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Lina

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Mai

Die Zimmertür, an die ich jeden Tag mindestens einmal klopfte – mal entschlossen, mal zaghaft – trug die Zimmernummer 27. Als die Tür von innen geöffnet wurde, waren es aber nicht Bens Schokoaugen, die in meine blickten.

„Abend“, sagte die tiefe Stimme, die dem südländisch aussehenden Fremden gehörte, der mir gegenüber stand. Der Fremde war gebräunt und muskulös, sein Blick hatte etwas Spielerisches.

„Ähm. Abend“, erwiderte ich verunsichert. Er machte einen Schritt zur Seite und gab mir dadurch den Weg frei. Beim Reingehen stolperte ich über die Schwelle und Ben, der selbstverständlich rauchend am Fenster stand, grinste blöd.

„Das war dann wohl mein Stichwort“, sagte der Fremde. Er räusperte sich. Es war mehr als deutlich, dass er sich unwohl fühlte in meiner Gegenwart.

Ben stieß sich vom Fensterbrett ab und schnippte den Zigarettenstummel nach unten auf die Straße. „Sie beißt nicht“, sagte er mit einem Seitenblick auf mich. Sein blödes Grinsen klebte ihm noch im Gesicht, während sich bei seinem Freund nur der rechte Mundwinkel hob und sein Lächeln ihm beinahe schief im Gesicht zu liegen schien, so, als hätte er vergessen, auch den linken Mundwinkel in die Höhe zu ziehen.

„Dafür, dass sie nicht beißt, hat sie sehr spitze Eckzähne“, observierte der Fremde. Er starrte auf meine oberen Zahnreihen.

„Scharf wie ein Säbelzahntiger!“, scherzte Ben, der sich neben seinem Kumpel positioniert hatte. Beide hatten sie unheimliche Freude daran, sich mit kindischen Vergleichen zu übertreffen.

„Wie ein Piranha!“

„Wie ein Vampir!“

„Wie ein weißer Hai!“

Auf der Suche nach neuen Tiergebissen, die er mit meinen Zähnen vergleichen konnte, blieb Bens Blick für einen kurzen Moment an meinen Lippen hängen. Ich hatte nicht einmal Zeit, zu erröten, so schnell hatte er sich wieder gefangen und seinen Blick von mir abgewandt. Kurze Zeit später kündigte der Fremde an, dass er jetzt gehen müsse. Ben bot ihm sofort an, ihn ein Stückchen zu begleiten. Er schien erleichtert, dass er mich nicht mehr ansehen musste.

„Du isst immer Marmelade. Jeden Tag. Kommt es dir nicht langsam wieder zum Hals raus?“, fragte ich Ben beim Frühstück am nächsten Morgen im Hostel. Es war die einzige Mahlzeit, die man hier bekam. Ben saß mir gegenüber am Tisch und strich hoch konzentriert Erdbeermarmelade auf sein Brot. Dabei war er stets darauf bedacht, den Aufstrich gleichmäßig zu verteilen und keine Stelle unbedeckt zu lassen.

Ohne den Blick von seinem Brot abzuwenden, schüttelte er den Kopf. „Es erinnert mich an zu Hause“, sagte er.

Mit der Aussage überraschte er mich. Es war das erste Mal, dass er von der Zeit sprach, die unserem Zusammentreffen am Bahnhof vorausging. Als ich versuchte, Emotionen in seinem Gesicht zu finden, war sein Blick neutral und gab mir keinen Aufschluss darüber, was Zuhause für ihn bedeutete.

„Was ist für dich zu Hause?“ Er legte das Messer mit einem leisen Klirren auf dem Tellerrand ab. Sein perfekt geschmiertes Marmeladenbrot verströmte einen süßlichen Geruch. Es sah etwas verloren aus auf dem riesigen Frühstücksteller. Aber waren wir das nicht alle?

„Das Quietschen der dritten Treppenstufe“, sagte ich, weil mir nichts Besseres einfiel.

Er lachte. Es war dieses Lachen, das ich nur von Ben kannte. Das Lachen, das abgrundtief traurig war. „Wirklich?“

Ich musste kichern.

„Das Quietschen der dritten Treppenstufe?“

„Wirklich.“

Über den Tisch hinweg grinsten wir uns an und Ben hielt sein Brot in diesem Moment schief, sodass ein Marmeladenklecks auf seinem Teller landete. Als es ihm auffiel, legte er das Brot weg, stützte die Ellenbogen auf dem Tisch auf und sah mich an. „Du bringst mich … irgendwie zum Lachen“, sagte er leise.

Ich spürte, wie ich errötete. „Ist doch gut, oder nicht?“

Ben hob das Brot wieder auf, zuckte mit den Schultern. „Es ist ungewöhnlich.“

Ich mochte ihn. Zwar wusste ich nicht, warum, und eigentlich hatte er das nicht verdient, aber in seiner Nähe fühlte ich mich gelöst. Vielleicht rührte dieses Gefühl einfach nur daher, dass er nichts über mich wusste und ich ihm keinerlei Erklärungen schuldig war, aber das war egal. In dieser Stadt hatten wir uns eine geschützte, kleine Blase geformt, in der wir nun lebten, ohne dass es irgendjemanden zu interessieren schien. Es war wie ein Stillstand. Die Uhren blieben nicht stehen, doch die Zeit lief weiter. Alles, vor dem ich geflüchtet war, existierte noch. Aber es existierte in weiter Ferne und ich brauchte noch Zeit. Ich war noch nicht bereit dazu, meine Blase zu verlassen. Manchmal braucht man den Stillstand.

Meine Mutter rief drei Tage später an, als Ben und ich gerade am Ufer des Flusses saßen, der mitten durch die Stadt floss und den man nur über eine monströse, steinerne Brücke überqueren konnte. Der Boden war schmutzig und noch kühl, aber wir froren nicht, als wir auf unseren Hosenböden saßen und den Fluss betrachteten. Die Frühlingssonne spiegelte sich im Wasser und erzeugte Tausende schimmernde und funkelnde Reflexionen. Es sah magisch aus.

„Wie ein Feenzauberstab“, sagte ich.

Ben schwieg und genoss mit geschlossenen Augen die wärmenden Strahlen der Sonne auf seiner Haut. Ich tat es ihm gleich und plötzlich konnte ich mich voll und ganz auf das sanfte Rauschen und Plätschern des Wassers konzentrieren. Als er zu sprechen begann, flogen meine Augenlider auf. Seine Schokoaugen waren hinter den Lidern verborgen und er wirkte vollkommen entspannt, als er fragte: „Wusstest du, dass Wasser im Buddhismus als Sinnbild gilt?“

Ich drehte mich auf den Rücken, starrte ihn an. „Sinnbild für was?“

„Als Sinnbild für den Strom des Lebens.“

„Warum bist du so fasziniert vom Buddhismus?“, fragte ich ihn, während ich die Unterarme auf die kühle Erde aufstützte.

Ben bemerkte meine Bewegung, öffnete die Augen in Zeitlupe und blinzelte in das gleißende Sonnenlicht. „Weil es Sinn macht“, entgegnete er. Das Licht verwandelte seine Augen in Schokokaramellbonbons. Als mein Handy klingelte, übertönte es das entspannende Geräusch des rauschenden Flusses und zerstörte die schläfrige Ruhe des Moments. Ich sprang auf die Füße.

„Es ist Zeit, nach Hause zu kommen“, sagte meine Mutter ohne Begrüßung. Sie klang krank vor Sorge.

„Es geht mir gut. Wirklich. Ich brauche nur … ein bisschen Abstand von allem.“

Stille am anderen Ende der Leitung.

Während ich auf ihre Antwort wartete, lief ich unruhig am Ufer entlang, zeichnete mit meiner Schuhspitze matschige Kreise in die Erde, sah in Bens Richtung, der meinen Blick auffing. Ich hörte meine Mutter durchs Telefon seufzen.

„Es ändert nichts, Schatz, du hast Abstand genommen, aber irgendwann musst du doch zurückkommen. Es ist eine Geldverschwendung, was du da machst. Du kannst auch daheim in deinem Selbstmitleid baden. Da musst du wenigstens nicht für deine Unterkunft bezahlen. Wenn du so weitermachst, dann kannst du deinen Amerikatraum gleich begraben.“ Sie klang sauer, aber ich wusste, dass sie das nicht war. Sie versuchte nur alles, um mich zurückzuholen.

„Ich gehe nicht nach Amerika“, sagte ich. Dann legte ich auf.

Als ich zu Ben zurückstapfte, hatte sich eine steile Falte zwischen meinen Augenbrauen gebildet. „Ich gehe zurück ins Hostel“, kündigte ich an und konnte die schlechte Laune nicht vor ihm verstecken.

„Wer auch immer angerufen hat, du solltest dir nicht diesen wunderschönen Tag verderben lassen“, erwiderte Ben. Als er zu mir hochsah, blendete ihn die Sonne. Er stand auf und war plötzlich nur wenige Zentimeter von mir entfernt. „Du hast da was“, sagte er leise, während er auf die Stelle zwischen meinen Augenbrauen starrte.

Ich spürte, wie sich mein Herzschlag beschleunigte. „Was?“

„Eine Schlechte-Laune-Falte.“

Wie von einer unsichtbaren Hand gelenkt, bewegten sich Bens raue, warme Finger zu meiner Stirn, um die Falte glatt zu streichen. Er nahm die Hand nicht weg, als er die Falte geglättet hatte. Die Wärme seiner Finger schien sich auf meinen ganzen Körper zu übertragen. Die Stelle, die er in meinem Gesicht berührte, schien zu brennen. Er sah auf mich herunter und die Farben in seinen Augen verschwammen, sodass ich nicht mehr sagen konnte, was ich da sah. Waren sie haselnussfarben? Schokoladenfarben? Oder sahen sie eher aus wie flüssiges Karamell?

Plötzlich wusste ich es nicht mehr und ich wollte mich auch nicht darauf konzentrieren, mich auf eine dieser Farben festzulegen. Ich wusste nicht, was Ben in diesem Moment dachte – eigentlich wusste ich nie, was in ihm vorging – und genauso schnell, wie seine Hände mein Gesicht berührt hatten, verschwanden sie auch wieder von dort. Er sah verwirrt aus. „Keine Ahnung, warum ich das gerade gemacht habe“, sagte er und räusperte sich verlegen.

Ich schluckte. Mein Herzschlag war in diesem Moment so schnell und laut, dass ich mir sicher war, er müsste ihn hören.

„Wegen der Falte?“

„Richtig.“ Er räusperte sich. „Wegen der Falte.“

Ich beobachtete, wie er einen Rückwärtsschritt machte, um Abstand zu mir herzustellen. Während ich noch immer die warme Berührung seiner Finger auf meiner Haut fühlen konnte, schien er bemüht, den Gedanken schnellstmöglich zu vertreiben. Seine Knie knacksten, als er sich bückte und wieder auf dem erdigen Boden vor dem Fluss Platz nahm. Mit seinen Augen folgte er dem Strom des Wassers. So konnte er jeglichen Blickkontakt vermeiden. Die entstandene Stille war unbehaglich. Es war nie merkwürdig gewesen, wenn wir uns angeschwiegen hatten. Jetzt war es das.

Mit geschlossenen Lidern lag ich in der Sonne und versuchte die Tatsache, dass Ben nur wenige Zentimeter von mir entfernt lag, zu verdrängen. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sein Blick meinen Körper streifte, aber wenn ich die Augen aufschlug und mich in seine Richtung drehte, schien er zu schlafen und sich nicht dafür zu interessieren, was ich tat.

Immer wieder drängten sich die Worte meiner Mutter in meine Gedanken: „Du kannst nicht ewig bleiben. Nicht ewig Auszeit nehmen und vor den Tatsachen fliehen.“ Obwohl ich es nicht zugeben wollte, hatte sie natürlich recht. Aber ich war noch nicht bereit, nach Hause zurückzukommen. Ich hatte das untrügliche Gefühl, dass es falsch wäre, jetzt zu gehen. Dass es einen Grund dafür gab, warum Ben und ich in derselben Nacht an derselben Haltestation ausgestiegen waren. Allein schon der Gedanke an eine Abreise fühlte sich nicht richtig an. Und was würde mich zu Hause erwarten? Eine kaputte Familie, eine kaputte Beziehung, eine kaputte Freundschaft. Zwar hatte ich mein ganzes Leben vor mir, aber alles, was ich mir für die Zukunft gewünscht und worauf ich hingearbeitet hatte, war innerhalb einer einzigen Nacht zerstört worden.

„Ich gehe“, unterbrach ich die Stille.

„Wohin denn?“, fragte Ben mich schläfrig.

Ich fühlte mich kein bisschen schlecht, als ich seine Frage ignorierte, meine Sachen zusammenpackte und mich mit hastigen Schritten vom Flussufer entfernte.

„Was soll das?“, rief Ben mir nach, aber ich antwortete ihm nicht.

Sobald ich den ersten Schritt auf die asphaltierte Straße gemacht hatte, verschwand der Geruch der feuchten Erde und des Wassers. Die Erinnerung an Bens Karamellaugen direkt vor meinem Gesicht verschwand nicht. Ich hatte es satt, mich von ihm herumschubsen zu lassen. Wenn er ein Problem damit hatte, Nähe zwischen uns herzustellen, dann sollte er seine Finger gefälligst bei sich lassen. Grundsätzlich waren es immer seine unüberlegten Handlungen, die uns beide in Verlegenheit und merkwürdige Situationen brachten. Grundsätzlich war ich am Ende diejenige, die mit Schweigen gestraft und behandelt wurde, als hätte sie einen Fehler gemacht. Aber ich hatte keinen Fehler gemacht. Schon bevor ich mich umdrehte, wusste ich, dass Ben mir gefolgt war. Ich beschleunigte meine Schritte, rannte fast. Aber er war schneller. „Ich habe es kapiert, Ben, du hast keinen Bock auf mich. Weißt du, wenn du mich so scheiße findest, dann solltest du mir vielleicht nicht hinterherlaufen“, fauchte ich. Als ich abrupt zum Stehen kam, war er mir so dicht auf den Fersen, dass er mich fast über den Haufen rannte. „Also, was willst du hier?“

„Was willst du hier?“, entgegnete er. Er meinte nicht den Platz am Fluss, er meinte die Stadt, die ihm ebenso fremd war wie mir.

„Was willst du mir damit ...“

Er berührte mich an der Schulter und ich brach meinen Satz ab, als mich sein Blick aus warmen Schokoaugen traf.

„Ich will doch gar nicht, dass du abhaust, verdammt“, sagte er dann und zog die Hand wieder zurück. Diesmal tat er nicht, als hätte er sich verbrannt.

„Was willst du dann?“

„Dass du bleibst.“

Beide starrten wir auf unsere Schuhspitzen.

„Ich weiß nicht … Ich hatte das Gefühl so lange nicht mehr … Es überfordert mich“, sagte Ben und sprach zusammenhangsloses, wirres Zeug.

Während wir nebeneinander die Straßen entlangliefen, spürte ich seine flüchtigen Seitenblicke. Sobald ich ihn ansah, senkte er jedoch den Blick und starrte auf den Boden, als wären die schmutzigen Pflastersteine das Interessanteste, was er seit Langem gesehen hatte.

„Denkst du eigentlich schon manchmal daran, zurückzugehen?“, fragte ich ihn vorsichtig.

Obwohl er ganz genau wusste, was ich meinte, stellte er sich ahnungslos. „Zurückzugehen?“ Sein Körper spannte sich an und seine Schritte wurden hektischer.

„Ob du darüber nachgedacht hast, wann du abreisen und dein altes Leben weiterführen willst“, erklärte ich. Obwohl er so schnell lief, dass ich Mühe hatte, sein Tempo zu halten, schien er gar nicht zu merken, wie nervös ihn meine Frage gemacht hatte.

Den Blick hatte er starr auf den Boden gerichtet, als er sagte: „Nein, habe ich nicht. Will ich auch nicht.“

Ich gab es nicht zu, aber seine Antwort erleichterte mich. Solange er da war, konnte ich auch hier sein. Solange er da war, war ich nicht allein. „Okay“, sagte ich.

Ben sagte nichts, aber als ich ihn sacht am Jackenärmel zupfte, wurde er langsamer und versuchte, seine Schritte an meine anzupassen. „Du kannst das Spiel spielen, wenn du willst“, sagte er nach einer Pause.

„Was für ein Spiel?“

„Das Pflastersteinspiel.“

Ich hatte aufgehört, zu zählen, wie oft er heute schon gegrinst und gelacht hatte. Mittlerweile hatte ich begonnen, es nur noch zu genießen und darauf zu warten, dass ich seinen süßen unvollständigen Frontzahn sehen konnte. „Das fandest du doch so furchtbar kindisch.“ Ich musste an den Tag denken, an dem er sich über mich lustig gemacht hatte, nachdem er mich beim Pflastersteinspiel beobachtet hatte.

„Es ist auch kindisch“, sagte Ben schulterzuckend. „Aber was ist falsch daran?“

Abends gesellte sich der Fremde wieder zu uns in Bens Hotelzimmer. So fand ich endlich heraus, dass er Cagney hieß und kein Italiener war. Auch hier gab es etwas, das im Raum schwebte, dass ihn beschäftigte, stets begleitete und nicht loszulassen schien. Aber er sprach nicht darüber. Ben und Cagney spielten ein Trinkspiel, betranken sich mit billigem Schnaps und schienen minütlich Tausende Gehirnzellen abzutöten, da ihre Kommentare immer stumpfsinniger wurden.

„Wir sollten never have I ever spielen“, schlug ich ihnen vor.

Sofort flog Bens Blick zu mir. „Willst du mich herausfordern?“ Er war schon betrunken, sah aus geröteten, glasigen Augen zu mir hoch. Unbeeindruckt von seiner Fahne setzte ich mich neben ihn auf den Teppich. Im Gegensatz zu Ben schien Cagney noch nichts von dem Alkohol zu merken.

„Was ist das, never have I ever?“, fragte er interessiert. Mit dem Rücken lehnte er sich am Sofa an.

„Ich sage irgendetwas, was ich in meinem Leben gemacht habe, und ihr müsst trinken, wenn ihr es auch gemacht habt“, erklärte ich.

Ben und Cagney wechselten einen Blick und Cagney öffnete schon den Mund, um meinen Spielvorschlag abzulehnen, aber Ben war betrunken. „Sehr gut!“

Ich dachte nach und sagte: „Ich habe noch nie ... gespickt.“ Anschließend hob ich die Wodkaflasche und trank zum Zeichen, dass ich sehr wohl schon gespickt hatte. Es schmeckte furchtbar. Ich war nicht an den Geschmack gewöhnt und schüttelte mich vor Ekel. Der flüssige Alkohol fühlte sich warm und kribbelnd in meinem Magen an. Nachdem wir eine Runde durchlaufen hatten, landete die Flasche wieder bei mir und ich gab sie an Ben weiter. Er saß so nah neben mir auf dem kratzigen Teppich, dass mein Knie fast seines berührte. Fast.

Als Ben zum Zuge kam, grinste er schon verschmitzt. „Ich habe noch nie eine Prügelei angefangen! Prost!“, rief er fröhlich, hob die Flasche an die Lippen und trank um einiges mehr, als nötig gewesen wäre. Sein T-Shirt roch nach Schweiß und sein Atem nach Alkohol.

Cagney nahm ihm die Flasche ab. „Du?“, lachte er ungläubig.

Auch ich konnte mir Ben nicht in einer Prügelei vorstellen. Bei näherer Betrachtung vermittelte einem sein Körperbau nämlich eher, dass er das Weite suchte, sobald er sich in eine gefährliche Situation manövriert hatte. Ben schienen unsere Zweifel nicht im Geringsten zu interessieren. „Natürlich ich!“ Er nahm einen weiteren Schluck. Cagney und ich wechselten einen zweifelnden Blick. „Ihr glaubt mir nicht!“, bemerkte Ben beleidigt.

Ich zuckte mit den Schultern und passte, als Cagney die Flasche an mich weitergeben wollte, nachdem auch er einen kräftigen Schluck genommen hatte.

„Ich musste meinen Bruder verteidigen. Das war Ehrensache“, erläuterte Ben, obwohl niemand ihn danach gefragt hatte.

Die Flasche stand jetzt in der Mitte des Kreises, den wir gebildet hatten, und es war still im Raum geworden. Gespannt wartete ich darauf, dass Ben noch mehr erzählte. Ich stellte mir vor, wie er zu seinem Bruder hielt, wie er ihn beschützen wollte. Und plötzlich gefiel er mir noch besser. Erst als Cagney sich laut und vernehmlich räusperte, merkte ich, dass ich Ben anstarrte und sich ein bescheuertes Grinsen in meinem Gesicht ausgebreitet hatte. Ich schluckte unbehaglich und konzentrierte mich darauf, die Fusseln auf dem Teppich zu zählen, um mich nicht in weitere peinliche Situationen zu manövrieren. „Du bist dran, Cagney“, sagte ich.

Er nickte, machte aber keine Anstalten, mit dem Spiel fortzufahren. Stattdessen saß er stumm und im Schneidersitz in unserem Kreis auf dem Teppich und schaute von Ben zu mir. Dann wieder zu Ben. Zurück zu mir. Dabei sah er irgendwie fassungslos aus. Zwar wollte ich mir das nicht eingestehen, aber es kränkte mich. Es kränkte mich sehr.

Meine Mutter rief täglich an und versuchte, mich zu überreden, nach Hause zu kommen. Irgendwann begann ich, sie zu ignorieren. Ich rief sie nicht zurück und ich hörte auch die verzweifelten Nachrichten nicht ab, die sie mir auf meiner Mailbox hinterließ. Ben rief niemand an – oder ich bekam es nicht mit. Ich wusste nicht wirklich, wo ich war oder was ich eigentlich machte – aber ich fühlte mich, als wäre ich an der richtigen Stelle. Für den Moment fühlte sich dieser Zustand zu gut an, um an etwas anderes zu denken.

Als ich mit Ben darüber geredet hatte, konnte er es mit seinen Worten auf den Punkt bringen: „Was zählt, ist der Moment.“

Und wir taten Tag für Tag nichts anderes, als diesen Moment zu leben, zu lieben und zu ehren. Die Zeit, die ich mit Ben verbrachte, erschien mir kostbar. Ich versuchte, mir jede dieser wertvollen, gemeinsamen Minuten einzuprägen. Es entwickelte sich eine untypische Freundschaft zwischen uns, eine Freundschaft, die weder Worte noch große Taten brauchte. Eine Freundschaft, die daraus bestand, gemeinsam zu schweigen. Gemeinsam die wärmenden Strahlen der Sonne zu genießen, sich die Pizza zu teilen, dem Rauschen des Wassers zuzuhören und über unwichtige Dinge zu quatschen. Niemand konnte uns unsere Leichtigkeit nehmen, wir achteten schließlich selbst darauf, dass die Unbeschwertheit nie gefährdet wurde.

„Cagney und ich haben etwas verdammt Cooles gefunden“, erzählte mir Ben aufgeregt, als die zweite Woche angebrochen war.

Ich hatte Cagney seit den Trinkspielen in Bens Zimmer nicht mehr gesehen. Es interessierte mich nicht, was die beiden Tolles gefunden hatten, und ich beschränkte mich darauf, lustlos in meinem Müsli herumzurühren. „Keinen Hunger mehr?“, fragte Ben, der mich aufmerksam beobachtet hatte.

„Nicht wirklich“, gab ich zurück.

Er streckte die Hand nach der Müslischale aus und ich reichte sie ihm über den Tisch. Er hielt die Schüssel schief. Kleine Milchtropfen sprenkelten über den Holztisch. Mit vollem Mund begann er dann zu erzählen: „Wir haben versucht, ein bisschen rauszukommen aus der Stadt. Wir sind ein Stückchen gelaufen und dann ... “ Er hob die Schüssel an, um die übrig gebliebene Milch auszuschlürfen.

Stirnrunzelnd sah ich ihm dabei zu. „Und dann?“, hakte ich nach, als er nicht weitersprach.

„Das kann man nicht beschreiben“, behauptete er. „Das muss man gesehen haben. Es würde sich blöd anhören, wenn ich es dir nur erzählen würde.“

Ich lächelte. „Also?“

„Na ja … Ich denke, ich sollte dir das nach dem Frühstück zeigen.“

Wir verließen das Hostel, direkt nachdem Ben in den Gemeinschaftsräumen seinen Milchbart abgewaschen hatte. Obwohl ich am Himmel zahlreiche Schleierwolken sehen konnte, war es warm, als wir das Foyer verließen und nebeneinander auf der Straße vor unserem Hostel standen.

„Da lang“, wies Ben mich an und deutete auf einen schmalen Weg, der scheinbar ins Nirgendwo zu führen schien. Rechts und links entlang des Weges blühten Gänseblümchen und riesiger Löwenzahn, die den Anschein erweckten, dass sich niemand um die Grünflächen und das Unkraut kümmerte.

„Wohin soll das führen, wenn ich fragen darf?“

Ben schob mich einfach vorwärts, als hätte er meinen skeptischen Tonfall und meine Frage einfach überhört. Seine Hände berührten meinen Rücken, als wäre ich blind und er müsste mich führen. Die Berührungen seiner Hände an meinen Schulterblättern genoss ich, das konnte ich nicht leugnen. Komisch, wie schön solche riesigen, schwieligen Hände sein können.

„Es ist nicht weit, vielleicht zehn Minuten“, informierte mich Ben.

Im Laufen drehte ich mich zu ihm um. „Hoffentlich ist es das wert“, erwiderte ich, obwohl ich ihm vermutlich auch gefolgt wäre, wenn wir zwei Stunden hätten laufen müssen. Oder noch länger.

„Glaub mir, ich weiß, es ist das wert“, sagte Ben bestimmt.

Und ich glaubte ihm. Er führte mich den Weg entlang, bis die Rasenflächen an den Seiten endeten und ich plötzlich Lärm vernahm. Geräusche, die Autos bei schneller Geschwindigkeit machten. Fernes Rauschen.

„Pass auf!“, sagte er gespannt. Dann sah ich, wo er mich hingeführt hatte: Wir standen auf einer Autobahnbrücke. „Es fühlt sich an, als würde alles vorbeifliegen, nicht?“, fragte Ben und deutete nach unten auf die Autos und Lkw. Mit den Fingern umklammerte ich die kühlen, grün bepinselten Eisenstäbe, die uns davon abhielten, in die Tiefe zu stürzen. Unter uns rauschten die Autos auf der Straße entlang, eines nach dem anderen, in jedem Auto eine Person, ein Leben, eine Geschichte. Doch kaum hatte ich mich auf eines konzentriert, verschwand das Auto wieder.

„Wahr“, sagte ich fasziniert. Es war komisch, hier oben zu stehen, nach unten zu sehen und keinen Bezug zu den Menschen unter uns zu haben, obwohl wir nur Meter von ihnen entfernt waren und sie sehen konnten.

Ben zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich mit dem Oberkörper gegen die Eisenstäbe. Er beugte sich immer tiefer hinunter, sah den Autos entgegen und lachte leise. „Schon komisch“, sagte er und blies mir dabei den Zigarettenrauch ins Gesicht. „Schon komisch, wie schnell sie da sind – und wie schnell sie wieder verschwinden.“ Er klopfte mit dem Finger auf die Zigarette und ich beobachtete, wie sich Asche löste und langsam von der Brücke herabsegelte. Bald hatte ich die winzigen schwarz-weißen Pünktchen aus den Augen verloren. „Es ist ... gewissermaßen zu schnell“, sagte Ben.

Ich hatte keine Ahnung, was er mir damit sagen wollte. „Was meinst du?“ Mit meinem Rücken an den Stäben sank ich hinunter auf den Asphalt und streckte die Füße aus.

Er sah zu mir hinunter, blieb aber stehen und setzte sich nicht zu mir auf den Boden. „Ich meine: Es ist zu schnell, wie die Menschen sich bewegen. Sie verlieren das Wesentliche aus den Augen, sie kriegen nicht einmal mehr mit, was auf der Reise passiert, weil sie so auf das Ziel konzentriert sind. Aber hier oben ist es so, als würde die Zeit stillstehen. Aber nur für uns. Und da unten ...“ Ben deutete auf die Straße und die vorbeifliegenden Autos. „Da unten läuft sie weiter.“

Das hatte er schön gesagt, aber ich musste trotzdem lachen. „Unglaublich philosophisch, Ben“, kicherte ich. Er verdrehte die Augen, setzte sich nun doch zu mir. Ein Zentimeter näher, und unsere Knie hätten sich berührt. Die Geräusche auf der Straße waren plötzlich ganz leise, ich konnte mich nur noch darauf konzentrieren, dass ich seinen Atem hören konnte und meine Nasenflügel seinen Zigarettengeruch aufnahmen. Nach einem Moment der Stille begann Ben, sich zu räuspern. „Was ich dir eigentlich sagen wollte …“, begann er und sah mir direkt in die Augen. „... ist, dass alles vorbeigeht. Aber wir haben den Moment. Und es muss uns nicht interessieren, was sonst noch so passiert, weil es das Wichtigste ist, was hier passiert.“ Es hörte sich an wie ein Versprechen, als er das sagte.

Wie zerplatzte Seifenblasen ...

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