Читать книгу Wie zerplatzte Seifenblasen ... - Aylin Duran - Страница 12
Ben
ОглавлениеMai
Ich hatte so viel Zeit allein verbracht, dass es komisch war, Lina plötzlich bei mir zu haben. Lange, einsame Nächte mit keiner anderen Gesellschaft als meiner verbeulten Gitarre, frühe Morgenstunden mit kalten Füßen – wir Menschen sind stärker, als wir denken, wir können uns an alles gewöhnen, wenn wir den Zustand nur lang genug ertragen müssen. Wenn wir erkannt haben, dass es ohnehin kein Entkommen gibt. Auf dem schmalen Fußweg plapperte Lina vor sich hin, ich war mir sicher, dass es nur belangloses Zeug war, aber ich hätte ohnehin keine Kraft gehabt, ihr zuzuhören.
Es dauerte nicht lange, bis auch Lina das erkannte. „Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?“, fragte sie und stemmte die Hände in die Hüften. Sie war schmal gebaut, wenn sie allerdings die Hände so in die Hüften stemmte, war der Fußweg zu schmal für uns beide. Und natürlich hatte ich ihr nicht zugehört.
„Oh“, sagte ich gleichgültig. Lina runzelte ihre Stirn, konnte sich dann jedoch dazu durchringen, normal weiterzulaufen. „Ich bin ein ziemlicher Morgenmuffel, weißt du?“, log ich und bemühte mich, ihren schmalen Ellenbogen beim Laufen nicht mit meinem zu berühren. Ich hasste Körperkontakt.
„Das würde ich verstehen, wenn du geschlafen hättest. Aber wir waren die ganze Nacht wach, deshalb macht es absolut keinen Sinn, was du da sagst“, meinte sie.
Schon da war der Punkt erreicht, an dem sie mir auf die Nerven ging. Und das, obwohl ich sie zuvor konstant ignoriert hatte. Ich knurrte, bevor ich ihr antwortete: „Sag’ mir bitte nicht, was Sinn macht und was nicht. Deine Einstellung über Möwen hat mir nämlich schon gezeigt, dass du absolut keine Ahnung hast. Nicht über das Leben, aber noch weniger über die Sinnhaftigkeit unseres Lebens. Also: Sei bitte einfach ruhig.“ Ich suchte ihren Blick, aber sie starrte wütend auf die Pflastersteine. Als sie nichts erwiderte, seufzte ich zufrieden. „Danke.“
Es dauerte nur wenige Sekunden, und eigentlich war es mir klar gewesen, dass Lina das letzte Wort haben musste. Frauen. „Ben, du bist ein richtiger Kotzbrocken.“
Nachdem wir uns ein billiges Hostel genommen hatten, in dem wir die heruntergekommenen Zimmer nebeneinander bezogen, hatte ich keinen sehnlicheren Wunsch, als zu schlafen. Die Einrichtung war minimalistisch, auf unserer Etage gab es nur Gemeinschaftswaschräume, die Teppiche waren verdreckt und es roch nicht gerade appetitanregend. Ich war allerdings so übermüdet, dass mich solche Kleinigkeiten nicht störten. Außerdem war ich froh über die billigen Preise. Ich war so unglaublich gerädert, so müde. Ich spürte diese Müdigkeit in jeder einzelnen Zelle, und ich konnte nur noch die Kraft aufbringen, mir die schmutzigen, nassen Schuhe von den Füßen zu streifen, bevor ich zum Bett krabbelte, mich auf dem weißen Laken zusammenrollte und einschlief.
Mein Schlaf war traumlos und endete abrupt durch ein Klopfen an der Zimmertür. Sogar in diesem komischen Dämmerzustand zwischen Traumwelt und realer Welt wusste ich sofort, wer vor der Tür stand. Es musste Lina sein.
„Gut geschlafen, Partner?“, hörte ich ihre zaghafte Stimme auf der anderen Seite der Tür.
Ich stöhnte erschöpft. Wann würde sie es endlich kapieren? „Wir sind keine Partner!“, rief ich und machte keine Anstalten, ihr die Tür zu öffnen. Ich würde einfach hier im Bett bleiben, und es war mir total egal, wenn es hier Wanzen oder Kellerasseln gab. Hier war es warm und gemütlich – und ich war ohnehin Schlimmeres gewohnt. Ich war es gewohnt, gar kein Bett zu haben. Ich streckte die Arme über dem Kopf aus, um mich zu dehnen. Von der Nacht am Bahnhof tat mir jeder einzelne Knochen weh.
„Kannst du mich vielleicht wenigstens reinlassen?“, fragte Lina. Nun klang sie weniger enthusiastisch, wollte ihre Mission aber nicht erfolglos aufgeben. Was auch immer das für eine Mission war.
Stöhnend schlug ich die Bettdecke zurück und blinzelte in die späte Nachmittagssonne, die golden durch die Vorhänge schimmerte. Sobald Lina hörte, dass ich aufgestanden war, öffnete sie die Tür selbst. Dann stand sie vor mir, ihr Blick war trotzig, aber ihre Körpergröße machte es ihr unmöglich, bedrohlich auszusehen. Sie marschierte an mir vorbei in mein Zimmer und fragte: „Was tun wir jetzt? Ich hätte mir gerne angeschaut, in welcher Stadt wir hier gelandet sind. Oder etwas Essbares besorgt.“
Sie machte einen Schmollmund und ich wollte sie verspotten, wollte ihr sagen, dass sie mit diesem Gesichtsausdruck aussah wie ein beleidigtes Kleinkind. Dann fiel mir allerdings auf, dass sie eigentlich ziemlich süß aussah, wenn sie den Mund so verzog. Und plötzlich dachte ich mir: „Was soll’s. Wir sind gestern in denselben Zug gestiegen und beide bis zur Endstation durchgefahren.“ Offensichtlich wusste sie genauso wenig, wohin sie gehen sollte, war vermutlich irgendwo gestrandet. Auch in ihrem Leben musste es etwas geben, was sie zum Weglaufen gebracht hatte. „Okay, dann lass’ uns etwas Essbares besorgen“, sagte ich und verblüffte mich damit selbst.
Wir liefen nebeneinander die Straße entlang und stoppten bei der ersten Möglichkeit, etwas Essbares in die Mägen zu bekommen. Dass ich fast verhungert war, fiel mir erst auf, als ich meine Pizza Margherita bereits in den Händen hielt und glücklich von ihr abbiss. Für mich war in diesem Moment alles beinahe perfekt. Denn irgendwann musste man lernen, kleine Dinge zu schätzen. Für mich war es schön, dass die Sonne nach dem nächtlichen Regen wieder am Himmel zu sehen war, dass ich kurzzeitig die Augen schließen konnte, um das Gefühl zu haben, die Wärme in mich aufsaugen zu können. Ich grinste über die schiefen Töne, die die Straßenmusiker produzierten, die fettig schmeckende Pizza und sogar über die Tauben, die auch Hunger auf Pizza hatten und uns auf Schritt und Tritt verfolgten. Lina schien die Pizza nicht zu schmecken. Während ich meine Pizza hungrig bis auf den letzten Krümel verschlang, sah ich auf Linas Pappteller die Ränder, die sie sorgfältig abgetrennt und zu einem Haufen aufgetürmt hatte.
Lina seufzte, als sie meinen Blick auffing. „Ich hasse Ränder“, erklärte sie. „Nicht nur bei Pizzen. Auch bei Brot.“
Diese Aussage war so idiotisch, dass ich einfach nicht anders konnte. Ich brach in schalendes Gelächter aus. Für Lina tat es mir leid, aber das erste Mal, dass sie mich lachen hörte, da lachte ich sie aus. „Was bist du? Eine Oma?“, fragte ich, während ich darum rang, meine Fassung wiederzugewinnen.
Lina streckte mir die Zunge heraus. „Du kannst die Ränder essen, wenn du möchtest“, schlug sie mir vor. Dann streckte sie mir den Pappteller mit den aufgetürmten Pizzarändern entgegen, aber ich schüttelte heftig den Kopf und schob ihre Hand weg.
„Ich bin nicht dein Müllschlucker.“ Wir verfütterten die Reste an die Tauben, die sich sehr über die milde Gabe freuten und uns aufgeregt umkreisten.
„Tauben sind die Ratten der Lüfte. Widerlich. Ich hasse Tauben“, setzte Lina mich schaudernd in Kenntnis.
„Dann benimm dich“, grinste ich. „Sonst wirst du irgendwann als Taube wiedergeboren.“
Die Zeit nicht allein verbringen zu müssen, war ungewohnt. Zu zweit schienen die Zeiger der Uhren schneller zu ticken, die Stunden schneller zu verfliegen. Obwohl Lina nichts Besonderes war und ich mich eigentlich nicht für sie interessierte, tat mir ihre Gesellschaft gut. Manchmal musste ich lachen, wenn ich sie beobachtete. Sie gab mir ein Gefühl von Normalität, weil sie sich über Belanglosigkeiten wie angetrocknete Pizzaränder und Taubengurren erbosen konnte – und dieses Gefühl von Normalität tat mir gut. Warum sie weiter bei mir bleiben wollte? Das Leben kannte sie vermutlich nur aus ihrer ehemaligen, beschützten Kleinstadtperspektive. Sie hatte Angst, alleine zu sein. Ich hatte keine Angst, alleine zu sein, war lange genug einsam gewesen, um mich an den Zustand gewöhnen zu können. Aber ich wollte das Gefühl nicht verlieren, dass sie mir übermittelte: Dass das Schlimmste, was passieren konnte, der Kontakt mit den Tauben auf den Dächern war.
Nachdem Lina und ich ins Hostel gelaufen waren, ging ich unbemerkt wieder zurück. Ich hatte kein Geld. Wenn andere Menschen sagten, sie hätten kein Geld, dann reichte es bestimmt noch zwei Wochen. Weil jeder eigentlich Notfallrationen bereitliegen haben sollte. Ich nicht. Wenn ich sagte, dass ich blank war, dann war ich das auch. Richtig pleite. Wer kann sich schon wirklich vorstellen, wie es ist, Existenzängste zu haben? An den Boden der Tatsachen geworfen zu werden? Man musste grundsätzlich mit dem Schlimmsten rechnen. Mir war klar, dass ich einen Job brauchte, wenn ich im Hostel bleiben und mein Essen bezahlen wollte. Dergleichen hatte ich schon länger nicht mehr gehabt, weil es für mich irgendwann keine Rolle mehr gespielt hatte, wo ich übernachtete. Ich hatte niemanden mehr, der sich um mich kümmern oder mich unterstützen konnte. Aber das musste Lina ja nicht wissen.
Am selben Tag begann ich also damit, Arbeit zu suchen. So lernte ich Cagney kennen, denn wenige Minuten später fand ich mich vor dem Straßenverkauf wieder, an dem Lina und ich unsere Pizzen gekauft hatten. Hinter dem Glasfenster, durch das die Mahlzeiten herausgereicht wurden, stand ein Mann in meinem Alter. Er war damit beschäftigt, die Plastikfolie von verschiedenen Tiefkühlpizzen abzuziehen. Seine braun gebrannten Arme waren muskulös, die Locken schwarz und verschwitzt. Er sah italienisch aus. „Hey“, rief ich, nachdem ich an die Scheibe geklopft hatte.
Er sah auf und wollte mich mit einem Nicken dazu auffordern, zu bestellen. Ich schüttelte den Kopf. „Was ist los?“, fragte er genervt, ohne damit aufzuhören, die Folien der Tiefkühlwaren zu zerschneiden.
„Braucht ihr zufällig jemanden hier?“, fragte ich ihn. „Eine Aushilfskraft?“
Er kam näher und verzog das Gesicht zu einem spöttischen Grinsen. „Junge, sieht der Scheißladen für dich vielleicht so beliebt aus, dass ich Verstärkung bei meiner Schicht bräuchte?“
„Nein.“ Ich legte den Kopf schief. „Aber vielleicht könnte ich eine andere Schicht übernehmen.“
Er winkte mich rein. Als ich in den kleinen Innenraum eintrat, mussten sich meine Augen erst an das gedimmte Licht gewöhnen, dass dort herrschte. Es roch nach verbranntem Käse und Schweiß. Der Mann kam auf mich zu und wischte sich die Hände an der Schürze ab, auf der in Regenbogenfarben Luigi’s Pizza-Imbiss stand. Dann hielt er mir seine Rechte hin. „Cagney“, stellte er sich vor, als ich seine Pranke schüttelte. Ich starrte auf seine Schürze und er folgte meinem Blick. „Ich weiß, es ist lächerlich. Mein Boss heißt nicht mal Luigi, er tut nur so. Wirklich. Er tut so. Es ist komplett bescheuert.“ Cagney schüttelte den Kopf und stöhnte. „Gestern hat mich seine Cousine bei ihm angeschwärzt, weil ich sie beleidigt habe. Weil sie hässlich ist.“ Als ihm auffiel, dass seine riesige Hand noch immer meine schüttelte, ließ er sie hastig fallen. „Na ja, auf jeden Fall werde ich nicht gefeuert. Und willst du wissen, warum?“ Er sprach schnell und ich konnte ihm kaum folgen. Ich sah ihn fragend an und sein Grinsen wurde noch breiter. „Weil ich italienisch aussehe. Kannst du dir das vorstellen?“
Ich stimmte kopfschüttelnd in sein Gelächter ein, denn diese Geschichte war wirklich köstlich. Als wir uns beide wieder eingekriegt hatten, versprach Cagney: „Ich kann mal fragen, ob jemand gebraucht wird. Nur als Vorwarnung: Du wirst jeden Tag stinken und in Depressionen verfallen.“ Cagney hinterließ seinem Boss eine Notiz und bot mir dann eine Zigarette an. Er führte mich um den Imbiss herum in einen kleinen Hinterhof, in dem sich hauptsächlich riesige Mülltonnen aneinanderreihten. Das Kopfsteinpflaster war verdreckt und aus den Mülltonnen strömte ein widerlicher Geruch nach Fäulnis. „Die Hochphase des Gestanks ist in den Sommermonaten. Du kannst dich also noch glücklich schätzen“, erklärte er mir trocken. Er ließ sich auf der kleinen Treppe neben den Mülltonnen nieder und klopfte neben sich auf das Pflaster. Ich setzte mich zu ihm und ließ mir die Zigarette von ihm anzünden. „Was hast du erlebt, dass du so verzweifelt auf der Suche nach einem Job bist?“, fragte Cagney. Er schnipste die Asche von seiner Zigarette.
Mein Blick folgte den feinen, schwarzen Partikeln, als sie durch die Luft flogen und vor uns auf dem verschmutzten Boden landeten. „Nichts. Ist es falsch, auf der Suche nach einem Job zu sein?“, fragte ich.
Cagney sah mich argwöhnisch an. „Nein“, entgegnete er, schloss genüsslich die Augen und zog an der Kippe. „Nein. Aber ich kenne die Menschen. Glaub mir. Ich schätze dich … Warte, lass mich nachdenken.“ Er begann, mich von der Seite zu beäugen, als könnte er durch die Betrachtung meines Profils meine Lebensgeschichte in sich aufsaugen. „Ich schätze dich auf 20, vielleicht 21. Mit 21 ist man nicht an dem tragischen Punkt im Leben, an dem man sich um einen Job bei einem stinkenden Fast Food-Restaurant bemüht. Da hat man noch Feuer. Man hat Hoffnungen. Träume.“
Ich schluckte und entschloss mich dazu, seine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten. „Wo sind deine Hoffnungen und Träume, wenn ich fragen darf?“
Cagney zuckte mit seinen breiten Schultern und bemühte sich um einen gleichgültigen Gesichtsausdruck. „Für mich hat es sich ausgeträumt.“