Читать книгу Wie zerplatzte Seifenblasen ... - Aylin Duran - Страница 9
Lina
ОглавлениеMai
Ich kannte ihn nicht, wusste aber trotzdem sofort, dass er mich nicht gebrauchen konnte. Eilig hatte er es trotzdem nicht. Während über ihm der Regen auf die Überdachung prasselte, hatte er die Beine lang vor sich ausgestreckt und rauchte.
„Und jetzt?“, fragte ich, als ich die Stille nicht mehr ertragen konnte. Die Laternen beleuchteten den Bahnsteig nur dürftig, umso heller leuchtete das Feuerzeug auf, als er sich eine weitere Zigarette anzündete.
„Wie, und jetzt?“ Seine dunkelbraunen Locken hätten einen radikalen Schnitt vertragen können – seine Frisur konnte nicht einmal mehr wirklich als Frisur bezeichnet werden.
„Was machen wir jetzt?“
Ben sah mich stirnrunzelnd an. „Es gibt kein wir“, stellte er dann kopfschüttelnd klar.
Schon im Zug war mir aufgefallen, wie schlaksig er war. Doch erst jetzt, als er direkt neben mir saß, erkannte ich, wie mager er tatsächlich war. Es war die Art des Magerseins, bei der man Lust bekam, ihn in der Küche einzusperren und ihm eine riesige Portion Hühnersuppe einzuflößen. Aber er war sehr groß und hatte schöne, braune Augen. Schokoladenaugen.
„Wir machen einen Deal“, erklärte Ben mir dann. Er wippte unruhig mit den Füßen, die in schmutzigen, durchgelaufenen Turnschuhen steckten. „Wir sind Partner für diese Nacht. Aber wir stellen keine Fragen.“ Er ließ die Kippe fallen und trampelte halbherzig darauf herum, obwohl der Asphalt vor Feuchtigkeit glitzerte.
Ich mochte, was er da sagte, mochte, dass er keine komplizierten Fragen stellen und keine schwierigen Gespräche beginnen wollte. Also nickte ich.
„Ja?“, vergewisserte er sich.
Ich musste lächeln, konnte nicht einmal etwas dagegen tun, meine Mundwinkel bogen sich in die Höhe beim Anblick seiner hochgezogenen, buschigen dunklen Augenbrauen über den Schokoaugen. „Ja.“
Wir schliefen nicht in dieser Nacht, doch irgendwann begannen wir, uns entgegen unserer Vereinbarung zu unterhalten. Wenn Ben sprach, dann war sein Blick stets auf den Asphalt zu unseren Füßen geheftet und er war tunlichst darum bemüht, jeglichen Blickkontakt zu vermeiden. Gab er mehr als drei aufeinanderfolgende Sätze von sich, zündete er sich, wie zur Belohnung, eine Zigarette an. Und geriet er doch einmal in einen Redefluss, dann verstummte er, sobald es ihm selbst auffiel. Es kam mir so vor, als hätte er Angst, zu viel von sich preiszugeben, obwohl wir über Belanglosigkeiten wie Zigarettenmarken und das Wetter sprachen. Viel lieber hörte er mir zu. Wenn ich sprach, lehnte er sich zurück und seine Züge wurden entspannter, die Zigarettenschachtel blieb an ihrem Platz in seinem Rucksack. Er nickte alle paar Minuten, um zu zeigen, dass er mir zuhörte.
„Kannst du spielen?“, fragte ich ihn irgendwann und zeigte auf seine Gitarrentasche.
„Die ist bestimmt total verstimmt“, wich er aus. „Wegen des Wetters. Im Zug war es warm, aber draußen ist es kalt, dann passiert es, dass ...“
„Ich weiß, was dann passiert“, unterbrach ich ihn. „Ist doch egal.“
Er zuckte mit den Schultern und machte sich an den Reißverschlüssen der Tasche zu schaffen. Wenig später zog er eine zerbeulte Akustikgitarre heraus. Seine Hände schmiegten sich an den Hals des Instruments, seine kalten Finger legten sich auf die Saiten und er begann, ein bisschen herumzuklimpern. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass du die Lieder kennst, die ich damals gespielt habe“, sagte er, ohne sein Geklimper zu unterbrechen. Seine Lippen hatten sich zu einem Lächeln verzogen, aber es war die Art von Lächeln, die einem das Herz brechen konnte. Er konnte seine Traurigkeit nicht einmal dann verstecken, wenn sich seine Mundwinkel in die Höhe bogen.
Ich verkniff es mir, sein damals als Frage zu wiederholen. Keine komplizierten Fragen. „Soll ich mich jetzt herausgefordert fühlen?“
Er antwortete nicht und stimmte einen Song an, den ich in der Tat noch nie in meinem Leben gehört hatte. Es gefiel mir, wie er spielte, wie er die Augen geschlossen hielt und den Bahnsteig und den Rest der Welt zu vergessen schien. Ich sah, wie er die Saiten mit seinen rauen Fingern berührte, wie er in den Klängen zu versinken schien. Wenn er spielte, schien seine innere Unruhe zu verschwinden, sie wurde davongetragen von den leisen Gitarrentönen.
Während er die Augen geschlossen hielt, konnte ich sein Gesicht beobachten. Die dunklen Bartstoppeln am Kinn, die spröden Lippen. Den Blick wandte ich erst von ihm ab, als er das Lied beendet hatte und seine Augen wieder aufflogen.
„Und? Kannst du mir sagen, wie das Lied heißt?“, fragte er dann. Ich schüttelte den Kopf. „Hab’ ich mir gleich gedacht“, sagte er, schien aber dennoch enttäuscht.
„Was soll das denn jetzt heißen?“
Er ließ sich Zeit dabei, seine Gitarre wieder einzupacken. „Ich hab’s, ehrlich gesagt, nicht anders erwartet“, antwortete er dann schulterzuckend. „Ich hab dir schon angesehen, dass du keinen guten Musikgeschmack hast.“
„Wow, danke. Ich konnte dir auch nicht angesehen, dass du ein Arschloch bist. Aber jetzt weiß ich es“, feuerte ich empört zurück. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Ben sich ein winziges Grinsen nicht verkneifen konnte.
„Nirvana. Lithium“, klärte er mich schließlich auf.
Ich traute mich nicht, etwas zu erwidern – schließlich wusste ich nicht einmal, ob Nirvana der Name der Band oder der Name des Liedes war.
„Nirvana ist nicht nur der Name der Band. Das Wort kommt aus dem Buddhismus. Es ist die Erlösung aus dem ewigen Kreislauf des Lebens“, erklärte mir Ben.
„Erlösung?“
„Buddhisten glauben, dass nach jedem Tod eine Wiedergeburt folgt – als Tier oder als Mensch.“
„Also kann man theoretisch alles sein? Ein Adler, ein Delfin, ein Schmetterling?“
Er nickte, aber sein Blick zeigte mir, dass ich ihn nicht wirklich verstanden hatte. „Das ist nicht das Schöne. Das Schöne ist, dass man sich hocharbeiten und irgendwann aus dem Kreislauf entlassen werden kann. Und das ist das höchste Glück.“
„Das verstehe ich nicht. Das Leben ist doch etwas Schönes. Man freut sich doch, am Leben zu sein“, widersprach ich ihm. Die Vorstellung, höchstes Glück nur durch den endgültigen Tod erleben zu können, fand ich ziemlich bescheuert.
Ben schien meine Gedanken lesen zu können und betrachtete mich mit hochgezogener Augenbraue. „Das Leben ist nicht immer schön, Lina.“ Damit brachte er mich zum Schweigen.
Aus dem Augenwinkel betrachtete ich seine buschigen Augenbrauen und seine ernsten Züge und fragte mich, was ihm zugestoßen war. Warum er – genauso wie ich – mitten in der Nacht hier am Bahnhof saß und nicht einfach nach Hause ging. Natürlich fragte ich nicht. „Ich wäre gerne eine Möwe“, sagte ich in die Stille.
Ben verzog das Gesicht. „Möwen fressen Fisch und stinken“, gab er zurück, während er den Blick starr geradeaus gerichtet hielt.
Es nervte mich, wie er die Dinge sah. So ... falsch. „Möwen können fliegen. Sie leben am Meer. Möwen sind frei.“
„Nichts und niemand ist frei“, sagte er leise. „Du bist naiv.“
„Was wärst du denn gerne?“, fragte ich patzig, genervt von seiner Schwarzmalerei.
Er musste nicht einmal darüber nachdenken, was er gerne wäre. „Nichts und niemand“, gab er sofort zurück. „Jemand, der den Nirwana-Status erreicht hat.“
Es war definitiv nicht einfach, sich mit ihm zu unterhalten. Zwar konnten wir miteinander reden, aber sein ständiges Bedürfnis, mich zu belehren oder mir meine Naivität vorzuhalten, ging mir gehörig auf die Nerven. Je pessimistischer und schwarzmalerischer er redete, desto mehr interessierte mich seine Geschichte. Desto mehr interessierte ich mich für ihn. Ich mochte seine Stimme und bat ihn, mir Lithium vorzusingen, aber er weigerte sich. Als ich ihn aufforderte, mir wenigstens ein paar Zeilen vorzusprechen oder mir zu erklären, worum es in dem Lied ging, ließ er sich breitschlagen.
Er dachte lange nach und ging die Zeilen im Kopf durch, bevor er sich aufrecht hinsetzte und tief Luft holte. „Ich schätze …, dass es um eine Person geht, die sehr gläubig ist. Gott gibt der Person Halt, nicht die Menschen auf der Welt. Und damit arrangiert sich die Person. Ihr Glaube hilft ihr dabei, nicht zu zerbrechen.“
Ich schob die Unterlippe vor. „Hört sich sehr traurig an.“
„Es könnte schlimmer sein“, kommentierte Ben mit einem weiteren Schulterzucken. „Die Person wird durch ihren Glauben beschützt. Bist du gläubig?“
Darüber musste ich nachdenken. Ich war Protestantin, hatte auch meine Konfirmation über mich ergehen lassen, aber ob ich mich deshalb als gläubig bezeichnen würde, wusste ich nicht. „Ich weiß es nicht“, gestand ich.
Er nickte langsam. „Versteh’ ich. Es gibt einfach zu viel auf diesem Planeten, das keinen Sinn ergibt. So viele Dinge passieren ... furchtbare Dinge ... manchmal denke ich, Gott muss ein Monster sein. Oder es gibt keinen Gott. Ach, ich weiß es nicht.“
Zu diesem Zeitpunkt füllte die Schwärze den Raum um uns aus, die Laternen waren für wenige Stunden erloschen, Ben und ich saßen in gänzlicher Dunkelheit. Wenn er sein Feuerzeug aufflammen ließ, musste ich die Augen zusammenkneifen, weil mir das spärliche Licht zu hell erschien.
Bens Nervosität schien nicht abzunehmen – das erkannte ich daran, dass er andauernd sein Feuerzeug anknipste, ohne sich eine Zigarette anzuzünden, und dann wie ein spielendes Kind darauf herumdrückte und Schatten auf den Boden projizierte. Er war ein komischer Vogel, aber obwohl wir meist stumm nebeneinander saßen, war die Stille nicht unangenehm. Ich war froh, dass er da war. Als Ben merkte, dass ich schläfrig wurde und mir die Augen zufallen wollten, hantierte er wieder an den Reißverschlüssen seiner Gitarrentasche herum. Es war ein langer Tag gewesen, an dessen Anfänge ich nicht zurückdenken wollte. Ich verdrängte jeden Gedanken, der von Gesprächen mit Ben auf dem regennassen Bahnsteig abwichen, und Ben half mir dabei, als er wieder zu spielen begann.
„Was hörst du?“, fragte er, während seine schwieligen Hände bei dem Versuch, seine Finger warm zu halten, unaufhörlich die Saiten streichelten und Klänge erzeugten.
Ich hatte keine Ahnung von Musik, keinen eigenen Musikgeschmack. Ich hörte eben, was alle hörten. Das, was modern war und es in die Charts schaffte. Aber irgendwie wollte ich ihm das nicht sagen. Ich wollte nicht preisgeben, wie normal – wie wenig besonders und langweilig – ich war. Denn ich wusste sofort, dass Ben anders war. Und dass es mir gefiel. Aber ich fand nicht nur seinen Musikgeschmack interessant, ich interessierte mich dafür, wie er zu seinen Ansichten gekommen war, traute mich allerdings nicht, ihn danach zu fragen. Obwohl ich nicht alles, was er von sich gab, unterstützen oder verstehen konnte, mochte ich es, dass er eine eigene Meinung hatte.
„Grouplove?“, fragte er, während er einzelne Saiten langsam anschlug, um mir so die Möglichkeit zu geben, das Lied zu erkennen.
„Nie gehört.“
Außer den einzelnen Anfangstönen, die Ben gespielt hatte, hörte sich das Lied nicht traurig an. Die Akkorde flossen ineinander, es war ein schöner Song, schöner als Lithium, aber wahrscheinlich konnte ich das gar nicht beurteilen.
„Itching on a photograph“, gab Ben bekannt und öffnete die Augen einen winzigen Spalt. „Da ist eine Fotografie, aber sie ist alt und vergilbt, eigentlich ist die Zeit also längst vergangen. Die Person ist wehmütig, aber sie weiß, dass es Zeit ist … Zeit ist, loszulassen.“ Während er sprach, wurde seine Stimme immer leiser, bis ich ihn kaum mehr verstehen konnte. Sein Blick schweifte ab ins Nirgendwo und ich sah diese furchtbare Traurigkeit ganz deutlich in seinen Schokoaugen, eine Traurigkeit, die auf ihm lag, ihn niederdrückte und ihn plötzlich vollkommen erfasst zu haben schien. Wie ein Schatten.
„Es tut mir leid. Ich wollte nicht …“
Sein Blick wurde verschlossen. „Hast du auch nicht.“
Wir schwiegen uns an, bis die ersten zaghaften Sonnenstrahlen unsere durchgefrorenen Körper wärmten. Ben packte seine Sachen zusammen, während ich sitzen blieb und in die Sonne blinzelte.
„Wohin gehst du jetzt?“, fragte ich ihn zögernd.
Er stand mit dem Rücken zu mir, seine Locken standen in alle Richtungen ab, sein Pullover war zerknittert. Er antwortete, ohne sich zu mir umzudrehen: „Ein billiges Hotel suchen. Schlafen.“ Seine Stimme klang rau und erschöpft.
Gerne hätte ich auch einen Plan gehabt, was ich in dieser fremden Stadt jetzt tun sollte, aber ich hatte keinen blassen Schimmer. Hatte meinen Koffer gepackt, war in einen Zug gestiegen, aber all das war eine Kurzschlussreaktion gewesen. Weil ich wegmusste, Distanz schaffen musste zwischen mir und … nein. Ich wollte nicht an das denken, was ich gesehen hatte. Schließlich war ich gekommen, um zu vergessen.
„Kann ich mitkommen?“, hörte ich meine eigene Stimme wie aus weiter Ferne fragen.
Ben fuhr herum und schien mich zum ersten Mal wirklich zu sehen. Mich anzusehen. Auf seinem Gesicht machte sich ein verwirrter Ausdruck breit, dann öffnete er den Mund, schloss ihn jedoch wieder, ohne meine Frage beantwortet zu haben. Schnell schüttelte ich den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben.
„Stell’ dich nicht hilfloser dar, als du es bist“, schalt ich mich leise. Er war ein Fremder. Es reichte, dass ich mich die ganze Nacht mit ihm am Bahnhof herumgetrieben hatte. „Blöde Idee“, sagte ich. „Vergiss sie.“ Ich stand so hastig auf, dass ich stolperte. Ich spürte seine Blicke im Rücken, als ich begann, meine Taschen zusammenzusuchen. Ich vermied es, ihn anzusehen.
„Klar kannst du mitkommen“, hörte ich Ben sagen. „Ich meine … ich kann es dir nicht verbieten, die Bürgersteige zu benutzen, oder?“
Ich wusste, dass er grinste, obwohl ich ihm den Rücken zukehrte. „Bist du dir sicher?“, fragte ich, doch im selben Moment ärgerte ich mich bereits über die Unsicherheit in meiner Stimme und bereute es, gefragt zu haben.
Ben schulterte seine Gitarrentasche und seufzte. „Du kannst mitkommen oder hierbleiben. Es ist mir egal, was du machst, verstehst du?“