Читать книгу Die Kristallelemente (Band 2): Die türkise Seele der Wüste - B. E. Pfeiffer - Страница 14
Kapitel 6
ОглавлениеEs war noch finster in meinem Zimmer, als mich ein heftiges Klopfen weckte. Benommen tastete ich nach Maron, der schnarchend neben mir auf dem Kissen lag. Ihn würde wohl wirklich nichts aus dem Schlaf reißen.
Erneut klopfte es, noch stärker als beim ersten Mal. »Ich komme ja gleich, Viola«, murmelte ich und schwang die Beine aus dem Bett.
Gähnend schlüpfte ich in meine Arbeitskleidung, als es wieder klopfte. Verwirrt starrte ich zur Tür und dann zum Fenster. Das Geräusch war eindeutig von den Fensterläden gekommen. Ich schluckte und fuhr zusammen, als jemand an der Holzverkleidung rüttelte.
»Maron?«, wisperte ich, aber das Eichhörnchen reagierte natürlich nicht.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals, während ich langsam zum Fenster schlich.
»Vielleicht ist es nur der Wind«, machte ich mir selbst Mut und überlegte, womit ich mich für den Fall der Fälle bewaffnen konnte.
Ich griff nach einem schwer aussehenden Kerzenhalter und umfasste ihn mit einer Hand, legte die andere an die Verriegelung des Fensterladens. Hatte ich den Verstand verloren, das Ding zu öffnen? Offensichtlich, aber ich musste mich vergewissern, dass nicht doch jemand versuchte, in mein Zimmer einzudringen.
Zitternd schob ich die Verriegelung weg und riss die hölzerne Verkleidung auf. Still lag die Stadt, über die ich von meinem Fenster aus blicken konnte, vor mir. Nichts deutete darauf hin, dass jemand versucht haben könnte, bei mir einzusteigen.
Trotzdem streckte ich den Kopf aus dem Fenster und bereute es sofort. Eisige Hände legten sich an meine Wangen und etwas, das wie eine Geistergestalt aus schwarzem Nebel aussah, starrte mir mit tiefroten Augen ins Gesicht.
Kreischend ließ ich den Kerzenhalter fallen und umklammerte den Fenstersims, als das schauderhafte Wesen an mir zu zerren begann.
»Lass mich los!«, brüllte ich es an, aber es hielt in seiner Bewegung nicht inne.
Erst da bemerkte ich, dass der Himmel, den ich für wolkenverhangen gehalten hatte, von diesen Kreaturen verfinstert wurde. Sie trieben in einem Strudel unendlich vieler körperloser Gestalten über der Stadt, bis sich eines der Wesen löste und wie ein Pfeil herabschoss. Wie Blitze ging so Wesen um Wesen nieder, jedes zielte auf ein Haus und drang in ein Fenster ein, aus dem sofort Schreie zu hören waren.
Aber nirgendwo kämpfte ein Geistergeschöpf mit einem Menschen, nur ich wurde von diesem Wesen gefangen gehalten.
»Was willst du?«, schluchzte ich und kreischte, als es wieder an mir riss.
Lange würde ich mich nicht mehr festhalten können und dann zu Boden stürzen. Vermutlich würde ich den Sturz überleben, aber ich wusste nicht, was dann mit mir geschah. Ob dieses Geistergeschöpf mich töten würde?
Mir war, als würde das Wesen grinsen, während es noch fester an mir riss. Meine Füße verloren den Halt zum Zimmerboden und ich schrie angsterfüllt, weil auch meine Hände sich zu lösen begannen.
Gedanklich schloss ich mit meinem Leben ab und erwartete den Sturz, aber er kam nicht. Denn ein weiteres Geisterwesen war vom Himmel herabgeschossen und legte seine unförmigen Hände an den Hals jener Kreatur, die mich gepackt hatte.
Kreischend fuhr mein Angreifer herum und ließ mich los. Es hob seine klauenförmigen Hände und begann, mit dem anderen Geschöpf zu kämpfen. Einen Moment beobachtete ich den seltsamen Kampf und bemerkte, dass jenes Wesen, das sich auf meinen Angreifer gestürzt hatte, ein funkelndes Armband trug.
Ich blinzelte und versuchte, mich wieder in das Zimmer zu schieben. Mein Körper zitterte heftig vor Angst und Anstrengung. Ich hing nur noch mit den Unterschenkeln im Zimmer und ruderte mit den Armen, um nicht abzustürzen.
»Oriana!«, keuchte Maron, sprang auf meine Beine und zog verzweifelt daran, um mich zu halten. »Ich schaffe es nicht!«
»War doch klar«, brummte Viola und ich hörte ihr Flügelschlagen.
Hände umfassten meine Hüften, ich wurde wieder in das Zimmer gezogen. Die Eule fegte mit ihren Schwingen die Fensterläden zu und Maron kletterte hinauf, um sie zu verriegeln.
»Dem Sonnenlicht sei Dank, dass dir nichts geschehen ist«, stieß die Madame, die mich hineingezogen hatte, aus und ließ mich los. Ihr Gesicht war kreidebleich, und Schweißperlen glänzten auf ihrer Stirn. »Ich fürchte, ich habe die Situation falsch eingeschätzt.«
»Was war das?«, hauchte ich und blickte die Madame an.
Ihre grauen Haare fielen ihr unordentlich in die Stirn und sie rang immer noch um Atem.
»Das, Oriana, ist der Fluch Sarabors«, antwortete Viola statt Madame Cremant.
»Still, sie ist noch nicht so weit«, zischte die Madame.
Ich konnte bereits fühlen, wie ihre Magie über meine Haut kroch und ich ruhiger wurde. »Nein!«, sagte ich flehentlich. »Bitte, ich will nicht einfach schlafen und nichts empfinden. Ich möchte, dass Sie es mir erklären!«
»Oriana, hier sind Mächte am Werk, die du noch nicht verstehst. Und im Moment …«
»Wie soll ich nicht ständig in Angst leben, wenn Sie mir nicht sagen, was hier vor sich geht?«, schluchzte ich. »Bitte, ich will nicht wieder durch Magie ruhiggestellt werden. Sagen Sie mir, was hier passiert ist!«
Die Madame musterte mich, dann seufzte sie. »In Ordnung, ich erzähle dir alles, was ich über den Fluch Sarabors weiß. Aber nicht hier.« Sie stand auf und schwankte leicht. »Komm, wir gehen in den Laden.«
Ich schüttelte den Kopf. »Diese Wesen werden uns im Garten angreifen!«
»Nein, das werden sie nicht«, widersprach die Madame. »Der Schutz hält sie fern. Er hat auch verhindert, dass sie in dein Zimmer vordringen konnten, bis du das Fenster geöffnet hast. Ich hätte nie erwartet, dass sie so weit gehen würden, weil meine Magie sie eigentlich bannt.«
»Ich wäre gefallen«, murmelte ich und zog mich an meinem Bett hoch. »Wenn das eine Geisterwesen das andere nicht angegriffen hätte, wäre ich gestürzt, bevor Sie mir hätten helfen können.«
»Eines der Wesen … hat ein anderes angegriffen?«, hakte die Madame mit bebender Stimme nach.
»Ja, es hat sich nicht auf mich gestürzt, sondern auf jenes Wesen, das mich hinausreißen wollte.«
»Eigenartig«, meinte die Madame und fuhr sich durch die offenen Haare. »Wie auch immer. Sie können uns im Garten nichts anhaben und ich brauche etwas Magie, um dir alles zu erzählen.«
Sie ging zur Tür, öffnete sie und spähte hinaus, als wäre sie sich doch nicht sicher, ob ihr Schutzzauber wirkte. Viola flog an ihr vorbei in die ungewohnt kühle Nachtluft, während Maron auf meine Schulter kletterte.
»Geht es dir gut?«, fragte er. »Als ich bemerkt habe, was los ist, habe ich sofort die Madame gerufen. Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.«
»Schon gut«, erwiderte ich schwach. »Ohne deine Hilfe wäre ich vermutlich aus dem Fenster gefallen. Und ja, es geht mir gut, danke der Nachfrage.«
Maron lehnte seinen kleinen Kopf an meine Wange, während ich schwankend die Treppen hinabstieg. Ich wagte nicht, den Blick nach oben zu heben, aus Angst vor dem, was ich sehen würde. Schreie hallten durch die Nacht und ließen mich schaudern. Was auch immer diese Wesen waren, sie schienen die Menschen zu quälen. Ob man ihnen irgendwie helfen konnte?
Als ich die Küche betrat, brannte bereits ein Feuer, über dem die Madame Milch erhitzte. Viola beobachtete sie mit ihren gelben Augen dabei und plusterte ab und zu ihre Flügel auf.
»Es war noch nie so schlimm wie in dieser Nacht«, murmelte die Madame, während sie Schokolade in die Milch rührte und ein silbriges Pulver hinzufügte. »Ich weiß nicht, wie lange wir die Hoffnung noch bewahren können.«
»Du wirst eben älter, Cremant«, krächzte Viola. »Wir haben viel zu lange gewartet, um eine Schülerin aufzunehmen.«
»Es gab niemanden«, erwiderte die Madame. Langsam fragte ich mich, ob sie vergessen hatte, dass ich mich ebenfalls im Raum befand. »Du weißt, dass ich jedes Jahr den Suchzauber ausgesandt habe. Er kam immer ohne Ergebnis zurück. Bis jetzt.« Sie hob den Blick und sah mich flüchtig an, dann konzentrierte sie sich wieder auf das Getränk auf dem Herd. »Sie ist eigentlich noch zu jung, Viola.«
»Aber sie kann es schaffen. Denk an die Legende, Cremant. Jemand muss die Hoffnung am Leben halten, sonst ist Sarabor verloren.«
Ich räusperte mich und tänzelte unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Draußen wurden die Schreie schwächer und das Licht des Mondes schien durch ein Fenster im Hof zu uns herein.
»Es ist vorbei«, murmelte die Madame und zog den Topf vom Herd. Sie goss eine cremige Flüssigkeit in zwei Becher und stellte sie auf ein Tablett. Mit dem Kopf bedeutete sie mir, ihr zu folgen, und ging in den Verkaufsraum.
Wir ließen uns an einem kleinen Tisch nieder und die Madame schob mir eine Tasse hin, bevor sie ihre eigene in die Hände nahm und gedankenverloren hineinstarrte.
Maron klammerte sich immer noch an mir fest, schnüffelte nur ein wenig an dem Getränk. Viola saß auf der Rückenlehne jenes Sessels, auf dem die Madame Platz genommen hatte, und betrachtete mich.
»Was weißt du über die Kristallelemente?«, durchbrach die Stimme von Madame Cremant die Stille.
Ich schüttelte den Kopf. »Dieses Wort habe ich noch nie gehört.«
»Also weißt du auch nichts über das Kristallherz?«, hakte Viola nach.
»Nein. Sollte ich etwas darüber wissen?«
Die Madame schwieg und starrte wieder in ihren Becher. Dann stieß sie den Atem aus. »Nein. Es ist eine uralte Legende, so alt wie die Welt selbst. Von mächtiger Magie und Habgier und einem großen Opfer. Denn das Kristallherz gab sich selbst auf, um die Welt vor der Dunkelheit der schwarzen Seele zu schützen. Es zerfiel in vier Elemente, die über alles Leben wachten.«
Maron bibberte auf meiner Schulter. Ich fischte ihn herunter und legte ihn auf meinen Schoß, wo er sich wie ein Wollknäuel einrollte und sein Gesicht mit dem Schweif bedeckte.
»Mit den Jahren wurden die Elemente schwächer, und Flüche breiteten sich aus. Ich weiß zu wenig über jene Flüche, die andere Teile der Welt bedrohen. Aber ich kenne jenen, der über Sarabor liegt.«
»Diese Wesen sind … der Fluch?«, fragte ich vorsichtig, als die Madame wieder schwieg.
»Sie sind ein Teil davon«, bestätigte die Madame. »Man nennt sie Traumfresser und sie sind ruhelose Seelen, die nachts umherstreifen müssen, um sich von den schlimmsten Ängsten, geboren aus Träumen, zu ernähren. Dabei verderben sie die Seelen der Menschen, in deren geheimste Gedanken sie schlüpfen.«
Ich schauderte und klammerte mich an dem Becher fest.
»Aber die Magie, die ihr hier wirkt, hält sie auf«, fügte Viola hinzu und betrachtete mich eindringlich. »Deswegen ist es wichtig, dass du alles lernst. Denn du wirst es eines Tages sein, die diese Aufgabe alleine ausführen muss.«
»Ich?«, keuchte ich und ließ dabei meinen Becher sinken.
Der Inhalt ergoss sich auf dem Boden. Ich hob die Tasse hastig wieder an und stellte sie auf den Tisch.
»Ja, du«, seufzte die Madame. »Die Magie aus Dundra ist es, die der Schokolade und dem Gebäck einen besonderen Zauber verleiht. Was in unserer Heimat verboten ist, wird hier verehrt. Sarabor braucht die Hoffnung und wir sind diejenigen, die sie den Menschen schenken.«
Sie stellte ihre Tasse ebenfalls ab und griff über den Tisch hinweg nach meiner Hand.
»Oriana, ich habe es vorhin erwähnt. Du bist seit Jahren die Einzige, die ich für diese Aufgabe auch nur in Betracht ziehen konnte. Nur dich hat der Suchzauber in vielen Jahren vor meine Tür geführt.« Die Madame seufzte erneut. »Ich kann deine Kräfte spüren und ich weiß, dass du vielen Menschen helfen wirst, wenn du das wünschst. Für gewöhnlich müsste ich dir ein halbes Jahr Zeit geben, zu lernen, und dich dann erst fragen, ob du bei mir bleiben willst. Aber in Anbetracht dessen, was heute geschehen ist, will ich dir diese Frage jetzt bereits stellen.«
Sie straffte die Schultern und wandte sich Viola zu. Die Eule schien zustimmend zu nicken, obwohl die Bewegung kaum zu erkennen war.
»Wenn du dieses Versprechen einmal gegeben hast, ist es bindend, solange ein Fluch auf Sarabor liegt. Deswegen frage ich dich, Oriana aus Singul, willst du an meiner Seite bleiben und mir helfen, den Menschen von Sarabor Hoffnung zu geben?«
Mein erster Impuls war ein klares Nein. Ich wollte nicht in diesen Fluch hineingezogen werden. Die Traumfresser stellten abscheuliche Dinge mit den Menschen an und je weiter weg ich mich von ihnen befand, umso besser.
Aber dann dachte ich nach. An die Menschen, die hier litten. Obwohl die Stadt glänzte und reich war, gab es auch Elend. Allein wenn ich an die Augen des Jungen vom Markt oder des Mädchens, das meine Kleidung gebracht hatte, dachte, wusste ich, dass ich nicht einfach wegsehen konnte.
Ich betrachtete das Gesicht der Madame, die ihre Lippen zu schmalen Strichen zusammenpresste und mich beobachtete. Dann sah ich Maron an, der sich entrollt hatte und mich aufmerksam musterte. Es kam mir vor, als würde auch er nicken, wie Viola es vorhin getan hatte.
Einen Moment schloss ich die Augen und konnte nicht fassen, was ich bereit war, zu riskieren. »Ich werde an Ihrer Seite bleiben«, sagte ich und hob die Hand, als die Madame mich lächelnd umarmen wollte. »Aber unter einer Bedingung. Ich will alles über diesen Fluch wissen und möchte nie wieder durch Magie von Ängsten befreit werden.«
»Einverstanden.« Die Madame nickte. »Aber jetzt sollten wir zu Bett gehen. Ich werde dir morgen alles erzählen, was ich weiß.«