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1. Herbsttag

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B. G. Bernhard

Auch dunkle Wolken haben einen Silberstreif



Buch

Episoden des Alltags einer Familie in Ostdeutschland, besonders während der Wendezeit, sind mit der Arbeitswelt des in Dresden beheimateten Pharmazeuten Thalheim zu einem epischen Ganzen verwoben.

Unterordnung und Aufbegehren prägen den Alltag. Freizeitaktivitäten, liebevoll-gestaltete Familientreffs, Momente des Glücks, familiäre Harmonie sind der Gegenpol und bleiben anhaltend in Erinnerung angesichts des hereinbrechenden Zusammenbruchs und der Entwurzelung.

Der Riss der Zeit geht auch durch den Protagonisten selbst. Weltenwechsel. Wohin treibt es ihn? Er wird mit der Realität der alternativen Ordnung konfrontiert. Wird er die Herausforderungen in einer ihm fremden Welt meistern?



Inhaltsverzeichnis



Das Einzige, wonach wir mit Leidenschaft trachten,

ist das Anknüpfen menschlicher Beziehungen“ Ricarda Huch

Der Wecker mit dem dosenförmigen, runden Gehäuse riss zur eingestellten Weckzeit mit seinem schnurrenden Geräusch die Ruhenden aus dem Schlaf. Ulrich verließ zügig sein Bett und ging ins Bad. Durch die Badtür drangen die Nachrichten aus dem kleinen Badradio: Die Leipziger Kristin Otto errang in der 100-m-Freistildistanz eine weitere olympische Goldmedaille für den ostdeutschen Staat, der nun in Söul eine fantastische Bilanz mit 25 Gold- und 19 Silbermedaillen zu verzeichnen habe – Bayerische Abgeordnete waren bei Dresdner Wissenschaftlern an der TU zu Gast.

Sonja verweilte noch auf der Bettkante. Verschwimmende Erinnerungen an einen Traum zogen gedanklich vorbei. Sie bildete sich ein, etwas über ihre unbewusste Gedankenwelt erfahren zu können. In den Traumfetzen war sie in einer parkähnlichen Landschaft mit Vogelgezwitscher auf einer Parkbank wie festgenagelt. Sie wollte zu einer Demonstration, konnte aber nicht aufstehen. Ein häßlicher Hund mit fletschendem Maul stürmte auf sie zu, danach gingen fünf Männer mit Hut im Wettermantel vorbei und musterten sie. Dann kamen Demonstranten entgegen und berichteten. Der oberste Lenker des ostdeutschen Gemeinwesens und ebenso die Ministerin für Volksbildung mit den violett gefärbten Haaren seien abgesetzt worden.

Unwillkürlich gingen ihre Gedanken zu ihrem Unterricht an diesem Tag über. Eine Hospitation war angekündigt.

Sie streifte ihren Bademantel über und ging zum Fenster und schob den Store zur Seite. Beim Blick durchs Fenster nahm sie die verschiedenen Farben der Blätter an den Bäumen wahr. Ein Wechsel vom Grün zum Rotbraun begann. Frühherbst. Der Himmel war blau. Es schien ein sonniger Tag, ein strahlender Herbsttag zu werden.

Aus dem Kinderzimmer ertönte Radiomusik. Tochter Katja war munter, blieb aber noch im Bett. Sonja ging hinein und mahnte, sie solle aufstehen.

Katja las eine Geschichte. Sie müsse noch zu Ende lesen. Sie wolle wissen, wie es ausginge. Sie solle nachmittags weiterlesen. Nein, da müsse sie den ganzen Tag über daran denken. Sie kamen überein.

Die Kurzmeldungen aus dem Küchenradio informierten, dass der Alkoholverbrauch in Ostdeutschland zweieinhalbfach höher sei als im Westen - ein farbiger kanadischer Sportler bei den olympischen Spielen werde wahrscheinlich disqualifiziert, weil in seinem Urin Anabolika nachgewiesen wurden. Sonja ging durch den Kopf, was wohl die Gründe für den aus den ärmsten Schichten kommenden Farbigen gewesen sein könnten: männlicher Größenwahn, übertriebener Ehrgeiz?

Katja kam rechtzeitig in die Küche und setzte sich auf einen Hocker an den selbstgefertigten Essplatz am Fenster. Ulrich löffelte den Rest seiner Haferflockensuppe und putzte Zähne,

Wenn er morgens in den Spiegel schaute, um seinen Scheitel zu ziehen, fielen ihm täglich die Falten von den Nasenflügeln zum Mundwinkel auf. Er war eitel. Um der Zunahme der Faltenbildung entgegen zu wirken, griff er abends in den Cremetopf seiner Frau und trug eine dicke Cremeschicht auf. In Abständen beschwerte sich seine Frau, dass der Überzug des Kopfkissens rasch speckig würde. Er solle überlegen, dass dünne Cremeschichten auch ihre Wirkung entfalteten. Nach dem Badzeremoniell zog er eine Jacke über, gab beiden einen Abschiedskuss und verließ die Wohnung.

Katja stellte sich am Radio Musik vom Sender DT 64 ein. Während des Essens schaute sie aus dem Fenster. Auf der Straße sah sie Herrn Zietschmann vom Erdgeschoss, wie er mit seinem Hund aus dem Haus kam. Radfahrer fuhren vorbei.

Beim Frühstück fragte Sonja, welche Fächer an diesem Tag auf dem Plan stünden. Staatsbürgerkunde, aber dies sei ein doofes Fach, sagte Katja. Sie hasse es. Olaf in der Klasse melde sich häufig. Er erhalte von der Lehrerin vielfach Lob für seine Antworten. In der Pause prahle er, dass er eine ganz andere Meinung habe. Er brauche aber gute Zensuren, er wolle studieren. Katja fragte ihre Mutter, ob sie nachmittags mit Grit Eisessen gehen dürfe. Bejahung. Sonjas Frage, ob alle Schulutensilien in der Schultasche seien, antwortete Katja mit mürrischem, bejahendem Unterton. Sonja drängte zum Gehen. Sie müsse als Lehrerin pünktlich sein. Gemeinsam verließen sie die Wohnung. Auf der Treppe musste Katja noch mal zurück in die Wohnung, weil sie vergessen habe, ihr Deutschbuch einzupacken. Sonja wartete geduldig. Klug gab sie keinen Kommentar. So bestand wieder Einigkeit.

An der Haustür begegneten sie Frau Mehnert aus dem Erdgeschoss. Beidseitig freundlicher morgendlicher Gruß.

Auf dem Weg zur Schule ging Sonja die angekündigte Hospitation in der Deutschstunde, wie sie politische Fragen in den Unterricht einbeziehe, durch den Kopf. Sie musste an Katjas Einwurf während des Frühstücks denken. Sie wusste, dass viele Eltern unschlüssig waren, was sie ihren Kindern zu deren Agieren in der Schule empfehlen sollten. Die Zwei-Gesichter-Problematik schien viele Leute ständig zu beschäftigen. Nach Alkohol kam sie bei vielen besonders zum Vorschein.

In Sichtweite der Schule trennte sich Katja von ihrer Mutter und ging allein den restlichen Weg.

Herrn Zietschmanns Hund Lucky war bereits um den Häuserblock gerast. Seinen Drang nach Freiheit, nach eigenwilliger, nicht fremdbestimmter Gestaltung der täglichen Aktivitäten konnte Zietschmann sehr gut verstehen und nachempfinden. Der Hund wartete am Räcknitzer Weg.

Hier kam früh immer Jonas, der Kumpel mit der Hündin Amy. Sie warteten bereits. Während sich die Männer im gesetzten Alter die Hand gaben, begrüßten sich die Hunde, indem sie höflich an ihren Hinterteilen schnupperten. Lucky, ein Appenzeller der Schweizer Sennenhundgruppe war etwas größer als Amy, die als Entlebucher ebenfalls zu den Sennenhunden zählte. Mit ihrer gleichen Dreifarbigkeit – schwarz, weiß, gelb-bräunlich - waren sie kaum zu unterscheiden. Beide waren sehr lebhaft und temperamentvoll. Flink sausten sie über die Räcknitzhöhe, durch den Garagenkomplex den Hang hinauf zur eingefallenen Scheune des denkmalgeschützten Bauerngutes. Dieser Ort wurde von vielen Hunden aufgesucht und markiert. Die Männer postierten sich aufgrund der milden trocknen Witterung auf ihren Sitzunterlagen am Hang und philosophierten über die Welt.

Die Hunde rasten um Scheunenwände, durch die Kleingärten bis zur Endstation der Straßenbahn unterhalb der Südhöhe, wo andere Vierbeiner Markierungen am Wartehäuschen hinterließen. Dort kehrten sie um und kamen zu ihren Herren zurück. Die tägliche Begegnung verband nicht nur die Männer freundschaftlich, sondern auch die Hunde. Sie gingen noch eine Wegstecke gemeinsam, verabschiedeten sich und Zietschmann lief mit Lucky den schmalen Fußweg durch die Felder zum Kaitzer Bäcker ins Tal. Einmal in der Woche frühstückte er mit seiner Nachbarin, Luise Mehnert. Hierfür brachte er frische knusprige Brötchen mit. Im Wohngebiet war man sich einig, dass es weit und breit keine besseren Brötchen gebe. Die Kaufhallen-Brötchen, quasi als Schüttgut in Säcken angeliefert, hatten stets die Ofenfrische verloren und die Konsistenz gummiartiger Rollen angenommen.

Anhänglich begleitete der Hund Lucky seinen Herrn Zietschmann zurück in die Erdgeschosswohnung in einem farblich faden Neubaublock. Ebenfalls Parterre, direkt neben dem Hauseingang wohnte Luise Mehnert. Zietschmann klopfte an Mehnerts Tür. Mit Absicht klingelte er nicht, denn Klopfen war die stille Vereinbarung, dass vertraute Personen vor der Tür standen. Er grüßte und überreichte die Tüte mit Semmeln. Die Nachbarin bedankte sich und wünschte ebenfalls einen guten Morgen. Sie umklammerte die Tüte und lobte den Duft des Backwerks. Zietschmann wollte rasch aus seiner Wohnung noch Streuselkuchen und das Wurstpaket vom Kaitzer Fleischer holen. Dann könne das Frühstück beginnen. Aber Lucky zwängte sich an den Beinen Frau Mehnerts vorbei in den Korridor. Er wusste, weiter als in den Korridor durfte er sich nicht wagen. Das lehnte nicht nur Frau Mehnert ab, die froh war, früh morgens keinen Hund betreuen zu müssen. So konnte sie in Ruhe ausschlafen. Sondern auch Mehnerts Katze Bella lehnte Eindringlinge ab. Sie lag im Korridor auf ihrer Decke. Als Lucky näher kam, sprang sie auf und begrüßte ihn mit gebogenem Rücken und peitschendem Schwanz, der in Zucken überging. Während Lucky dies als freundliches Signal zum Spiel auffasste, war Bella ablehnend, zornig, angriffslustig. Sie duldete nicht seine Invasion in ihren Bereich. Zietschmann zog Lucky an der Leine, führte ihn in seine Wohnung und kam mit den versprochenen Leckereien zurück.

Zum Frühstück reichte Frau Mehnert zur mit Butter bestrichenen Semmel noch den selbstgemachten Pflaumenmus, den Herr Zietschmann tüchtig lobte. Er wolle wissen, wie Frau Mehnert diesen mache. Sie nehme immer die Hauszwetschge. Ganz einfach. Auf sächsische Art. Fünf Teile entkernte Zwetschgen mit einem Teil braunen Zucker, einem Teelöffel Zimt, einer Messerspitze gemahlener Nelken mischen, über Nacht stehen lassen. Am anderen Tag käme alles in eine eiserne Kasserolle. Zwei bis drei Stunden im Backofen bei knapp zweihundert Grad. Hin und wieder umrühren. Zuletzt in Gläser mit Schraubdeckel und sicherheitshalber kurz einkochen.

Sie genossen ihr Frühstück, unterhielten sich über das neue Theaterstück im Großen Haus, über ein Schnellgericht und die jüngsten Begebenheiten im Haus.

Sie räumte ab. In der Küche öffnete sie ihr zweiflügeliges Fenster. Durch den Luftzug schwebten die Spinnenweben der Baldachinspinne, deren Flugfäden am benachbarten Strauch hingen, in Mehnerts Gesicht. Sie dachte an den Volksglauben, wonach die Fäden Glück bringen sollten.

Als es an der Tür klopfte, erhob sich Herr Zietschmann, bedankte sich und ging zur Tür. Frau Mehnert hinterher.

Frau Berger aus der ersten Etage steckte ihren Kopf durch den Türspalt.

„Frau Mehnert, gann mei Gind, mei Nina ne Weile hier bleim. Ich muss zum Doktr.“

„Freilisch gannse bei mir bleim. Se wärn doch nischt Schlimmes ham?“

„Ich gloobs nich, hoff ich jedenfalls.“

Frau Mehnert kehrte zum Hochdeutsch zurück.

„Komm Nina, wir füttern zuerst die Katze. Bella wartet bestimmt schon lange auf ihre Morgenmahlzeit.“

Dann dürfe Nina mit ihr spielen. Sie gab der Katze frisches Wasser und in den Napf Fleischstückchen. Sie schmierte ein Butterbrot und schnitt es in kleine Streifen.

Nina ging in die Hocke und schaute Bella zu.

Frau Mehnert reichte ihr den großen Wollknäuel zum Spielen. Die Futteraufnahme war vorerst wichtiger. Dann folgte Bella ihrem Spieltrieb. Nina rollte den Knäuel durch die Küche und Bella jagte hinterher. Dann spielten sie mit Wollfäden.

Nach einiger Zeit meinte Frau Mehnert, sie könnten jetzt Fernsehen machen. Aber Frau Mehnert hatte etwas anderes im Sinn als Nina.

Und sie ging mit Nina zum Fenster. Öffnete den zweiten Fensterflügel. Rollte die dicke Wolldecke zusammen und legte sie auf das Fensterbrett. Nina holte Bella, platzierte sie neben sich und streichelte sie. Luise Mehnert stütze sich mit den Unterarmen ab, so konnte sie ihre üppigen Brüste gut lagern. Sie machte es sich bequem. Hier könnten sie in die Ferne sehen. Frau Mehnert zeigte auf den Spielplatz mit den Freunden Ninas und auf die schwarzen Amseln auf dem Baum.

Ihre rotbraunen, mahagonifarbenen Haare hatte Luise Mehnert hochgesteckt. Einzelne graue Haare waren sichtbar. Von ihrem geliebten Platz aus konnte sie den grünen Raum mit Grasflächen und hochgewachsenen Laubbäumen zwischen den quadratisch angeordneten Häuserblocks gut überschauen. Die Blätter begannen sich bereits zu verfärben und fielen zu Boden.

Sie summte für Nina leise: „Blätterfall, Blätterfall, gelbe Blätter überall…“

Die grüne Farbe war stellenweise durch verschiedene Brauntöne ersetzt. Eben Spätsommer. Herbstbeginn. Zweiter Frühling der Frauen ging ihr durch den Kopf. Manche sprachen auch von Indian Summer – eben wegen der herbstlichen Laubfärbung. Von zweiter Jugend verspürte Luise Mehnert aber nicht viel, eher verband sie, ihrer Mentalität entsprechend, die Jahreszeit mit der Zeitzone ihres Lebens. Seit einem Jahr war sie Rentnerin. Nun fern von ihrer geliebten Bühne. Hin und wieder hielt sie kleine Lesungen in der Christuskirche in Altstrehlen, besonders über Lene Voigt. Über zwanzig Jahre war sie in ihrem Souffleurkasten über den zwanzig Zentimeter hohen Schlitz im hölzernen Kasten über die Augen mit den Darstellern auf der Bühne verbunden. Der tägliche Blick in den Spiegel bestätigte nun ihre Assoziationen vom Herbst des Lebens. Nur selten setzte sie vor dem Spiegel ihre Brille auf, um die Konturen der Falten und Furchen nicht deutlich wahrnehmen zu müssen. Ohne Brille waren ihre Züge weichgezeichnet. Noch vor Jahren entdeckte sie in ihrem Spiegelbild – Gefallsucht und Gelüste, aber auch Cleverness und Freimut. In der Antike, überlegte sie, galt der Spiegel als Abbild der Seele, die darin gefangen war. Zu Kinderzeiten erfuhr sie aus Märchen und Sagen, dass der Spiegel übersinnliche Eingebung, Voraussagungen, Erkenntnis bringen konnte. Sie wusste, dass die chinesische Tradition den Spiegel als Symbol der Verbannung des Bösen verehre. Aber Mehnert wähnte manchmal neben sich im Spiegel den Satan, den Geist der Finsternis. Sie fühlte quasi den rebellierenden Widersacher, der sich in den Weg stellte und Gegenkraft initiierte. Sie überlegte, ob eine alternde Frau den Spiegel ignorieren und ihn durch den schönen Schein ersetzen solle, besonders wenn die Zahl fünf überschritten war. Eine passende Kleidung wählen, in der man immer gut aussähe. Sie erinnerte sich, mit zwanzig wählte sie himmelblau. Wahrscheinlich angeregt durch die Verknüpfung ihrer Gedanken, wenn sie entspannt im Gras lag, in den Himmel schaute, an Raum und Ewigkeit dachte, inneren Frieden verspürte und Harmonie als Gefühl in ihr aufstieg.

In der Küche trug sie eine Kittelschürze über ihre Tageskleidung.

Was, wenn es plötzlich klingele und Frau Hartwig aus dem zweiten Stock frage nach Backpulver, meinte Frau Mehnert. Da lege sie rasch die Schürze ab und sei gut angezogen.

Die Schürze sei eben ein praktisches Ding für zuhause. Viele Frauen betrachteten die Kittelschürze als Oberbekleidung. Dieses gewickelte Kleidungsstück, bügelfrei aus leichtem Stoff, aus Polyamid, eben aus Dederon, liege eng am Körper an und umhülle den Leib mit der Unterwäsche wie die Pelle die Wurst. Haben sich manche Frauen erst einmal darin einwickeln lassen, kämen sie womöglich nie mehr aus ihr heraus. Aber Luise Mehnert fühle sich als kluge, moderne Frau, sie habe immer was Gepflegtes drunter.

Mit der Betonung der persönlichen Attraktivität hatte es Ihre Arbeitskollegenschaft im Theater da besser. Vor dem Auftritt auf der Bühne wurde das Körperäußere der Darsteller entsprechend der Rolle, die sie spielten, langwierig, kunstvoll angepasst. Ja, sie wurden verschönert. Manche konnten sich, wenn es die Rolle hergab, über einige Stunden wieder jung fühlen, die Männer vielleicht gedanklich als Don Juan in sinnlicher Leidenschaft. Luise Mehnert konnte diese Vorzüge nicht genießen. Sie steckte in ihrem Holzkasten, äußerlich nicht hergerichtet, nicht verjüngt, nicht faltengeglättet. Aber ebenso in permanenter Anspannung. Sie, die Flüsterin, die Einbläserin sprach die Rollen flüsternd mit. Viele Rollentexte kannte sie auswendig. Nicht nur die Wörter, die Sätze hatte sie verinnerlicht. Auch die Gestik, die Mimik, die Bewegungen, den körperlichen Ausdruck beherrschte sie. Zuhause vor dem Spiegel verkörperte sie für sich allein die Figuren. Im Allgemeinen war sie im Schauspielhaus eingesetzt, sie hatte aber auch Aufgaben im Theater der Jungen Generation. Unweit neben dem Neubaugebiet wohnte ihr Schauspielkollege Kasper, wie sein Scherzname im Wohngebiet war, weil er oft den Kasper spielte. Manchmal kam er zu einem Schälschen Heesen vorbei. Sie reichte noch frische Buttersemmeln mit Pflaumenmus. Als Abschluss des Besuchs bekam er einen selbstgemachten Erzgebirgschen Bitter. Er bat sie häufig, kleine Rollen vertretungsweise zu übernehmen. Ihre sonst hochgesteckten Haare trug sie dann als Pferdeschwanz oder auch lang, je nach Rolle.

Schon als Kind hatte sie den Wunsch, später Schauspielerin zu werden. Aber ihr Stiefvater drängte darauf, dass sie einen soliden Beruf ergreifen sollte. Sie lernte Buchhändlerin. So war sie mit dem geschriebenen Wort verbunden. Aus dem Studium wurde nichts. Später wechselte sie zum Theater. Das gesprochene Wort entsprach eher ihren Intentionen. Ja, das Wort. Viele, viele Male hatte sie Faust in seinem Studierzimmer sagen hören und flüsternd mitgesprochen: Im Anfang war das Wort! … Mir hilft der Geist. Auf einmal seh‘ ich Rat … Im Anfang war die Tat!

Frau Mehnert beherrschte fließend zwei Sprachen – Hochdeutsch und Sächsisch. Im Allgemeinen soufflierte sie wohlartikuliert in der Hochsprache, ebenso wenn sie mit ihrer Kollegenschaft oder anderen Gebildeten kommunizierte. Sie redete in der gesprochenen Schriftsprache, wie die Österreicher sagten. Sie blieb beim Sie. Wie es üblich war, sprach sie die Schauspieler einfach mit dem Familiennamen an. Mit ihrem Wohnungsnachbarn, Herrn Zietschmann, unterhielt sie sich oft sächsisch. Auch er war Rentenempfänger. Häufig saßen sie in der warmen Jahreszeit gemeinsam zur Abendzeit auf der Bank neben dem Hauseingang, um das Geschehen im Freien verfolgen zu können.

Die letzten Sonnenstrahlen des Altweibersommers fielen an diesem Tag auf Luise Mehnerts Fenster, bevor die Sonne hinter dem gegenüberliegenden Häuserblock verschwand. Dieser Südteil Dresdens, Zschertnitz, historisches Schlachtfeld in den Befreiungskriegen 1813, auf dem General Moreau schwer verletzt wurde und wenige Tage danach verstarb, wurde täglich lange von der Sonne beschienen.

Sie ging ins Freie und setzte sich am späten Nachmittag auf die Hausbank. Kurze Zeit später öffnete sich die Haustür.

„Liebe Frau Mehnert, scheen, dass se noch hier sinn. Ich brauch och noch ä paar Sonnenstraaln. Ich komm mit zu Ihnen“, sagte der herauskommende Zietschmann.

„Zietschmann, ich habe grad im Trockenraum meene Wäsche uffgehängt.“

Sie hängte jedes Wäschestück korrekt gestrafft auf und klammerte es an den Ecken fest.

„Sie och?“

„Was, das ist Ihre Wäsche, die so lieblos über der Leine bammelt, unförmig, wie ein nasser Sack. Nisch mal festgeklammert. So braucht die ja ewig zum Trocknen und sie blockiert so länger die Leinen. War schon knapp.“

Zietschmann mit seinen strubbligen graumelierten brünetten Haaren schlug die Augen leicht nach unten. Er sagte nichts weiter. An diesem Tag war er noch nicht rasiert. Sein blaues, leicht verwaschenes T-Shirt fiel lässig über seine graue Jogginghose.

„Herr Zietschmann, ich habe eine kleine Schokotorte gekauft. Die hol‘ ich jetzt.“

Sie ging wieder in ihre Wohnung und kam nach einiger Zeit mit einem Tablett, auf dem Teekanne, Gläser, Teller, Gabeln und Torte standen, zurück.

„Jetzt machn wir five-o‘clock-tea.”

„Simbolisch meen Se das.”

„Nun, in praxi wern wir niemals auf der King’s Road oder der Oxford Street in London Tee trinken könn‘.“

Luise Mehnert goss Tee in die Gläser und packte die Torte aus. Sie schnuppert an der Torte. „Duftet gut – nur gute Butter – bestimmt Landbutter. Nun geht’s ans Teilen.“

„Und wie teilen wr?“

„Wies sich gehört, wir teilen jetzt brüderlich.“

Sie nahm das Messer in die Hand und setzte zum Schneiden an.

„Nee, Frau Mehnert, nicht brüderlich. Se sehn jedn Taag, was es heest – mit dem großen roten Bruder im Osten brüderlich zu teilen – dr Bruder griegt den großen Teil un wir glotzen mit dem kleenen Rest in dn Mond. Also scheen halbe-halbe teilen.“

Zietschmann und Mehnert waren damals am selben Tag in der Platte eingezogen. Der Dorfkern von Zschertnitz mit seinen historischen Bauernhäusern wurde für das Neubaugebiet geopfert. Eine Neubauwohnung in Zschertnitz zu erhalten, wurde zu dieser Zeit als Geschenk angesehen. Zwar war es ein anderes Wohnen als in einer Altbauwohnung. Verspielte Fassaden, individuelle Vorgärten, kurzer Weg zur Kirche gehörten nicht zum neuen Wohnen in einer auf Gleichheit beruhenden Gesellschaft. Altbau stand für Wohnen in einem altbackenen Gesellschaftsmodell.

Wenn man in der Platte eine Wohnung erhielt, fühlte man sich erst mal auf der Sonnenseite mit neuem Lebensgefühl. Die Platte war Sinnbild für die Wohnform in Ostdeutschland, uniformiert, vereinheitlicht. Alle wohnten auf gleichem Niveau. Hier gab es nach damaligen Begriffen Komfort – stets warmes Wasser oder Durchlauferhitzer und eine warme Wohnung mit Badewanne. Die Zeit, in der man sich im frostigen Winter unter einem Gebirge aus Daunendecken eine warme Höhle schaffen musste, um in grenzenlose Träume fallen zu können, war nun vorbei. Die Wohnungen waren permanent geheizt, so stark, dass die Fenster geöffnet werden mussten, weil die Heizungen ohne Abstellventile montiert wurden. Die Satirezeitschrift Eulenspiegel veröffentlichte Fotos, auf denen Neubauwohnungen häuserweise mit offenen Fenstern, sowohl in Rostock als auch in Dresden zu sehen waren.

Schule und Kindergarten waren im Neubaugebiet gleich um die Ecke. Unweit eine Kaufhalle, auf deren Gelände früher das berühmteste Ballhaus Dresdens Paradiesgarten stand. Es wurde in den Kriegstagen zerstört.

Das Wohnen in einer Plattenbausiedlung aus zusammengeschraubten Modulen grauen Waschbetons unterschied sich von der als überholt geltenden bürgerlichen Wohnkultur auf dem Weißen Hirsch. Die Platte war industriell errichtet und standardisiert. Die Häuser sahen fast überall gleich aus, eben wie Zigarrenkisten. Die Wohnungen gleichen Typs waren nahezu überall gleichgroß mit gleichem Grundriss, eben gleichförmig. Viel Fantasie zum Einrichten wurde nicht gebraucht. Die Möbel an den richtigen Fleck stellen, das konnte jeder. Fernseher, Wohnzimmerregale und Kleinmöbel standen fast überall an der gleichen Stelle, eben einheitlich, konform. Die aus leichtem Kunststoff gefertigten Zimmertüren wurden von den Leuten als Papptüren bezeichnet. In Zschertnitz waren die aus Pressstoff mit innenliegenden Papierwaben gefertigten Wohnungstüren aufgrund schlechter Lagerung verzogen. So hatte jede Wohnungstür an der unteren linken Ecke einen Schlitz zum Gewände hin. Durch diese Klinse gelangten die unterschiedlichen Küchengerüche ins Treppenhaus. Sie vermischten sich zu einem Einheitsgeruch, der von manchen als Gestank wahrgenommen wurde, bei anderen aber Assoziationen zu opulenten lukullischen Genüssen hervorrief. Durch den Spalt drang aber auch akustischer Ballast. Nachmittags hörte man die Klänge der Puhdys, von der Gruppe Karat oder die Musik westlicher Sender, abends Lieder von Karel Gott oder Veronika Fischer. An der Wohnungstür Vorbeigehende bekamen die Heftigkeit von Streitgesprächen in der Wohnung ebenso mit wie abends den Lichtschein durch den Spalt, der die Anwesenheit der Bewohner signalisierte.

Luise Mehnert und Herr Zietschmann, auf der Bank im Freien sitzend, sahen erwartungsvoll Thalheim entgegen, der leicht verschwitzt vom Rad stieg und es zum Hauseingang über die zwei flachen Stufen schob. Familie Thalheim - die Lehrerin Sonja, der Pharmazeut Dr. Ulrich Thalheim und Katja, Schülerin der neunten Klasse - wohnte in der dritten Etage.

Ulrich Thalheim war von stattlich- sportlicher Gestalt. Er achtete sehr auf sein Normgewicht. Aus seinem Blick war Loyalität und leicht auch eine Treuherzigkeit zu erkennen. Er trug legere Kleidung. Sein dunkles, kurzes Haar zeigte an den Schläfen einen leichten Grauschimmer.

Sie begrüßten sich. Worüber diskutiert werde, wollte Thalheim wissen.

„Ach Thalheim, über die Weltgeschichte, die ist im Tal der Ahnungslosen immer interessant.“

„Ja, iewer de Wäsche im Geller, die nachm Gombass ausgerischt wärn soll“, sagte Zietschmann.

Luise Mehnert, im dunklen Schneiderrock und heller Bluse, hatte die Haare hochgesteckt. Sonntags schmückte sie diese mit Accessoires. Sie unterschied in ihrer Anrede. Im Theater war es üblich, sich nur mit dem Nachnamen anzusprechen. So hielt sie es auch im Alltag. Die Akademiker, die Höhergebildeten, die Gewichtigen fielen ebenso in diese Kategorie.

Thalheim lehnte sein Rad an die Wand und setzte sich ebenfalls auf die Bank.

„Thalheim über die Welt erfahren wir hier in unserem Elbtal kaum etwas, aber über die Anglermeisterschaften, die in der Lausitz erfolgreich beendet wurden, so in den Klassen Fliege, Fünfkampf und Gewicht. Da hab´ ich gleich mal bei unserer lieben Lene, wie die Leibzcher sagen, eben bei unserer Mundartdichterin, nachgeschaut.“

„Ich weiß, wer Lene Voigt ist. Was schreibt sie denn?“

Luise Mehnert fühlte sich in ihrem Element, es machte sie immer glücklich, zu jedem passenden oder unpassenden Zeitpunkt, Verse zitieren zu können.

„Ich les´ mal vor:

Dr Fischer

Mit dr Angel in dr Hand

Saß ä Mann am Uferrand,

Schtarrte uff de Fluten hin,

Nach ä Garbfen schtand sei Sinn.

Leider wollte geener gomm,

Alle warnse fortgeschwomm.“

Symbolisch gaben die anderen auf der Bank Ruhenden Beifall.

Zietschmann stand auf und sagte, er werde erschtmal fer jeden ä Laagerbier holn.“

Er kam wieder, sie öffneten drei Flaschen und prosteten sich zu.

Frau Mehnert sei eingefallen, dass in dieser Woche der erste Todestag von Traute Richter sei. Die Richter sei als Frau Charlotte von Stein im Gespräch mit dem abwesenden Herrn von Goethe fulminant, einfach überwältigend gewesen. Über dreihundert Mal habe sie diese Rolle gespielt. – Die Publikumslieblinge, sie habe sie alle gekannt. Sie saß mit ihnen in der Kantine und habe auf der Bühne in kritischen Situationen geholfen.

Sie drückte ihren Rücken durch und setzte sich kerzengerade, quasi Hochachtung demonstrierend. In Hochdeutsch sagte sie, dass in Dresden schon große Schauspieler spielten. Joachim Zschocke als Richard der Dritte und auch Tartuff. Der Horst Schulze, nun in Berlin, sei als Mephisto unübertroffen gewesen. Schulze sei der Publikumsliebling der Dresdner gewesen, wirklich umjubelt. Den Bel Ami habe er über dreihundert Mal gespielt, als Papageno sei er meisterhaft gewesen. Genauso sei die Antonia Dietrich von den Dresdnern abgöttisch verehrt worden, als Frau Jenny Treibel große Spitze.

Ja und den Hoppe müsse man auch mit nennen, warf Thalheim ein.

Rolf Hoppe sei seinen Dresdnern treu geblieben. Was habe der alles gespielt – König Lear, Dorfrichter Adam im Zerbrochenen Krug, den Klosterbruder in Nathan der Weise. Ja, viele Rollen jahrzehntelang.

Aber Frau Mehnert habe damals uff der Biene in ihrer Kiste gehoggd – sie sei nisch umjubelt wurdn, sagte Zietschmann.

Sie habe aber mit den Umjubelten gefühlt, meinte sie.

Und der Marita Böhme als Eliza Doolittle in My fair Lady oder in Bel Ami zuzuschauen, sei immer ein Genuss gewesen, warf Thalheim ein.

Un dr Peter Herden sei och eene Größe. Iewer vierhundert Mal habe dr dn Professor Higgins gespielt, sagte Zietschmann.

Aus dem Fenster der dritten Etage rief Sonja Thalheim:

„Hallo Uli, du bist ja schon da. Kommst du auch zu mir. Wir haben Besuch. Morgenroths sind auch hier.“

Dr. Ulrich Thalheim arbeitete im Elbpharmwerk in Dresden. Er war für eine Abteilung in der Entwicklung verantwortlich. Den Arbeitsweg legte er meist, besonders bei schönem Wetter in der warmen Jahreszeit, mit dem Rad zurück.

Er räumte das Rad in den Keller und eilte die Treppe hinauf.

In der Wohnung stellten Morgenroths, die eine Etage unter Thalheims wohnten, ihren Besuch vor, Familie R. aus München. Herr R. arbeite in der Kulturbranche und Frau R. sei Lehrerin. Familie R. wolle gern mit einer waschechten ostdeutschen Familie einen Abend verbringen und ins Gespräch – so quasi zwischen West und Ost – kommen.

Sonja als Lehrerin fand schnell zu Frau R. einen Draht. Es sei ja selten, dass sie Westdeutsche zu Besuch habe.

Ulrich legte eine Platte mit Dixieland- und Jazz-Melodien auf. Down By The Riverside mit Chris Barber war zu hören. Dann eilte er in die Küche und komplettierte die Abendmahlzeit. Sonja hatte bereits mehreres vorbereitet. Er schämte sich etwas, noch einige Zeit vor dem Haus geplauscht zu haben. Er bereitete Gurkensalat zu und buk Baguette im Ofen auf. Aus dem Küchenradio wurden Kurzmeldungen gebracht: In Westberlin habe es Krawalle gegeben. Demonstanten auf den Straßen hätten ihren Protest gegen die beginnende Weltbankkonferenz erhoben. Sie seien vor den Eingang der Riesenhalle gezogen, wo die Konferenz stattfand. Schaufensterscheiben seien in der Innenstadt zertrümmert worden. Es wurde auch gebracht, dass mehrere Hundert von finanzkräftigen Währungsexperten gegen stabile Währung in Ostberliner Nobelhotels übernachtet hätten. In Luxuslimousinen seien sie abgeholt und reibungslos unter Bewachung der Staatssicherheit über die Grenze gebracht worden. Im Ostteil hätten junge Leute unter dem Schutz der ostdeutschen Kirche gegen Ausbeutung der dritten Welt durch das Finanzkapital protestiert. Sie seien von den Ordnungskräften ermahnt worden, Ruhe und Ordnung einzuhalten.

Ulrich überlegte, welch ein Gegensatz. Der sich sozialistisch nennende Staat beschirme das Finanzkapital und Junge Christen verfechten sozialistische Ideale.

Während des Abendessens kamen sie auf das jährliche Dixieland-Festival in Dresden zu sprechen. Bands aus vielen Ländern seien immer vertreten. Man spüre dabei, wie der Hauch aus der weiten offenen Welt versprüht werde.

Herr R. als Kenner des Kulturlebens hob das dichte Netz von Theaterbühnen im Osten hervor. Die Preise seien niedrig. Er habe den Eindruck, dass die Leute für Kultur aufgeschlossen seien. Herr R. sagte, im Westen dominiere der Konsum. Eben auch Kulturkonsum. Man konsumiere Theater, Film, Konzerte. Auch der zwischenmenschliche Dialog laufe sehr häufig über den Konsum – zum Beispiel in Kneipen –viel trinken, gut essen – das sei für viele Kultur. Er staune über die enge menschliche Verbundenheit der Menschen im Osten. Die Leute seien ruhiger, reagierten weniger hektisch.

Den Westlern gehe es oft so, dass sie mit Genussfreude an der engen Zusammengehörigkeit teilnähmen, ohne die Schattenseite, die vielen Erschwernisse spüren zu müssen, sagte Gundula Morgenroth.

Aber die Individualität der Ostdeutschen werde beschnitten, alles liefe auf Kollektivität hinaus, warf Frau R. ein. Schon bei der Geburt eines Kindes werde in den Krankenhäusern das Neugeborene von der Mutter getrennt und isoliert bewacht. Das habe doch ernste Auswirkungen. Wie solle sich bei den Kleinen eine Vertrauenswelt entwickeln?

Gerade im Prägealter, wie nach der Geburt und in der Krippe, meinte Herr R.

Zerstöre eine solche Praxis nicht den Menschen, fragte Frau R. etwas echauffiert.

Freilich müsse bei den vielen Maßnahmen die Psyche der Kleinen stärker in den Mittelpunkt gerückt werden. Aber die Mütter bekämen doch bezahlten Urlaub und das ein Jahr lang, sagte Sonja etwas energisch.

Für die Gleichstellung der Frau werde doch im Osten mehr getan als im Westen, warf Ulrich ein.

Trotzdem sei in der ganzen Gesellschaft noch das Patriarchat vorherrschend, sagte jetzt Gundula mit Nachdruck.

Da habe sie recht, im Zentralkomitee der Obersten keine Frau, sagte Manfred Morgenroth.

Sie glaube, in der offiziellen ostdeutschen Gesellschaft spiele der fühlende Mensch nur eine untergeordnete Rolle, sagte Frau R.

Das sei in der gesamten marxistischen Theorie der Fall. Der Mensch sei eben eine Produktivkraft, Empfindungen seien Nebensache, sagte Ulrich.

Später kamen sie auf die Schriftsteller zu sprechen. Herr R. als Organisator im Kulturbetrieb meinte, dass die Schriftsteller in Ostdeutschland nicht die Wahrheit sagen dürften.

Der Umgang mit der Wahrheit sei schon ein Problem, oben wie unten, reflektierte Sonja. Klar, kritische Punkte der Gegenwart würden häufig ausgespart, weil viele wüssten, dass sie bei Kritik an den Zuständen in Schwierigkeiten geraten könnten.

Ja, wenn man die außenpolitischen Seiten des Zentralorgans anschaue, springe so eine primitive Parteilichkeit n ins Auge. Bei der Vergabe von Adjektiven durch die Presse habe der gelernte DDR-Bürger sofort zu erkennen – ob Freund oder Feind, erläuterte Gundula.

Sie sprachen noch über das unerwartete Zusammentreffen der drei Ehepaare an diesem Abend und über die Ehe.

Herr R. fragte rhetorisch, ob nicht der äußere Druck im östlichen Land auf die Festigkeit der Ehe gewirkt habe und den Wunsch nach Sicherheit, nach einem Menschen, auf den man sich verlassen konnte, genährt habe.

Gundula Morgenroth reflektierte, dass Herr und Frau R. mit ihrer widerständigen Art wohl nicht im Osten hätten leben können. Wenn sie dauerhaft in dem zentralistisch geleiteten Land weilten, würden sie sicherlich Ärger bekommen. Sie blieb aber zurückhaltend.

Sehr spät trennten sie sich. Der Besuch ging.

Thalheims räumten das Geschirr weg.


Auch dunkle Wolken haben einen Silberstreif

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