Читать книгу Wie zerplatzte Seifenblasen ... - Aylin Duran - Страница 7

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*

Ben

Mai

Mein Kopf lehnte an der kühlen Scheibe, der Zug war in Bewegung und die Landschaft zog im Nebel an mir vorbei. Ich hörte die anderen Passagiere nicht, konzentrierte mich ausschließlich auf die Musik, die aus meinen Kopfhörern dröhnte. Der Sitz neben mir war frei, ich hatte meine Gitarre und meine Reisetaschen darauf platziert. Als Kind hatte ich Züge, Bahnhöfe und vor allem Flughäfen geliebt. Die Aufbruchsstimmung, die Unruhe – es hatte mir immer das Gefühl gegeben, nicht weit genug wegfahren zu können. Nicht genug Städte und Länder besichtigen zu können. Nicht genug Bekanntschaften machen und nicht genug fremde Orte entdecken zu können.

Dieses Gefühl ging verloren, als ich mein Zuhause verlor. Plötzlich war mein einziger Wunsch, wieder an einem Ort anzukommen, den ich ein Zuhause nennen konnte. Anzukommen.

Der Zug wurde allmählich langsamer und hielt schließlich an. Da ich nicht wusste, wo mein Ziel lag, blieb ich einfach sitzen. Wie immer würde ich auf die Endstation warten und schließlich in die Dunkelheit stolpern. Es war jeden Tag dasselbe. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie die Sitze sich leerten. Wenn ich Zug fuhr, überlegte ich mir immer, wie wohl das Leben und der Alltag der anderen Fahrgäste aussehen mochten. Zum Beispiel das Leben der jungen, gestresst wirkenden Mutter, die ihr Kind, ein kleines blondes Mädchen, hastig den Gang entlang zerrte. Sie hatte sich einige Unterlagen unter den Arm geklemmt, während der gesamten Zugfahrt hatte sie verzweifelt versucht, sie zu lesen. Doch das kleine Mädchen hatte sie mit ihrer Puppe abgelenkt. Nun sah ich den beiden beim Aussteigen zu.

Der Bahnsteig füllte sich. Ein einsam aussehender, älterer Mann mit Gehstock stieg ebenfalls aus dem Zug aus. Ich beobachtete aus dem Zugfenster, wie sich sein zittriger Griff um seine Einkaufstüte lockerte und die Tüte zu Boden fiel. Seine Einkäufe purzelten über den schmutzigen Gehsteig. Zahnpasta, eine Packung Tomaten, Dosenmais. Das Gewürzgurkenglas zerbrach auf dem Steig, der Mann bückte sich umständlich, um alles aufzuheben und die Scherben zu beseitigen. Obwohl weitere Fahrgäste ausstiegen, half ihm niemand. Nur das kleine Mädchen lief sofort auf ihn zu, wurde dann aber gleich mahnend von seiner Mutter angesehen. Alle waren in Eile, keiner hatte Zeit. Ich fragte mich, ob der alte Mann allein lebte. Ich fragte mich auch, wo der gestresste Gesichtsausdruck der jungen Mutter herrührte.

Der Geschäftsmann, der telefonierend an den Gewürzgurken auf der Straße vorbeibalancierte, hatte bereits lichtes Haar und hielt seine Aktentasche umklammert, als würde er jeden Moment in Gefahr laufen, Opfer eines Überfalls zu werden. Während er den Bahnsteig hastig verließ, warf er den rauchenden Jugendlichen unter der Überdachung misstrauische Blicke zu. Der Zug begann, wieder zu beschleunigen, und bevor ich das Geschehen weiter verfolgen konnte, waren die Mutter, ihre blonde Tochter mit der Puppe, der wichtigtuerische Geschäftsmann, der alte Mann mit Gehstock und die rauchenden Jugendlichen aus meinem Sichtfeld verschwunden.

Die Beleuchtung im Abteil ging an, draußen dämmerte es auch bereits. Ich mochte die Dämmerung und noch mehr mochte ich die Nacht. Sie beruhigte mich. Zur Nachtzeit hatte ich nie das Gefühl, den Blicken der anderen Menschen ausweichen zu müssen. Ich fühlte mich nicht beobachtet. Ich schloss die Augen und dachte an den alten Mann. Ich fragte mich, ob er traurig war. Schließlich waren die meisten einsamen Menschen auch unglücklich. Die Lautsprecher quietschten und ich zog hastig die Kopfhörer aus meinen Ohren, um die Durchsage verstehen zu können, obwohl es mir eigentlich vollkommen egal war, eben weil mir egal war, wo und wann ich ankommen würde. Der Zug hatte zehn Minuten Verspätung.

Gerade wollte ich die Augen wieder schließen und in meine Traumwelt abdriften, um über das Leben anderer Menschen nachdenken zu können und nicht mit meinem eigenen konfrontiert werden zu müssen, da sah ich, dass mich ein Mädchen, das an der letzten Haltestelle frisch zugestiegen war, verstohlen musterte. Ohne direkten Blickkontakt herzustellen, registrierte ich ihre halblangen schwarzen Haare, die klaren blauen Augen und den glänzenden, silbernen Stecker in ihrem linken Nasenflügel. Die Füße, die in dreckigen, grauen Converse steckten, hatte sie auf ihrem Koffer abgelegt. In ihrem Schoß lag ein Buch und ich hätte nur zu gerne den Titel gelesen und mich gefragt, was für ein Mensch sie war und wo ihr Ziel lag. Stattdessen schloss ich meine Augen wieder und stellte mir vor, wie sie den Blick senkte, nach dem Buch in ihrem Schoß griff, durch die Seiten blätterte und schließlich zu lesen begann. Ich konnte nicht einschlafen, war zu aufgewühlt.

Als ich die Augen einige Zeit später wieder öffnete, nahm sie gerade einen Schluck von ihrem Coffee-to-go. Sie hatte beide Hände um den Pappbecher gelegt und sah erneut in meine Richtung, aber ich ignorierte sie. Ich konnte nicht sagen, ob sie hübsch war, ich wollte mich auch nicht mit dieser Frage beschäftigen. Ich starrte auf meine Füße, die in abgelaufenen Turnschuhen steckten. Es waren Schuhe, die meine Mutter schon vor Jahren aussortiert hätte. Schließlich merkte ich, wie sie den Kopf drehte, den Kaffee vor sich auf den Boden stellte und ihr Buch aufschlug. Da begann ich meinerseits, sie unauffällig zu beobachten. Während sie las, bildete sich eine kleine, süße Falte zwischen ihren Augenbrauen. Sie befeuchtete ihre Fingerspitze mit der Zunge, bevor sie die Seiten umblätterte. Ihre Fingernägel waren schwarz lackiert, schwarz wie ihre ungleichmäßig gelockten Haare. Sie hatte nur einen Koffer bei sich und ein graues Sweatshirt um den Griff geknotet, ansonsten konnte ich auf dem Sitz neben ihr nur ihre Handtasche ausmachen. Nun legte sie das Buch weg und sah mir direkt in die Augen. Ihre waren so blau, dass mich die Farbe beinahe irritierte. Unnatürlich, außergewöhnlich. Und irgendwie schön. Ich rechnete damit, dass sie etwas sagen würde, doch sie blieb stumm und lächelte nur scheu.

Ich wandte den Blick wieder ab und sah zum Fenster. Mittlerweile war es so dunkel, dass man die Landschaft, die draußen vorbeizog, kaum mehr ausmachen konnte. Das Zugabteil spiegelte sich in der Scheibe. Es war fast niemand mehr unterwegs, ich sah nur das lesende Mädchen und einen heruntergekommen aussehenden Mann mittleren Alters, der sich auf seinem Sitz zusammengerollt hatte und zu schlafen schien. Durch die Lautsprecher vernahm ich eine Frauenstimme, die die Endstation ankündigte. Ich seufzte. Das fremde Mädchen leerte ihren Pappbecher in hastigen Zügen, schlug das Buch zu und verstaute es in ihrer Handtasche. Als der Zug langsamer wurde und wir uns mit unseren Gepäckstücken erhoben, stand sie direkt hinter mir am Ausgang. Ich sprang auf den Bahnsteig, der in das Licht weniger Laternen getaucht war, und sah mich zu ihr um. Jetzt sah sie mich nicht mehr an, hob ihren Koffer auf die Straße und hüpfte aus dem Zug. Ich setzte mich unter die Überdachung, die abkühlende Luft brachte mich zum Frösteln. Sobald alle Menschen das Gleis verlassen hatten, fühlte ich mich ruhiger. Während ich nach meinen Zigaretten kramte, warf ich einen flüchtigen Blick auf die Uhr. 23:01 Uhr.

„Feuer?“ In der Nacht leuchtete ein Feuerzeug auf. Die Flamme erleuchtete das Gesicht des Mädchens aus dem Zug. Überrascht nahm ich ihr das Feuerzeug aus der Hand und zündete mir meine Zigarette selbst an. Sie zog ihren Koffer unschlüssig hinter sich her, bevor sie ihn schulterzuckend abstellte und sich neben mir auf einem der Stühle niederließ. Natürlich hätte ich ein Gespräch beginnen können, und die meisten Menschen hätten das in diesem Moment wohl auch von mir erwartet. Aber mir war nicht danach und ich hatte kein Problem damit, in der Dunkelheit neben ihr zu sitzen und schweigend meine Zigarette zu rauchen. Ich beobachtete, wie die Zeiger meiner Uhr von 23:01 Uhr auf 23:02 rückten. Das Mädchen strich sich die dunklen Locken aus dem Gesicht und sah in die Ferne. Entgegen meiner Erwartung, aufzustehen und sich zu verabschieden, blieb sie sitzen, noch immer ohne ein Wort zu sagen. Ich hätte sagen können, dass es schon spät war. Dass ich langsam nach Hause gehen sollte. Doch das wäre wohl eine Lüge gewesen, denn weder war es für mich spät noch musste ich nach Hause. Ich hatte kein Zuhause.

„Du bist wohl auch nicht sonderlich scharf darauf, nach Hause zu kommen, was?“, meinte sie dann unvermittelt und rutschte unbehaglich auf ihrem Sitz herum.

„Ist eine längere Geschichte“, erwiderte ich ausweichend.

Sie nickte langsam. Sie sagte nicht, dass sie Zeit habe und meine Geschichte hören wollte. Ich war froh darüber.

„Na ja, ich pack’s“, kündigte sie wenige Minuten später an. Dann hängte sie sich ihre Handtasche um die Schulter, zog ihren Koffer hinter sich her.

Ich sah ihr nach und lauschte auf das Klackern der Rädchen ihres Gepäckstücks. Zurück blieb nur der schwache Geruch ihres Parfüms. Ich blieb einfach sitzen und lauschte in die Nacht. Der Bahnsteig war vollkommen leer und die Luft weiter abgekühlt. Es war so neblig, dass ich keinen einzigen Stern erkennen konnte, als ich meinen Kopf hob und in den Himmel starrte. Dann begann es zu regnen. Die Tropfen klopften gleichmäßig auf die Überdachung, bald glitzerte der Boden vor Feuchtigkeit und schmale Rinnsale bildeten sich zu meinen Füßen. Ich war ganz ruhig, während meine Augen sich mit Tränen füllten, die ich ärgerlich mit meinem Jackenärmel fortwischte. Ziemlich lange blieb ich ganz genau dort, wo ich mich hingesetzt hatte, vermutlich bewegte ich mich nicht einmal. Stillstand. Einige Zeit verging, in der ich nicht die Kraft fand, mich aufzurichten, meine Gitarre und meine Reisetasche vom Boden aufzuheben und mich entlang des dunklen, verlassenen Bahnsteigs in Bewegung zu setzen.

Reisen war für mich immer etwas Aufregendes gewesen, das Unbekannte und Unentdeckte hatte mich fasziniert. Heute wusste ich nicht, was mich faszinierte. Wahrscheinlich war das normal. Meine Mutter hatte mir früher immer die Geschichte von Peter Pan und den verlorenen Kindern aus Nimmerland vorgelesen. Als ich erfahren hatte, dass die Kinder in Nimmerland blieben, um niemals erwachsen werden zu müssen, hatte ich mir vorgestellt, wie Peter Pan eines Nachts auch durch mein Fenster fliegen und mich mitnehmen würde, um auch mein Erwachsenwerden zu verhindern. Mein Wunsch war niemals in Erfüllung gegangen.

Diese großen Vorstellungen, die man als Kind von seinem Leben und seiner Zukunft hat, werden immer blasser und verschwinden irgendwann gänzlich, wenn die Zeit vergeht und man älter wird. Und dann geht es nicht mehr darum, etwas Großartiges zu sein oder zu erreichen. Irgendwann verabschiedet man sich von dem Gedanken, berühmt oder besonders zu sein oder die Welt verändern zu können. Denn irgendwann wacht man auf und ist weder Peter Pan noch ein Mitglied seiner niemals alternden Bande. Dann erst realisiert man, dass man niemand anderen hat außer sich selbst – und dass man irgendwie trotzdem klarkommen muss mit seinem verdammt beschissenen Leben und all den zerschlagenen Träumen, die vor einem auf dem Boden liegen wie winzige, spitze Glasscherben. Da muss man sogar noch aufpassen, dass man sich nicht blutig schneidet. Ein Geräusch schreckte mich auf. Schon wieder die Rädchen eines Koffers auf dem Asphalt, dazu hastige Schritte. Ein paar Sekunden später konnte ich den Körper der Unbekannten aus dem Zug ausmachen, der sich zögernd auf mich zubewegte. „Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll“, gestand sie leise.

„Ich weiß auch nicht, wohin ich gehen soll“, entgegnete ich.

Ihre blauen Augen sahen direkt und unverblümt in meine. Dann streckte sie die Hand aus, und meine rauen Finger umfassten ihre fast vollständig, als ich ihr die Hand schüttelte. „Ich bin Lina“, stellte sie sich vor.

„Ben.“

Fröstelnd verschränkte sie die Arme vor der Brust. Ich saß noch immer auf meinem Stuhl, sie stand vor mir in der Dunkelheit. Das war der Abend, an dem ich Lina traf. Der Abend, an dem sich alles für immer verändern würde.

Wie zerplatzte Seifenblasen ...

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