Читать книгу Auch dunkle Wolken haben einen Silberstreif - B. G. Bernhard - Страница 4
2. Die Struktur
Оглавление„Menschen miteinander gibt es nicht“ Kurt Tucholsky
Mittwochs fand die Dienstberatung der ersten Leitungsebene im Elbpharmwerk statt.
Der etwas korpulente Betriebsdirektor des Elbpharmwerkes, Martin Weise, verließ kurz vor Beginn der Beratung, frisch gekämmt, im weißen Kittel, gefolgt von seinem persönlichen Referenten und der Sekretärin, sein Büro. Seine anscheinend gefärbten Haare trug er relativ lang, sie bedeckten vollkommen seine Ohren.
Während in den Labors und Arbeitsbereichen des Werkes entsprechende Arbeitsschutzkleidung angelegt wurde, trugen die Mitarbeiter außerhalb dieser Bezirke weiße sogenannte Wegekittel. In allen Bereichen, einschließlich der Toiletten zeigte sich eine vorbildliche Sauberkeit, die selbst WHO-Inspektoren positiv bei Inspektionen hervorhoben.
Die Sekretärin verschloss die Tür. Majestätisch, erhaben durchschritt Direktor Weise mit seinen Büromitarbeitern im Gänsemarsch den aus der Jugendstilzeit stammenden, im schlichten Weiß gehaltenen Korridor in der ersten Etage, der im Krieg zwar zerstört war, aber fast im Originalzustand wieder hergerichtet worden war. An der Decke des Korridors waren noch Elemente des ehemaligen Kreuzgewölbes zu erkennen. Der Treppenaufgang zu dieser Etage war breit gestaltet. Licht, das durch die Bleiglasfenster fiel, erhellte besonders den ersten breiten Absatz der Treppe. Kurz vor der Tür zum Sitzungsraum befand sich, seitlich in die Wand eingelassen, ein in blau und ockerfarben gefliester ehemaliger Wasserspender, rechts daneben stand auf einem Sockel eine Figur aus Kupfer, die beim Bombenangriff einige Dellen davongetragen hatte.
Die wöchentliche Dienstberatung war eine Arena, in der Weise nicht nur die Betriebsabläufe kontrollierte und Einfluss nahm, sondern in der er auch seinen Willen gegen Widerstrebende durchsetzte. Es schien sein ungebremstes Machtgefühl zu befriedigen, wenn er lustvoll, seinem Trieb folgend, Zwang ausübte. Auf dieser Bühne konnte er seine gespielte Überlegenheit unter Beweis stellen, seine Stellung in der Hierarchie nutzen, um die Selbstsicherheit anderer Leiter zu brechen und seine Macht und Autorität zu demonstrieren. Sicherlich hatte er Tucholskys Worte im Sinn: „Menschen miteinander gibt es nicht. Es gibt nur Menschen, die herrschen und solche, die beherrscht werden.“
Um die Machtverhältnisse auch visuell sichtbar zu machen, hatte Weise sicherlich stets den Ausspruch Molieres vor Augen: „Macht ist da, wo die Bärte sind“, denn seinen Kinnbart pflegte er stilsicher und auffällig. Zwar eiferte er nicht Salvatore Dali mit dem Schnurrbart nach, der meinte, dass ein Mann ohne Bart nicht richtig angezogen sei. Eher war der Spitzbart sein Markenzeichen, wie bei dem obersten Herrn, der seinen Spitznamen danach erhielt. Für Weise war der Bart kein Mode-Accessoire, sondern ein Zeichen der Macht und der körperlichen Vitalität. Mit dieser Zierde der Männlichkeit könne er sich den Herausforderungen des Lebens stellen, wie er manchmal betonte. Die Betonung der Machtansprüche stand für ihn im Vordergrund.
Weise wandte mehrere Praktiken zur Durchsetzung seiner Machtambitionen an. Zur Disziplinierung aller Leiter übte er in Abständen Kritik an einzelnen Bereichslenkern, die wenig Geschick hatten, sich zu verteidigen. Gleichzeitig suchte er sich solche Leiter aus, deren Bereich nur untergeordnet wichtig für den Betriebsablauf war.
Weise eröffnete die Sitzung mit dem Punkt Verschiedenes/Informationen. Er wies auf den bevorstehenden Tag der Republik hin, Elbpharm habe für eine Betriebsfeier den Kulturpalast gemietet.
Nach dieser Information herrschte er den Leiter der Gütekontrolle, Dr. Wolf Meyer, an, dem der Stall mit den Versuchstieren unterstand. Es sei unerhört, dass im Tierstall Fremdesser geduldet werden. In der vergangenen Nacht sei die Tür zum Tierstall nicht verschlossen gewesen, sie habe offen gestanden und Wildkaninchen haben vom Futtervorrat gefressen und sich um die Ställe mit den Laborkaninchen getummelt. Wie solle man angesichts solcher Schlampereien den Laborwerten trauen können, wenn womöglich Fremdinfektionen eingeschleppt würden. Weise kündigte bei Wiederholung eine Disziplinarmaßnahme an. Mit solchen Äußerungen versuchte Weise, vor allem die anderen Leiter und Direktoren zu disziplinieren. Der parteilose Meyer konnte sich schlecht wehren. Diesen Umstand nutzte Weise, wenn er in Abständen Kritik übte. Nicht immer wurden die Ankündigungen umgesetzt, denn es war entscheidend, um welchen Direktor es sich handelte.
Gegen den Direktor für Produktion wurde selten massive Kritik geäußert. Die Produktion war nun mal das Herzstück des Betriebes, ihm gegenüber wurde Nachsicht geübt, ihm begegnete er mit Wohlwollen. Weise begnügte sich bei ihm mit freundschaftlichen Hinweisen.
Selbstbewusst auftretende, auch mal widersprechende Direktoren wurden von Weise besonders im Blick behalten und bei jeder sich bietenden Gelegenheit beauftragt, Vorlagen anzufertigen. Sie mussten die Macht spüren und fühlen. So genoss Weise den höchsten Kitzel und die Befriedigung des gierigen Verlangens nach Gebrauch der Macht. Ihnen musste er zeigen, dass es von Vorteil ist, in seiner Macht zu stehen.
Weiterhin stabilisierte Weise seinen Machtapparat in der Firma durch Einstellung von ehemaligen Armeeangehörigen. Solche Kader waren an militärische Disziplin gewöhnt und führten ohne Widerrede das aus, was er anordnete.
Weitere Stützen seiner Macht waren die Organisationen, einmal der Bewussten und die der Gewerkschaft des Betriebs. Den Einfluss auf beide Organisationen baute Weise systematisch aus und nutzte sie rigoros als Sprachrohr und Transmissionsriemen zur Durchsetzung seiner taktischen Manöver und Umsetzung seines Willens.
Dabei schuf er Abhängigkeitsverhältnisse, die auf emotional intimen Beziehungen fußten. Diese femininen Wesen gaben in Disputen und bei anstehenden Entscheidungen entsprechende Verstärkung, sie waren quasi seine imaginären Heckenschützen.
In Abständen wurde Weise von der Führung des sowjetischen Militärkrankenhauses auf dem Weißen Hirsch zu Feiertagen aufgrund von sogenannten Patenbeziehungen eingeladen. Es wurden acht gesetzliche Feiertage in der Sowjetunion begangen. Also gab es mehrere Anlässe im Jahr, so besonders zum Tag der Sowjetarmee, zum Tag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, zum Tag des Sieges, der anlässlich des Endes des Vaterländischen Krieges, in deutscher Lesart als Tag der Befreiung, begangen wurde, reichlich Wodka zu trinken. Weise lernte stets einige Trinksprüche in Russisch auswendig, die er dort fließend beisteuern konnte. Außerdem begleitete ihn seine Sekretärin für internationale Beziehungen, die in der Sojus studiert hatte.
Auch sie war in das intime Hörigkeitsverhältnis eingebunden. So klangen solche Tage der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft, des Trinkens auf die brüderliche Verbundenheit in der Regel nach Rückkehr im exquisit eingerichteten, nur über Code zugänglichen Besucherzimmer des Werkes erotisch-zärtlich aus.
Auch im Ministerium verschaffte sich Weise Einflussmöglichkeiten. Über seine satanischen Verbindungen zum geheimen Sicherheitsdienst erhielt er kurz Einblick in die Personalakten von Verantwortlichen und konnte so kritische Punkte zum betreffenden Kader erkennen. Diese Kenntnis nutzte er, um die für sein Werk Zuständigen mit Andeutungen und Bemerkungen zu verunsichern und damit zugleich seine eigene Position zu stärken. So erwirkte er in den übergeordneten Organen prinzipielle Entscheidungen zu seinen Gunsten, so dass er perspektivisch für seine Anträge auf Reisen in die große Welt zu Tagungen, Symposien und zu führenden internationalen Unternehmen generelle Zustimmung erhielt. Die permanente Planerfüllung seines Werkes, neue international beachtete Präparate und seine eigenen hohen staatlichen Auszeichnungen wirkten dabei als weiterer Hebel.
So fuhr Direktor Weise regelmäßig zu internationalen wissenschaftlichen Konferenzen. Obwohl Weise als ehemaliger Feinmechaniker nicht die blasseste wissenschaftliche Ahnung zu den behandelten Themenkreisen hatte, nahm er sich heraus, ins westliche Ausland selbst zu fahren. Sinngemäß traf auf ihn der Sketch im Kabarett Herkuleskeule zu, in dem der Professor sagte: „Meine Mitarbeiter schicke ich zu Tagungen in die Ostländer. Ich selbst stelle mich persönlich bei internationalen Tagungen und Konferenzen dem ‚Klassenfeind‘ im Westen.“
So verschaffte sich Weise einen Informationsvorlauf. Er saugte die fachlichen Vokabeln förmlich auf und wendete sie auch richtig an. Somit erhielt er im Vergleich zu seinen Mitarbeitern, die er nicht für Reisen ins westliche Ausland vorschlug, zeitlich zu einem frühen Zeitpunkt Informationen über internationale Trends.
Auf diese Art versuchte er, auf die Mitarbeiter im Bereich Entwicklung Einfluss zu nehmen und eine Art von Informationsabhängigkeit zu erzeugen und gleichzeitig seine Autorität und seine Machtverhältnisse auszubauen.
Da Weise als gelernter Techniker inhaltliche Fragen, die also die chemischen und biologischen Prozesse und die pharmazeutischen Vorgänge in der Arbeit im Forschungs- und Entwicklungsbereich betrafen, nicht bewerten konnte, versuchte er über den von Hegel beschriebenen dialektischen Zusammenhang von Form und Inhalt Einfluss zu nehmen, wobei als Form die äußeren Bedingungen einer Sache angesehen werden sollen. Er strebte an, über die Form in die Struktur einzudringen, seinen Willen durchzusetzen und so Disziplin zu erzeugen. Da er meist hierfür die Dienstberatung mit den Leitern nutzte, war die öffentliche Wirkung nicht nur auf die Leiter, sondern auf die gesamte Belegschaft vorprogrammiert. Seine Zuträger im Entwicklungsbereich lieferten ihm genügend Beispiele, so dass er die neuesten Vorkommnisse unter dem Punkt Informationen und Sonstiges mit einfließen ließ.
Er kündigte gegen Mitarbeiter des Bereiches Entwicklung Disziplinarmaßnahmen mit Abmahnungen an, weil sie Getränke im Laborkühlschrank deponierten, weil sie bei Arbeiten im Sterillabor den persönlichen Handschmuck nicht ablegten, weil sie im Labor aßen und tranken, weil sie lebende Blumen im Labor aufstellten oder weil sie für Gänge außerhalb des Labors nicht den Laborkittel auszogen und ihn gegen einen Wegekittel wechselten.
Beim folgenden Punkt der Tagesordnung holte Weise dann weit aus und begann mit allgemein-politischen Anmerkungen zur kritischen wirtschaftlichen Situation des ostdeutschen Landes. Es seien deshalb international herausragende Leistungen in Forschung und Entwicklung gefragt, die zu Produkten führten, die sich auch im westlichen Ausland gut verkaufen ließen. Im Werk sollten deshalb Produkte entwickelt werden, mit denen die letzten Plagen der menschlichen Rasse – bestimmte Infektionskrankheiten – diagnostiziert und bekämpft werden könnten. Zum bevorstehenden Tag der Republik sollte das Werk entsprechende Verpflichtungen abgeben, die als Grußbotschaft an übergeordnete Bürokratieorgane, besonders an das Zentralkomitee der Organisation der Bewussten geschickt werden sollten. Thalheim wurde zum Projektverantwortlichen berufen.
Martin Weise ließ am späten Nachmittag Ulrich Thalheim, der nicht zur ersten Leitungsebene gehörte, in sein Büro kommen und teilte ihm den Beschluss des Leitungsgremiums persönlich mit, dass er für die neuen Staatsplanaufgaben als Projektverantwortlicher benannt worden sei. Diese Neuentwicklungen sollten auf dem Weltmarkt große Beachtung erfahren und sich gut verkaufen lassen. Thalheim solle sofort mit den Entwicklungsarbeiten beginnen. Thalheim war überrascht. Spontan erwiderte er, dass für einen sofortigen Beginn von Versuchen sicherlich viele Importchemikalien im Werk nicht vorhanden seien und man oft zwei Jahre und länger auf Lieferungen warten müsse. Weise herrschte ihn an, dass er mit seiner Truppe ohne Verzögerung mit den Experimenten beginnen solle. Er wolle nicht weiter darüber diskutieren.
Im weiteren Gespräch konnte Weise gegenüber Thalheim mit den brandneuen wissenschaftlichen Ergebnissen der besuchten Tagung brillieren.
Als Thalheim Weises Büro verließ, war der Arbeitsschluss lange vorbei, und es dunkelte bereits.
Weise eilte zum Tierstall, schnappte sich aus dem Futtervorrat eine größere Menge Möhren und verteilte sie in der Mitte des Hofes an den Büschen des kleinen Rondells mit Sitzplätzen, auf denen sich die Mitarbeiter in den Pausen trafen, um den neuesten Tratsch auszutauschen. Weitere wurden neben Bänken, auf den Wegeplatten, an der hohen Hecke neben den Tierställen platziert - alles Stellen, die er von seinem Bürofenster gut einsehen konnte.
Er ging zurück in sein Büro, holte aus dem Geheimschrank seine Knarre und legte sich am Fenster seines Büros auf Lauer. Es verging einige Zeit und die Wildkaninchen kamen aus ihren unterirdischen verzweigten Gängen der im Krieg zerbombten, eingeebneten Häuser. Sie machten sich über das ausgelegte Futter her. Weise schoss mit seinem Luftgewehr mehrere der Parasiten ab. Aus dem Pförtnerhäuschen kam der Wächter gestürmt und schaute entsetzt.
Weise schrie: „Geh in Deckung! Alles o.k.“
Er setzte die Jagd auf die Schmarotzer fort, sammelte alles ein, räumte den Hof auf und kehrte zu seinem Büro zurück. Sein Blick fiel im Vorbeigehen auf Handzettel, die in den Gängen angebracht waren und eine Versammlung für die gesamte Belegschaft ankündigte. Mit einem befriedigenden Gefühl beendete er seinen Arbeitstag und die Woche. Es war Freitag.
Es ging Thalheim durch den Kopf, die wöchentliche fünfmalige Wiederholung: Schlafen – Aufstehen – Arbeiten – Essen – Hausarbeit – Bettaufsuchen sei nun an diesem Tag, dem Freitag, unterbrochen worden. Das Wochenende – die tiefgreifendste Erfindung der Menschheitsgeschichte – habe begonnen. Über das Jahr verteilte freie Tage schafften die Folge: Arbeit – Freizeit. Das Wochenende trenne die Arbeit von der Muße, von den besonderen Seiten des Lebens. Der Samstag sei aber kein Faulenzertag. Während bei den meisten Ostdeutschen und Dresdnern das Erwachen an diesem Tag das Schönste der Woche sei und als Phänomen der Akkumulation, der Ansammlung nützlicher Aktivitäten begann, klingele bei Thalheims trotzdem der Wecker. Auch am Sonnabend, wie die offizielle Bezeichnung war, haben die Kinder und Lehrer zur Schule gehen müssen. Also haben Sonja und Katja an diesem Tag Verpflichtungen. Der Nachmittag stehe dann zur freien Verfügung, Früher sei wohl der Samstag Badetag, Reinigungstag, Markttag gewesen; die Dorfbevölkerung füllte ihn abends mit Begegnungen und Bewegungen während eines Tanzes aus. Modern finde der Samstag meist outdoor statt, in der Sächsischen Schweiz, im Erzgebirge, im Garten, mit dem Rad an der Elbe.
Oder es werde, wie in jedem Herbst, zu Subbotniks aufgerufen, zu unentgeltlichen Arbeitseinsätzen, um Herbstputz zu betreiben, also die Außenanlagen in den Wohngebieten zu pflegen.
Abends drehe und schüttele sich mancher unter dem Disco-Stern.
Außer Atem stieg Thalheim vom Rad, als er an seinem häuslichen Wohnblock ankam. Die Strecke vom Betrieb nach Hause hatte er versucht, im flottenTempo zurückzulegen. Körperliche Ertüchtigung – wie er es nannte. Es war nicht leicht, den Zschertnitzer Berg zügig zu bewältigen.
Beim Eintreten in den Treppenaufgang fiel ihm auf, dass Mehnerts Wohnungstür nicht geschlossen war. Es war eine stille Vereinbarung, Besucher waren eigeladen. Neben der Tür stand sein kleiner Leiterwagen, den andere Hausbewohner zum Einkaufen nutzen konnten. Beutel mit Flaschen befanden sich im Wägelchen. Er stellte sein Rad im Keller ab. Danach klopfte er dezent an Mehnerts Tür. „Nu gommt nur rein“, rief eine Stimme. Er trat ein. In der schmalen, beengten Küche saßen Luise Mehnert auf einem Stuhl am Fenster und Herr Zietschmann auf einem Hocker am kleinen Tisch. Frau Mehnert hatte ein Glas und Herr Zietschmann eine Flasche in der Hand.
„Da sind Sie ja, Thalheim. Wir warten schon auf Sie. Heute gab es in der Kaufhalle wiedermal Männl-Bier. Für jeden aber nur zehn Flaschen. Wir waren zu zweit. Nun ham wr gleich verkostet. Trinken Se mit! Holn Se sich eene Flasche“, lud Frau Mehnert ein.
„Das Bier mit dm gleenen Männlein uffn Edigedd schmeggt immer wiedr gud“, schwärmte Zietschmann.
Thalheim kam vom Treppenaufgang mit mehreren Flaschen zurück.
„Die Ladung im Wagen zahle ich.“ Er griff zur Geldbörse.
„Also rund…“
Er legte einen Schein auf das kleine Tischlein.
Es freue ihn, dass der kleine Wagen noch gute Dienste leiste. Damit habe er seine Katja durch die Sächsische Schweiz gekarrt, als sie zwei, drei, vier war. Mit fünf sei sie selbst die schmalen Klettersteige hoch geklettert, natürlich mit einem Seil eingebunden, das an seinem Bauch endete, erläuterte Thalheim.
Ganz eng saßen die drei in der schmalen Küche und tranken ihr geschätztes, selten zu erhaltenes Männl-Bier, als sie laute Stimmen im Hausflur wahrnahmen. Frau Mehnert eilte zur Tür, öffnete und rief in die Wohnung:
„Thalheim, weiter oben bahnt sich eine Eskalation an. Es wird heftig gestritten. Komm Zietschmann, wir müssen nachschauen.“
So gut es ging, eilten die drei die Treppe hinauf. In der vierten Etage auf dem Treppenabsatz wurde gestikuliert, gedroht, Wortfetzen flogen von einer Wohnung zur anderen gegenüberliegenden. Beschuldigungen kamen von Frau Fabius. Ihr dicker Läufer im Korridor werde täglich kürzer und franse immer weiter aus. Der wertvolle Läufer sei indischer Herkunft, handgeknüpft. Der hohe Flor mache ihn so edel.
„Da wärn bese Menschn von außen aktiv, vielleischt sogar die Nachbarn, de unerzognen Lümml von Mehlhorns, de wärn jedn dag säbeln“, schimpfte Frau Fabius.
„Isch lass nischt über meine Jungs kommen. Sie – aufsässische Frau“, donnerte Frau Mehlhorn zurück.
„Liebe Frauen, beruhigt euch, wir sind alle Nachbarn“, versuchte Frau Mehnert zu besänftigen.
Frau Mehnert trat in den Korridor, mühsam kniete sie sich und beäugte den Schaden von Nahem. Sie fuhr mit dem Finger über das Gewebe auf dem Boden.
„Sehn Se Frau Mehnert, gewaldsam ausgefranst.“
Herr Klein aus der fünften Etage kam, angelockt durch die heftigen Dispute, eilig die Treppe herunter, schaute kritisch überprüfend und jagte in den Keller. Mit Draht, Ofenhaken, dünnen Metallstangen, Blechstreifen bewaffnet, versuchte er durch die Schlitze der verschlossenen Tür zu manipulieren. Er kapitulierte. Durch Ritzen, Spalten und Zwischenräume war kein Durchkommen.
„Müssn wr nu griminalistisch agtiv wärn?“, fragte Zietschmann rhetorisch.
„Ich hab´ einen Gedanken“, sagte Frau Mehnert, „die nächsten Nächte werden wir aktiv.“