschränkt. Er hatte den Job gekündigt, weil er in der Wahl der zu behandelnden Themen unabhängig sein wollte, obwohl man ihn als Senior Berichterstatter hofiert und mehrmals zur Fortsetzung seiner Festanstellung zu verbesserten Bezügen aufgefordert hatte.
Nunmehr musste er versuchen, jeden einzelnen Artikel an den Mann beziehungsweise an die Redaktionen verschiedener Zeitungen zu bringen. Das war teilweise ein äußerst anstrengender und zeitraubender Job. Natürlich hatte er mit verschiedenen Blättern Rahmenverträge, er musste aber vor jeder Publikation eines Artikels antichambrieren. Er hasste das, den Chefredakteuren in den Hintern zu kriechen, nur damit ein zur Unkenntlichkeit verstümmelter Artikel erschien, in dem man nicht mehr seine Handschrift erkennen konnte. Dazu kam noch, dass er oft genug vor einer Recherche zurückschreckte, weil sie zu langwierig und zeitraubend war oder er einfach keine richtige Lust an dem vorgeschlagenen Thema hatte. Dann hätte er auch bei dem Umweltmagazin „Globus“ bleiben können, da hatte er wenigstens eine servile Assistentin gehabt, die ihn mit den notwendigen Informationen versorgt hatte und zudem im Bett eine Granate war. Mit ein wenig Wehmut dachte er an die Vergangenheit zurück, aber er hatte eine Entscheidung getroffen und sich vorgenommen, eigene Entscheidungen nicht bereuen zu wollen, insbesondere, weil sie zum Zeitpunkt der Beschlussfassung wohl überlegt waren, zumindest üblicherweise.
Er war nun einmal nicht der Fleißigste, Fleiß war die Stärke der Dummen, sagte er insgeheim. Am liebsten recherchierte er immer noch Kriminalfälle oder noch besser Morde. Dann brauchte er nur seine mit viel Alkohol erkauften Beziehungen anzuzapfen, um einen Artikel auf Basis spärlicher Information und viel Phantasie zusammenbasteln zu können. Andreas kannte viele Kriminalpolizisten, Staatsanwälte, Richter und Strafverteidiger sowie deren Präferenzen und Familienverhältnisse, die er in einer Datei auf seinem Laptop verewigt hatte. Zugegeben, auch ein paar Interna, wie historische oder aktuelle Freundinnen, Details über Alkoholexzesse oder Drogenkonsum, sowie berufliche Verfehlungen konnte man diesen Zusammenstellungen entnehmen, von denen er aber nur in verzwickten Situationen Gebrauch machte. Wenn er dann seine Informanten zu einem Glas einlud, rutschte denen durch seine geschickte Fragerei fast immer eine nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Information heraus, auch wenn es nur ein Bruchteil einer Indiskretion war, dann trat eben Kreativität an die Stelle der fehlenden Fakten. Meist konnte er dann ein halb fertiges Puzzle durch phantasievolle Farbgebung ergänzen. Wie oft hatte er schon insgeheim den Kopf geschüttelt, wenn er als Journalist eine Information erhielt mit dem Zusatz: „Das bleibt aber unter uns, das ist streng vertraulich.“ Diesen Satz einem Journalisten zuzuraunen war, als ob man einer Raubkatze einen Fleischbrocken vorwarf mit der Bemerkung, diesen aber nicht zu fressen. Um den Informanten nicht zu verraten, stellte er diesen derart verklausuliert dar, dass der Leser glaubte, es handele sich um ein belegbares kursierendes Gerücht oder entspringe einer Recherche des Schreiberlings. Was dann an dem Artikel wirklich zählte, war die Überschrift und die Unterüberschrift –ein Widerspruch in sich-, die mussten eine Sensation erahnen lassen, auch wenn im Artikel der Überschrift widersprochen wurde. Und darin war er Meister. Im Artikel selbst konnten unbeschadet eine Menge Fragezeichen stehen, die vom Konsumenten in aller Regel überlesen wurden Er stellte die übermittelten Informationen des Artikels geschickt als Ermittlungsstand dar, der zweifelsfrei feststand und unwiderlegbar bewiesen werden konnte.
Manches Mal bedauerte er denn doch seine Entscheidung, das Umweltmagazin verlassen zu haben, dort war im Prinzip die Welt für ihn noch in Ordnung gewesen. Mit dem Chef und den Kollegen war er bestens ausgekommen, sein Einkommen war mit seinem jetzigen nicht vergleichbar gewesen und der Chef hatte zudem noch mit einer größeren Einflussnahme und dem Job des stellvertretenden Chefredakteurs gewunken, aber er hatte einfach an den überlangen Recherchen, die mehrere Wochen oder sogar Monate dauerten, keinen Spaß mehr gehabt. Zugegeben, die Artikelserie über die Havarie des Atommeilers in Tschernobyl und des Reaktorunfalls in Fukushima hatte ihm etliche Pfründe beschert, sogar Ruhm hatte er geerntet, aber die Ergebnislosigkeit, insbesondere die Paralyse des internationalen Polizeiapparates, war für ihn extrem frustrierend gewesen. Was nützt es denn, wenn man in lang dauernder mühsamer Detailarbeit einen riesigen Skandal aufdeckt, Fakten nennt und Personen namhaft macht und unterm Strich die zuständigen Behörden nicht bereit sind, die Verantwortlichen an den Pranger zu stellen. In der Artikelserie hatte er eine dubiose amerikanische Umweltschutzorganisation überführt, maßgeblich an der Katastrophe von Tschernobyl beteiligt gewesen zu sein.
Wie enttäuscht war er gewesen, als er den Kriminalfall Tschernobyl aufgeklärt hatte und insbesondere die politische Ebene sich außerstande gesehen hatte, Konsequenzen zu ziehen. Der Grund hierfür war in der internationalen Rücksichtnahme auf diplomatische Animositäten zu suchen. Die Täter, die tausendfachen Mord zu verantworten oder zumindest den Tod Tausender billigend in Kauf genommen hatten, liefen immer noch frei herum und konnten weiterhin ihr Unwesen treiben.
Das ganze Verhalten der internationalen Polizeibehörden und seine Ohnmacht vor dieser nicht funktionstüchtigen Organisation in Zusammenarbeit mit der unfähigen politischen Ebene, hatten ihm schon einen Knacks versetzt. Die einzelnen Polizisten hatten sich noch bemüht und waren seinen Hinweisen auf die Spur gegangen, jedoch sobald der Fall grenzübergreifend und sogar Kontinent-übergreifend wurde, mussten sie ihre juristische Nichtzuständigkeit eingestehen. Er hatte Monate gebraucht, bis er über die riesige Enttäuschung hinweggekommen war, eigentlich hatte er immer noch nicht mit der geistigen Verarbeitung der Angelegenheit sowie deren Auswirkungen abgeschlossen.
Bettina, seine damalige Freundin, hatte sich vergeblich bemüht, ihm über sein Problem hinwegzuhelfen und die Frustration auszutreiben, zeitweise hatte sie das auch geschafft, aber die Vergangenheit vergeht nie, da hilft auch kein gutes Zureden. Sie war erheblich jünger als er und stand noch am Anfang ihres Erwachsenseins, hatte noch Discos im Kopf und wollte sogar noch ein Kind von ihm. Nein, das war ihm denn doch zu viel gewesen, er hatte sie abgöttisch geliebt, wie er überzeugt war, aber ein Mann, der auf die magischen Fünfziger hin altert, kann doch kein Kind mehr zeugen. Er wäre ein richtig alter Mann gewesen, wenn das Kind pubertierte. Er hatte an seinem Vater gesehen, wie so etwas endete, er war mit siebzehn Jahren bereits Halbwaise geworden, Herzinfarkt, das wollte er seinen Nachkommen nicht auch zumuten. Er konnte sich noch gut, allzu gut, erinnern, wie verlassen er sich damals gefühlt hatte. Insgeheim hatte er seinem toten Vater nachträglich nicht enden wollende Vorwürfe gemacht. Aber wie sollte er seine Einsamkeit artikulieren? In der Phase, als er plötzlich alleine dastand, hätte er dringend den Rat des erfahrenen Mannes gebraucht. Keiner hörte ihm zu. Verständnis für seine Situation hatte er von keiner Seite erwarten können, jeder hatte seine eigenen Probleme.
Bettina hatte mit allen Mitteln, angenehmen und unangenehmeren, versucht, an seinem Standpunkt des Kinderverzichts zu rütteln, mit solchen Argumenten wie: „Alte Leute sind im Kopf alt, ob mit achtzig oder mit zwanzig Jahren und nicht nach der Zahl zu beurteilen, die im Personalausweis steht. Du bist jung geblieben, Deine Gedanken sind jung, auch wenn Du schon langsam graue Schläfen bekommst. Dein Geist ist mobil geblieben, viel jugendlicher als der der meisten Jüngeren aus meinem Bekanntenkreis.“
Das, was wie ein riesiges Kompliment geklungen hatte, konnte aber nicht die biologischen Tatsachen kaschieren. Schließlich hatte Andreas Bettina wehmütig in ihr Tränenreich entlassen, obwohl er sich von ihr immer noch angezogen fühlte wie von einem starken Magneten. Aber manchmal muss eben die Vernunft die Gefühle überstimmen. Er war danach dem Suff verfallen, hatte seine Abende in immer neuen Kneipen oder Bars verbracht, war nicht selten volltrunken in seine kleine Wohnung in Köln-Lindenthal getorkelt und hatte dann von seiner Geliebten geträumt. Er konnte sie nicht vergessen, sie stand im Geiste immer vor ihm, ob im nüchternen oder betrunkenen Zustand, er sah sie in voller Schönheit vor sich. Als er eines Morgens kurz nach Sonnenaufgang auf den Stufen vor seinem Appartement mit eingenässter Hose aufwachte, er hatte es wohl nicht mehr geschafft, mit seinem Schlüssel das Türschloss zu treffen, war ihm trotz des Brummschädels und des Sodbrennens schlagartig klar, er musste etwas ändern, so konnte es keinesfalls weitergehen. Er mochte sich erst gar nicht vorstellen, wie blamabel es gewesen wäre, wenn ihn ein Nachbar in diesem Zustand geweckt hätte. Aber auch ohne eine solche Überraschung schämte er sich endlos, er schämte sich vor seinem Spiegel.
Erstens musste er ab sofort das Saufen aufgeben und Kneipen meiden und zweitens musste er sich von Bettina völlig lossagen. Letzteres war gar nicht so einfach, da sie in der gleichen Redaktion arbeiteten und sich demzufolge täglich etliche Male mit brechenden Herzen sahen. Mehr als einmal hatte sie ihn zur Seite genommen und hatte ihm mit Tränen in den Augen Vorschläge des gemeinsamen Weiterlebens gemacht. Sie hätte sogar auf ihren Kinderwunsch und die dusselige Tanzerei verzichtet, wenn er nur bei ihr bliebe. Er hatte sich selbst davon überzeugt, dass das keine Basis gewesen wäre, irgendwann hätte sie ihm die Kinderlosigkeit zum Vorwurf gemacht. Man durfte und konnte den Urinstinkt eines Menschen nicht mit scheinbar logischen Argumenten übertünchen.
Das Resultat seiner Überlegungen war folglich: Kündigung des guten Jobs.
Als zweite Konsequenz befahl er sich, Restaurants zu meiden und selbst zu kochen.
Die dritte Konsequenz bestand in der Verbannung aller Alkoholika aus seiner Umgebung, insbesondere aus seiner Wohnung.
Als vierte Konsequenz brauchte er ein weibliches Wesen und einen neuen Arbeitsplatz, um sich von der Vergangenheit leichter lossagen zu können.
Im Internet fand er auch relativ schnell eine junge Frau, eine Schönheit, die zugegebenermaßen ein Ebenbild seiner Bettina war. Sowohl Gesichtsform, Figur als auch Frisur waren identisch oder nahezu identisch, wie bei einem eineiigen Zwillingspaar. Sie war ein Callgirl, das über eine Begleitagentur buchbar war, umso besser, er konnte sie also jederzeit sehen, sofern sie keine andere Verabredung hatte und zudem waren die Emotionen begrenzbar. Als er Yvonne das erste Mal buchte, musste er sich allerdings erst einmal hinsetzen, der Preis für einen kompletten Tag war exorbitant. Aber die Sehnsucht nach Bettina oder ihrer virtuellen Zwillingsschwester war größer als sein Geiz und seine Vernunft.
Trotz des Treffens mit Yvonne konnte er Bettina nicht vergessen. Als er seine unverschmerzte Geliebte ein paar Monate später in der Stadt sah, begrüßte er sie nicht freudig, sondern wechselte die Straßenseite, als habe er sie nicht erkannt. Sie war unzweifelhaft schwanger und hatte sich wohl mit einem jungen Mann getröstet. Sie trug das Mona Lisa Lächeln im Gesicht zur Schau, was den Schwangeren so eigen ist. Der Anblick hatte ihm einen ordentlichen Stich versetzt und gleich als er zu Hause angekommen war, hatte er einen Termin mit seinem Bettina-Ersatz, Yvonne, verabredet. Sie war jedenfalls einfühlsamer als jeder Psychiater. Er konnte ihr alles erzählen, sie war eine erfahrene und geduldige Zuhörerin, gab nur wenige aber gute Ratschläge, scheute sich andererseits nicht, Kritik an seinem Verhalten vor und nach der Trennung von seiner Geliebten zu üben. Sie hatte ihn sogar ans Grübeln gebracht, als sie ihn fragte, ob der dicke Bauch Bettinas nicht aus seiner Beziehung zu ihr stammen könne. Er hatte dann nachgerechnet und festgestellt, dass es zumindest möglich war. Nach einigen Tagen des Zögerns hatte er sich dann doch aufraffen können, sie anzurufen und in aller Offenheit zu fragen. Sie hatte, wie sie ihm gestand, nach der Trennung eine ältere Beziehung wieder aufgewärmt und die Befruchtung muss wohl relativ schnell erfolgt sein, weil ihr neuer Freund auch Kinder wollte, habe sie die Pille abgesetzt. Es sei alles etwas zu plötzlich geschehen, aber nicht ungewollt.
So richtig konnte er sich mit seiner gewonnenen Freiheit nicht anfreunden, da es eine schizophrene Mischung aus Unabhängigkeit und Einsamkeit war. Als Ersatzbefriedigung hatte er sich in die Arbeit gestürzt und etliche belanglose Artikel geschrieben, die weder ihn selbst noch den Leser interessierten, die lediglich reißerisch aufgemacht waren, damit sie sich verkauften. Er hatte sogar über Sport, Feuilleton und lokale Ereignisse berichtet, immer dort, wo er meinte ein paar grüne Scheine sammeln zu können. Solange er gutes Handwerk und Kreativität zeigte, war er in den Redaktionen, die er bediente, gerne gesehen. Sein Schreibstil war professionell und geschult, kombiniert mit einem guten Schuss Erfahrung. Er hatte es auch geschafft, nach seiner Trennung von der Vergangenheit, dem Alkoholgenuss weitgehend zu entsagen. Er hatte das Zeug nicht völlig aus seinem Leben verbannt, er lebte nicht abstinent, vermied jedoch die Alkoholexzesse und Schnäpse aller Art, dafür rauchte er immer noch täglich ein Päckchen Filterlose. Auf alles konnte ein Genussmensch, wie er einer war, nicht verzichten, ein Laster wollte er beibehalten.
Yvonne hatte auch ihren Anteil an der Änderung seiner Lebensgewohnheiten, sie leitete ihn auf einen Mittelweg zwischen den Extremen und so konnte er ohne besondere Anstrengungen die Gifte, die er seinem Körper zugeführt hatte, minimieren. Die Abende und Nächte mit ihr waren lang und befriedigend, nicht nur im sexuellen Sinn. Es waren meist fröhliche Zeiten und es gab immer ein Gesprächsthema in das sie sich vertiefen konnten. Wobei es Yvonne immer wieder schaffte, ihm eine Geschichte aus seiner bewegten Vergangenheit zu entlocken, während sie nur relativ selten über sich, ihre Geschichte, Gefühle, Wünsche oder Perspektiven erzählte.
Von ihrer persönlichen Geschichte hatte sie gelegentlich erzählt, sie stammte aus einer einfachen Familie, der Vater war Elektroingenieur gewesen, da er aber nicht linientreu war und sich beharrlich geweigert hatte, Mitglied der kommunistischen Partei zu werden, hatte man ihn als Gehilfe zu einem Elektroreparaturbetrieb abkommandiert. Seinen eigentlichen Beruf hatte er also nicht ausführen dürfen. Ihre Mutter arbeitete in einem Metzgereibetrieb als Verkäuferin.
Aufgewachsen war Yvonne, oder wie sie sich damals noch nannte Ludmila, in Eger, nur ein paar Kilometer von der deutschen Grenze entfernt, deshalb auch ihre hervorragenden Deutschkenntnisse. Als Schülerinnen hatten die Mädchen neidvoll auf die Touristen geblickt, die in den tollsten Autos mit den modernsten Kleidungen in Richtung der Kurbäder Karlsbad oder Marienbad fuhren. Einige ihrer Schulfreundinnen versuchten, an dem westlichen Wohlstand teilzuhaben, indem sie sich schon als pubertierende Mädchen von den Touristen in ihre Autos locken ließen, um diese manuell oder oral zu befriedigen. Einzelne gingen sogar weiter und ließen sich gegen einen Spottpreis entjungfern. Hinterher wurde meist mit den für den Sexdienst erhaltenen Geschenken geprahlt. Auch Yvonne hatte sich einmal von ihren Freundinnen überreden lassen, sich an die Ausfallstraße nach Bayern zu stellen und auf einen Kunden zu warten. Einem älteren Handelsvertreter war sie dann zu Diensten gewesen, den sie im Schritt so lange streichelte, bis er sich auf ihre Hand ergoss. Die ganze Dauer, es sollten nur wenige Minuten gewesen sein, hatte er seine Hand unter ihrem T-Shirt gehabt und ihre Brust befummelt. Die ganze Angelegenheit hatte sie aber derart angeekelt, dass sie es bei diesem Einmalerlebnis bewenden ließ. Erst als sie erwachsen wurde, hatte sie ihre Zukunftschancen abgewogen und war zu dem Ergebnis gekommen, dass es wenig Zweck hatte, in diesem System einen bürgerlichen Beruf zu ergreifen. Sie hatte Bürokauffrau gelernt, wurde aber ausschließlich mit Schreibarbeiten beschäftigt, die sie absolut nicht befriedigten. Irgendwann hatte sie deshalb beschlossen, nach Deutschland überzusiedeln, was ihr erstaunlicherweise auch gelungen war, denn ihr Reiseantrag war aus nicht nachvollziehbaren Gründen recht bald genehmigt worden. In Deutschland angekommen und völlig auf sich alleine gestellt, hatte sie dann doch versucht, einen bürgerlichen Beruf zu akzeptablen Konditionen auszuüben. Da sie gerade in einer wirtschaftlichen Flaute emigriert war, musste sie ihren Lebensunterhalt mit dem bestreiten, was ihr angeboten wurde, und das war nicht gerade das, was sie sich vom goldenen Westen erträumt hatte.
Um sich ein Appartement leisten zu können, hatte sie bei einer Begleitagentur nachgefragt, was diese und insbesondere die Kunden von den Escort-Damen verlangten. Die gealterte Chefin dieser Agentur hatte auf Yvonne einen seriösen Eindruck gemacht und ihr obendrein versichert, dass die Damen nichts tun müssten, was sie nicht wollten. Dem war auch so, allerdings wurden bei den Treffen mit den Männern fast immer hohe Preise geboten, falls die Damen bereit wären, sie auf ihr Hotelzimmer zu eskortieren. Die Verlockung des Geldes war für Yvonne zu groß gewesen, somit hatte sie eines Tages zugestimmt, dem Mann seinen erbetenen Dienstleistungswunsch zu erfüllen. Es war ein sympathischer und überaus gepflegter leitender Angestellter aus der Telekommunikationsbranche, der sich ausgesprochen rücksichtsvoll und zärtlich gebärdete. Als Einstieg in ihren neuen Beruf also ein idealer Partner. Der Abend mit dem Mann, der ihr nur seinen Vornamen, Jörg, genannt hatte, war ihr in angenehmer Erinnerung geblieben und so hatte sie sich in zunehmendem Maße zu solchen Liebesdiensten bereit erklärt, insbesondere, da sie sich bald viele materielle Wünsche erfüllen konnte und ihr Bankkonto stetig ansehnlicher wurde.
Das einzige, das sie Andreas von ihrer Zukunft offenbart hatte, war die Aussicht, dass sie in absehbarer Zeit ihren jetzigen Beruf stark einschränken würde, da sie eine größere Geldsumme erwartete und dann nicht mehr jeden Kunden akzeptieren müsste. Sie hatte behauptet, sich darauf zu freuen, genau selektieren zu können, sie hatte mittlerweile eine gewisse Klientel, die durchaus sympathisch wäre und mit denen sie bereit wäre, auch zukünftig Treffen zu verabreden. Auf die Frage, ob es sich bei dem Geldsegen um eine Erbschaft handelte, hatte sie nur hintergründig lächelnd mit ihrem betörenden Augenaufschlag geantwortet: „So etwas Ähnliches.“
Er wusste nicht, was etwas Ähnliches wie eine Erbschaft sein sollte, vielleicht eine Schenkung, dachte aber weiter nicht darüber nach und hatte es dabei bewenden lassen. Das, was für Andreas daran erfreulich war, konnte man als ihre Arbeitsreduzierung betrachten, er durfte nicht daran denken, dass sie ihren Charme auch an andere Männer vergeudete. Sie hatte ihm jedoch versprochen, dass er auch weiterhin zu ihren Klienten zählen sollte, aus purer Zuneigung. Sollte das eventuell ein verstecktes Kompliment sein? Die Aussicht auf das baldige pekuniäre Ereignis hatte ihn gefreut, er hatte es ihr gegönnt. Dann brauchte sie sich nicht so zu verheizen wie ihre Freundin Chantal, die als Zusana Tomalová ebenfalls aus Tschechien stammte und schon als Kind nach Deutschland gekommen war und wie Yvonne immer erwähnte, wesentlich intensiver ihrer Beschäftigung nachging. Yvonne fragte sich, wann Chantal mal schlafen würde, gemeint war alleine. Auch sie war äußerst attraktiv, aber vom Typ her etwas herb und dazu blond oder blondiert, was damit nicht seinem Geschmack entsprach. Sie war allerdings nett und freundlich, Andreas hatte die Freundinnen ein paar Mal zusammengetroffen, als er einige Minuten zu früh eintraf. Da beide Damen im gleichen Haus wohnten und enge Freundinnen waren, konnte man die Begegnung nicht als außergewöhnlich bezeichnen.