Читать книгу Auch dunkle Wolken haben einen Silberstreif - B. G. Bernhard - Страница 9
7. Vorstudienzeit
Оглавление„Ein Mensch ohne Bildung ist ein Spiegel ohne Politur“ Sprichwort
Zum Wochenende, am Samstagnachmittag, traf zur verabredeten Zeit Frau Mehnert bei Thalheims ein. Auch Familie Morgenroth war eingeladen. Ulrich Thalheim hatte vormittags mit dem Rad Kuchen aus der Landbäckerei in Nickern geholt. Verschiedene Sorten: der Sächsische Kläckselkuchen mit Quark, Mohn und Marmelade, Mohnkuchen, Eierschecke standen bereit. Er hatte schwarzen Tee und eine Kanne Kaffee zubereitet. Ulrich und Sonja liebten frischen Bauernkuchen. Frau Mehnert wollte zuerst Thalheims China-Tee probieren. Morgenroths schlossen sich an. Die schöne kräftige Farbe spräche sie an. Sie lobten den abgerundeten, milden Geschmack. Thalheim erklärte, dass das Zschertnitzer Trinkwasser aus einer Talsperre im Erzgebirge käme und sich hervorragend für die Zubereitung von Tee eigne.
Nach der Kaffeerunde kramte Thalheim ein kleines Notizbuch hervor. Er philosophierte, dass es früher, in vergangenen Zeiten, ja schon in der Antike sonntags Zusammenkünfte in den Städten, auf dem Lande an einem gemeinsamen Ort gegeben habe. Dort seien die Aufzeichnungen der Apostel und die Schriften der Propheten vorgelesen worden.
So werde er es nun auch tun, wenn er, wie vereinbart über die Erlebnisse seiner Studienzeit berichte. Er habe in einer Kladde so was wie Tagebuch geführt. Er nannte es Sudelbuch analog wie Kurt Tucholsky seine Aufzeichnungen bezeichnete, denn auch in seinem chemischen Praktikum habe er die Beobachtungen in einem Sudelbuch festgehalten. Also begann er die Aufzeichnungen, die Erzählung über seine, die Studienzeit Ulrichs, vorzulesen. Er gab sich Mühe, manches pointiert vorzutragen:
Nach der Lehre besuchte Ulrich dreimal die Woche nach der regulären Arbeit die Abendoberschule und erreichte so – auf dem Zweiten Bildungsweg - den Abschluss der Mittleren Reife. Später wurde er von seinem Betrieb als förderungswürdiger Arbeiter zu der Vorstudienanstalt - Arbeiter-und-Bauern-Fakultät - ABF– delegiert. Er wollte Pharmazie studieren. Da ihm die Hochschulreife, also das Abitur fehlte, konnte er dies in einem Sonderlehrgang an der Universität nachholen. Der Betrieb befürwortete das Studium, er solle später zur neuen sozialistischen Intelligenz gehören, die sich aus der Arbeiterklasse reproduziere, wie die Führung ganz oben behauptete.
Gewissenhaft füllte er den mehrseitigen Fragebogen aus. In der beigelegten Broschüre zur ABF las er:
Die ABF sei eigens für Arbeiter und Bauern und deren Kinder gegründet worden, um einen Gleichstand herzustellen. In den Instituten, in den Labors der Industrie, in den Leitungsgremien des Staates, bei den Streitkräften, in den Akademien und Verwaltungen agieren heute Absolventen der Arbeiter- und Bauern-Fakultäten und beweisen …“
Gleichstand?Gleicher Rang? Zwischen den Klassen, zwischen den sozialen Schichten?
Er wurde zu einer Aufnahmeprüfung geladen. Anfang September fuhr er zum Weberplatz in Dresden und steuerte auf das Portal eines dreigeschossigen Gebäudes mit Walmdach zu. Klassizistische Elemente, in neuer Art verarbeitet, beeindruckten ihn. Ehrfürchtig schaute er nach oben, wo ein Glockenstuhl, der von vier Tierfiguren umringt war, seine Aufmerksamkeit anzog. Er identifizierte die Tiere Krokodil, Wolf, Ziegenbock, Fisch.
Er nahm zwei Stufen der weitläufigen Treppe auf einmal, an deren Seite zwei Statuen standen, und ging zwischen den Säulen zum Eingang unter der auf Stützen ruhenden Plattform. Am Haupteingang identifizierte er eine Plastik von Gerhard Markwald.
Auf dem ausgedehnten Korridor saßen auf einer langen Bankreihe weitere Wartende. Er ging zu einer Ansammlung junger Leute, wahrscheinlich ebenfalls Arbeiter und Bauern, die zur Eignungsprüfung wollten. Er betrachtete das Wandgemälde – gemalt von einem Wilhelm Lachnit, wie er las. Er stellte sich an den Rand der Menge und wartete, bis er aufgerufen wurde.
Dann stand er vor der Prüfungskommission. Ein grauhaariger Mann mit großen blauen Augen zeigte auf einen Stuhl und sagte:
„Der Begriff Prüfung, der auf Ihrer Einladung steht und mein Sekretär formuliert hat, ist nicht ganz zutreffend. Dies hier ist ein Gespräch. Wir wollen nicht feststellen, wie Ihr Bildungsstand ist, wir wollen herausfinden, wes Geistes Kind Sie sind. Wissen Sie, was ich meine?“
„Ja“, sagte Ulrich.
„Ihr Lebenslauf hat mir gefallen, ihr Stil ist gut. Wir finden es auch bemerkenswert, dass Sie neben der Arbeit noch abends die Schule besuchten und die Mittlere Reife abgelegt haben.“
„Wie steht es mit Englisch?“, fragte ein Jüngerer dazwischen, ohne dass ihm das Wort erteilt wurde.
„Keine Ahnung“, antwortete Ulrich. „Äh – ich wollte sagen, dass ich keine Ahnung von Englisch habe und bei null anfangen müsste.“
Der Jüngere nickte. „Sie sind also ein unbeschriebenes Blatt. Ja auf leere Blätter schreibt es sich besser.“
„Das sehe ich auch so“, sagte Ulrich.
„Nun“, sagte der Mann mit der Glatze, der wahrscheinlich Vorsitzender der Kommission war, „wenn Sie durchgehalten haben, abends noch die Schulbank zu drücken, werden Sie auch hier beharrlich die Aufgaben erledigen. Wir stufen Sie für den Zweijahreskurs ein. In zwei Jahren können Sie dann das Fachstudium an der Universität aufnehmen.“
„Und was arbeiten Ihre Eltern“, wollte der Grauhaarige wissen.
„Sie betreiben ein Hotel und eine Gaststätte.“
„Also gehören Ihre Eltern dem Mittelstand an. Da wird es schon Probleme mit einem Stipendium geben. Von der sozialen Herkunft kein Arbeiter. Na ja.“
„Also, junger Arbeiter“, sagte der Glatzkopf, „kommen Sie zu Semesterbeginn zu uns. Gleich hier um die Ecke am Zelleschen Weg ist das Wohnheim, dort wird für Sie ein Zweibett-Zimmer reserviert, zwanzig Mark im Monat.“
Als Ulrich den Raum verließ, stieß er auf dem Gang mit einem flott Eilenden zusammen:
„Kannste nich uffpassen – du Armleuchter.“
„Auf den Armleuchter komm ich zurück – Lümmel“, sagte Ulrich.
„Leg dich bloß nicht mit mir an, ich bin Gleisbauer bei der Bahn. Das Heben von Schwellen, das Stopfen der Gleise macht starke Muskeln.“
„Mehr kannste wohl nicht, bist geistig etwas zurückgeblieben, vielleicht auch ideologisch. Brauchst bestimmt Nachhilfe.“
Die anderen fragten, wie es im Prüfungsraum gewesen war.
Es sollte sich später herausstellen, dass er tatsächlich keine Studienförderung zu erwarten hatte. Seine Eltern seien kleine Unternehmer, also solle er von Ihnen Unterhalt fordern.
Die Stiefmutter ließ ihn abblitzen:
„Denk nicht, dass wir für dich bluten.“
Daraufhin mied er Besuche im Elternhaus. Ulrich galt als Arbeiter, er hatte in der sozialistischen Produktion gearbeitet. Somit wurde ihm ein Stipendium zuerkannt, nachdem er die zerrütteten Beziehungen zum Elternhaus dargelegt hatte.
Zu Semesterbeginn informierte sich Ulrich am Aushang des Internates zur Zimmerbelegung. Er teilte das Zimmer mit einem Hubertus Recke.
Welch eine Überraschung mit negativem Anstrich. Im Zimmer hatte sich schon der Lümmel breitgemacht, dem er anlässlich der Aufnahmeprüfung auf dem Gang begegnet war. Er saß bereits am geöffneten Fenster und rauchte. Thalheims Gesichtsausdruck verfinsterte sich. Welcher permanente Konflikt bahnt sich hier an?
„Na Gleisbauer, nun müssen wir uns zusammenraufen.“
„Bist‘e fügsam?“, wollte der Baubudenrüpel wissen.
„Ich bin gegen Selbstherrlichkeit und Untertanentum, das Mittelalter ist schon lange überwunden. Ich setze mehr auf Ausgleich, ich bin gegen einseitige konfliktträchtige Lösungen.“
Für Ulrich stand noch der Schreibplatz an der anderen Seite des Fensters zur Verfügung, er war zufrieden, das Licht kam von links. Durch das Fenster blickte man auf Grünflächen mit Bäumen. Schotterwege schlängelten sich durch den Rasen. Amseln pickten im Gras. Abseits flog ein Schwarm auf. Die schwarzen Schwingen wirkten imposant. Schlag auf Schlag.
Über dem Tisch heftete er einige Kopien von alchemistischen Labors und einer mittelalterlichen Apotheke an. Paracelsus, der im sechzehnten Jahrhundert als Reformator der Medizin galt und chemische Heilmittel einführte, erhielt seitlich einen Platz. Ulrich hatte die Feststellung Paracelsus: „…alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift, allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist“ immer parat. Er sah ihn als Revolutionär mit radikalen Reformideen und als Begründer der pharmazeutischen Chemie.
Im Doppelstockbett hatte der Raucher schon längst das obere Bett in Beschlag genommen. Wie sich herausstellte, gab es dort gutes Licht, um im Bett noch lange lesen zu können. Für Thalheim erfüllte das Bett die Funktion des Schlafens. Licht behinderte die Wahrnehmung dieser Funktion. Er baute sich aus Strippen und Schalter eine Kurzschlusseinrichtung. Sobald die Zeitdauer der Lichtfülle wieder endlos erschien, kippte Ulrich den Schalter und es ward Finsternis. Allerdings waren damit die Zimmer der gesamten Etage zu Dunkelheit verdammt und ein Auflauf der Bewohner begann auf dem Gang.
Bei warmem Wetter legte sich Hubertus gern auf der Rasenfläche am Haus ins Gras und las. Er verschlang förmlich die Romane französischer Schriftsteller, sei es von Balzac, Stendhal, Hugo, Duma, Zola und anderen.
Ulrich wurde neugierig. Mit den Hinweisen von Hubertus lernte er ebenfalls, diese Literatur zu schätzen.
In den Erntezeiten für Obst stromerten beide in den Abendstunden durch Obstplantagen und trugen beutelweise Äpfel in ihre Unterkunft und stapelten die Früchte in Kartons unter den Betten. Auch Weißkohl von den Feldern ernteten sie und bereiteten daraus Sauerkraut. Schon im alten Griechenland und bei den Römern war die gesäuerte Zubereitung beliebt. Und in Deutschland gilt es als Nationalgericht, weshalb nach dem Krieg die Amerikaner für die Deutschen schnell die Bezeichnung Krauts parat hatten. Das Kraut wurde fein geschnitten, mit Salz und Kümmel vermengt und in einem großen Plastikeimer fest gestampft, abgedeckt, beschwert und der Milchsäuregärung überlassen. In den drei bis vier Wochen der Reifung entwickelte sich ein penetranter Geruch im Raum. Die Insassen gewöhnten sich daran, aber andere hielten sich am liebsten die Nase zu, wenn sie das Zimmer betraten. Kurz bevor das gesäuerte Kraut aufgebraucht war, wurde die Prozedur wiederholt.
Hubertus prahlte oft mit seinem zurückliegenden Leben im Bauwagen, es sei oft recht lustig und ausgelassen zugegangen, sie hätten diesen Frohsinn und die Ungehemmtheit mit einer beträchtlichen Zahl Frauen geteilt. In den Frauen sah er ein Spielobjekt. Er hatte eine sehr gute Meinung von sich selbst, er war ein ausgeprägter Narzisst und sein wundervolles Ich wollte er mit vielen Frauen teilen. Er brauchte die Frauen, um sein männliches Über-Ich, sein aufgeblähtes Selbstwertgefühl zu bestätigen und so sein Image zu pflegen. Hierfür kam ihm eine langhaarige Brünette mit Modelfigur, die wie eine Klette an ihm zu hängen schien, sehr entgegen. Bei ihr traf die Feststellung Virginia Woolfs voll zu, dass die ‚zornigen Männer…die Frau nur als Spiegel brauchen, in dem der Mann in mythischer doppelter Größe widergespiegelt wird und seine Bestätigung erfährt‘. Ihr gegenüber konnte Hubertus Macht ausüben und Anerkennung erhalten.
Um aber seine übersteigerten Größenfantasien ausleben zu können, benötigte er permanent One-night-Stands mit anderen weiblichen Körpern. Gegen ein Entgelt für einen Kneipenbesuch ersuchte er häufig Ulrich, ihm die Bude zu überlassen.
Ulrich, im Wesen zurückhaltend, in sexuellen Fragen unerfahren und unsicher, widerstrebte diese Haltung. Also weihte er die Langhaarige ein:
„Du weißt schon, dass Hubertus häufig Frischfleisch braucht.“
Sie schaute Ulrich fragend an, als hätte er über ein saftiges Steak gesprochen. Also musste er etwas nachhelfen. Sie zog ihre Konsequenzen.
Hubertus wertete dies als Verrat seitens Ulrichs. Er meinte danach nur, dass Ulrich seine Aktion hätte ihm ankündigen können. Ihm wäre dann eine Bergpredigt erspart geblieben und er hätte vorher handeln können.
Während Ulrich den Stoff für die naturwissenschaftlichen Fächer mit Begeisterung und Freude lernte, fiel ihm das Lesen in den Fremdsprachen und das Verstehen deutlich schwerer. Die russischen Wörter musste er oft Buchstaben für Buchstaben erschließen, ehe sie halbwegs flüssig über seine Zunge gingen. Im Fach Englisch hatte er sich für eine Vokabelarbeit einen Spickzettel angefertigt. Aber die findige Lektorin spürte den Betrug auf. Ulrich war eben nicht geschickt genug und ungeübt. Es gab eine Klassenkonferenz, in der er sein Fehlverhalten zu erläutern hatte. Sein Handeln wurde mit der ehrlichen Arbeit der Arbeiter in der Produktion verglichen und als nicht deckungsgleich befunden. Redliches Arbeiten sei nun mal eine Grundeigenschaft der Arbeiterklasse.
Anderseits wiesen ihn die Kommilitonen wohlwollend auf sein thüringisches Deutsch mit den eigentümlichen Wortkombinationen und dem eigenwilligen Gebrauch der Fälle hin. Wenn er im Wohnheim davon sprach, dass er wieder einmal seine Fußzehnnägel schneiden müsse, rief es Gelächter hervor.
Ulrich hatte gewissermaßen kein Elternhaus, das ihn hätte in seiner Entwicklung positiv beeinflussen können. Ihm wurde keine Bildung und kein höherer sozialer Status vererbt. Die Lebensumstände seiner Eltern waren kein Vorbild. Er wurde nicht an Kunst, an Literatur, an Musik herangeführt. Hier in der Vorstudienanstalt sollten die Arbeiter und Bauern in einem zusätzlichen fakultativen Kurs Einblicke in die Stilepochen der Kunst, der Musik, der Malerei erhalten und selbst gestalterisch aktiv werden. Diese Lehrveranstaltung sollte beitragen, die kulturell-geistigen Eigenschaften der neuen Persönlichkeit zu fördern. Er erfuhr, wer die Mona Lisa malte, worin sich Romanik und Gotik unterschieden, welche Vertreter dem Impressionismus zugeordnet wurden. Ihm wurden Fragen der Malerei, der Grafik, der Architektur, der Musik beantwortet. Er erhielt im Schnelldurchgang Kenntnis über die Auffassungen Aristoteles zur Kunst ebenso wie über die Gründung des Blauen Reiters durch Marc und Kandinsky. Ihm wurde nahegebracht, wie sich die Hoffnungen, Wünsche, Sehnsüchte, Ahnungen der Menschen in den künstlerischen Produkten widerspiegelten und den erreichten gesellschaftlichen Zuständen entsprachen, so wie es eben Marx gesehen habe. Die marxistisch-philosophischen Gedanken, dass die Kunst die höchste Erscheinungsform der menschlichen Produktivität sei, wurden im Lehrgang eingebettet.
Aber auch das schöpferisch-manuelle Geschick wurde gefördert. Er fertigte Gipsschnitte und skizzierte mit Kohlestiften.
Erstmalig nahm er bewusst Orchestermusik in sich auf. Nachmittags fanden sich dann interessierte Kommilitonen im Studio zusammen, sie wollten für sich das umsetzen, was sie mittags in der Übungseinheit gelernt hatten. Früher habe sich jeder Hof, jeder Fürst, jeder Bischof seine individuellen musizierenden Instrumentalisten gehalten und die Werke der jeweiligen Hofcompositeure in der Kammer gespielt. Nun wollten sie auch ihr eigenes Konzert. Also hörten sie bei kräftiger Lautstärke die Sinfonien Beethovens, Schuberts, Tschaikowskis, so dass der Hausmeister kam und Drosselung forderte. Ulrich erhielt im Kursus Einblicke in die Kunst der orchestralen Farbmischungen zwischen den Instrumenten, von Mozart bis Richard Strauss. Anfangs beeindruckten ihn die starken Kontraste, später schätzte er aber auch die Ausgewogenheit. Um den Klangreiz verstehen zu können, musste sein Vorstellungsvermögen angesprochen werden. Bei den Klängen von Smetanas Moldau konnte er im Geist das Plätschern des Wassers über die Steine in den Tälern des Böhmerwaldes förmlich sehen. Es dauerte lange, bis er etwas abstrahieren konnte und die Klavierkonzerte Chopins tief in seine Gefühlswelt eindrangen. Mit Chormusik hat er sich nie anfreunden können, das gesungene Wort, die Oper, erschloss er sich erst als gestandener Mann.
Diese ihm nahegebrachte Aufgeschlossenheit gegenüber der Kunst, das Kunstverständnis fasste tief Fuß im Inneren Thalheims.
Im Fach Geschichte wurde wie auf der Pferderennbahn in Dresden-Reick im Galopp durch den Entwicklungsprozess der menschlichen Gesellschaft gerast. Nach einem kurzen Trip durch die Steinzeit wurden die antiken Schauplätze der Griechen beschnuppert, Athen, Sparta, Troja und die Erfindung der Demokratie spielten eine Rolle. Kurze Merksätze wie drei-drei-drei Schlacht Issos Keilerei, als Alexander der Große die Perser besiegte oder eins-null-null – Cäsar trank die Pull oder neun-sechs-zwo – der Kaiser hieß Otto blieben gut im Gedächtnis hängen. Auch der Spruch sich wie gerädert fühlen regte die Assoziationen zum Mittelalter an.
In der frühen Neuzeit wurde den politisch-sozialen Beziehungen der Menschen im Bauernkrieg, während der Reformation, im Dreißigjährigen Krieg, einem Luther oder dem Buchdruck wieder etwas mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Es war ja die Zeit des ersten Aufbegehrens der Menschen, der Aufstände der Bauern, eben der frühbürgerlichen Revolution, wie es die Schüler im Marxschen Sinne lernen sollten.
Die Zeit um die Französische Revolution sollte genauer untersucht werden. Es sei die Zeit gewesen, in der die Unterschichten das Alte nicht mehr wollten und die Oberschichten in der alten Weise nicht mehr konnten, also eine Krise zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutern geherrscht habe. Der Geschichtslehrer vergab das Thema für einen Vortrag über den Frühsozialismus, über die utopischen Sozialisten. Schon im Urchristentum, in den alten Religionen des Altertums habe es Forderungen nach Gemeineigentum gegeben, das allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein sollte. Manche sahen in Jesus einen Utopisten, der tendenziell für eine klassenlose Gesellschaft wirkte. Aber die Frühsozialisten haben Ideen für einen gerechten Idealstaat, für den Sozialismus als Staatsform entwickelt.
Also sollten Ulrich und vier weitere Mitstudierende gemeinsam einen Vortrag über die Utopisten halten und auch noch persönliche Konsequenzen aus dem studierten Stoff ziehen.
Nun saßen sie jeden Nachmittag und Abend in der großen Küche zusammen und diskutierten über das Konzept. Im Wohnheim hatte jede Etage einen Küchenraum mit vielen Sitzgelegenheiten, in dem Getränke und einfache Speisen zubereitet und eingenommen werden konnten.
Er habe nun einiges gelesen, sagte Richard, aber habe denn die Französische Revolution die Ideen der utopischen Sozialisten und damit die Utopisten hervorgebracht?, wollte Richard wissen. Er hatte den Spitznamen Prophy, weil er vieles prophylaktisch, also vorbeugend, vorsorglich machte.
Vor einer längeren Fahrt, sagte er, wir gehen vorsorglich, prophylaktisch aufs WC, bei dunklen Wolken am Himmel vorsorglich eine Jacke oder einen Schirm einstecken, zum Radfahren prophylaktisch passendes Werkzeug einpacken.
„Schau Prophy, Ideen gab es schon Jahrhunderte vorher. Thomas Morus. Er wollte alle zur Arbeit verpflichten, es sollte kein Privateigentum und keinen Luxus geben. Aber das waren nur Utopien, eben Wunschvorstellungen“, sagte Gesine und gab durch eine Kopfbewegung ihren halblangen blonden Haaren einen Impuls. Das Gesicht wurde frei. Sie straffte ihren blauen Pullover.
Ulrich kochte Tee und kredenzte jedem einen Pott. In die Tischmitte stellte er die Zuckerdose. Er rührte viel Zucker in seinen Tee. Als ihn sein Nachbar auf die Menge aufmerksam machte und über den Tag addierte, stutzte Ulrich über die Summe und überlegte, wie er die Menge verringern könne.
Gleich am Anfang stritten sie, ob Babeuf und Cabet schon utopische Kommunisten waren.
Die Französische Revolution sei total anarchistisch, gewalttätig, ja zerstörerisch, chaotisch gewesen. Wie könnten da Ideen entstehen, fragte Heinrich, mehr rhetorisch.
Es sei ein wüstes Gemetzel gewesen. Der König, die Königin, Jakobiner, eine Vielzahl von Prominenten, von Deputierten kamen unter das Fallbeil. Erst Vorkämpfer – dann Gegner und Geköpfte. Allein am Tag des Großen Schreckens über tausendzweihundert Todesurteile, insgesamt während der Revolution zwanzigtausend Hinrichtungen, sagte Gesine und schielte über ihre Brille.
„Wie hieß es? Die Revolution – gleich dem Saturn – frisst ihre eigenen Kinder.“
„Aber die Massen kamen auf die Bühne. Das Volk ergriff die Waffen. Auf dem Land ging es gegen das Feudalregime, weg mit der Leibeigenschaft. In Paris Erstürmung der Bastille, weg mit der Monarchie“, sagte Richard und feuerte quasi die Diskussion an.
Er stand auf, lief zum Fenster und öffnete es.
Ulrich holte seine Strickjacke und zog sie über. Sie schien sein Lieblingskleidungsstück zu sein. Im Studentenkreis war er schon als der Mann in der Strickjacke charakterisiert, weil man ihn täglich in dem schwarzen Strickgewirk mit den gelben Streifen sah.
Am Ende der Revolutionsetappe abe es die Erklärung der Menschenrechte gegeben. Freiheit, Gleichheit. Errichtung der Republik. Aber die habe nicht lange gehalten, sagte Heinrich.
Sie trugen noch weitere Fakten zusammen.
Ulrich erhob sich, ging in sein Zimmer und kam mit einem Karton voller Äpfel wieder, er wusch mehrere und stapelte sie in einer Schüssel, die er auf den Tisch stellte. Sie strömten einen Duft nach reifer Frucht aus. Die Anwesenden stürzten sich darauf und mit knackenden Geräuschen wurden die Äpfel verspeist.
Der Sachse Jakob meinte: „Das is ja ä wüstes Geschnurpsle“.
„Auch über den Charles Fourier müssen wir uns unbedingt auslassen. Er war utopischer Sozialist, seine Lehre wirkte tiefgründig auf Marx. Er entwarf eine harmonische Gesellschaft mit kleinen genossenschaftlichen Kommunen und gerechter Verteilung“, sagte Prophy.
„Dr Furjeh wollte nich de Underdriggung von Drieben, sondern das Auslähm jeds Individjums, wie er ´s nannte“, sagte der Sachse.
„Aber Jakob, du willst Akademiker werden. Da musst du dich in Hochdeutsch ausdrücken. Also weg vom Sächsischen“, sagte Gesine.
„Isch gäb mer Miehe.“
Jakob holte eine Karteikarte aus einem Stapel und deklamierte in Hochdeutsch: „Die genossenschaftliche Ordnung, also die Harmonie, fuße nicht nur auf gemeinsamem Wirtschaften, sondern sie stelle auch eine Liebesgemeinschaft dar. Der Mensch sei glücklich, wenn er durch Leidenschaft gesteuert werde und sich ausleben könne und nicht von seinen Trieben unterdrückt werde. Eine Befreiung der Arbeit sei ohne Befreiung der Sexualität nicht möglich.“
„Ja, ja, auch Bebel, der Gründer der SPD griff diese Gedanken auf und trat für die Befreiung der Frau ein“, sagte Gesine.
„Aber das können wir im Vortrag nicht anschneiden, das bleibt unter uns“, sagte Heinrich.
Sie strich ihre langen Haare aus dem Gesicht und setzte eine amtliche Miene auf und zitierte von einer Karteikarte: „Es sei eine Dummheit, die Frau an Küche und Kochtopf zu binden, die Geschlechter seien von Natur aus fähig, gleichermaßen in Wissenschaft und Kunst aktiv zu werden.“ Kurze Pause, sie holte tief Luft und sagte: „Das gefiel mir enorm. Das ist cool.“
Also habe die barbarische Revolution die Leibeigenschaft und das Feudalsystem hinweggefegt und die bürgerliche Gesellschaft etabliert, sagte Ulrich
Ja und Saint-Simon habe die These vertreten: Jeden nach seinen Fähigkeiten einzusetzen und diese zum Nutzen aller, sagte Prophy. Engels habe ihm eine geniale Weite des Blicks bescheinigt.
„Aber zuletzt müssen wir die Kurve zu Marx und Engels noch kriegen“, sagte Ulrich.
„Wir setzen die Krone mit dem Bund der Kommunisten, der von Marx und Engels gegründet ersten proletarischen Partei, auf. Nun nicht mehr auf utopischem Boden.
Die beauftragten Schüler hielten in entsprechenden Teilabschnitten den Vortrag und bekamen Zustimmung.
Ulrich fügte am Ende seines Teils zum Referat an, dass er intensiv über die Deklaration der Menschenrechte den Forderungen nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit nachgedacht habe. Die heutige sozialistische Bewegung, die auf den Ideen von Marx fuße, setze sich für die Gewährleistung der freien und allseitigen Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit ein. Hierfür wolle er sich engagieren, deshalb bitte er um Aufnahme in die Organisation der Bewussten. Ein weiterer Kommilitone schloss sich an. Der Geschichtslehrer versprach entsprechende Bürgschaften für die Aufnahme in die links orientierte Organisation zu übernehmen.
In der Diskussion im U/nterricht fragte Jakob, weshalb die Kommunisten so rigoros für die Abschaffung des Privateigentums seien. Ein kapitalistischer Unternehmer, der Eigentümer der Firma sei und die Verfügungsgewalt über die produktiven Kräfte habe, bringe doch durch seine Eigeninitiative das Unternehmen voran. Seine Motivation sei die treibende Kraft für das Geschäft. Er treibe die Innovation voran. So entwickle sich industrielle Dynamik und steige die Produktivität.
Der Geschichtslehrer gab den Ball zurück und meinte, dass Jakob noch Lücken in den Kategorien Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse habe. Er müsse deren Wechselwirkungen besser verstehen. Also werde er am besten in der folgenden Woche einen Vortrag über den dialektischen Zusammenhang der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse halten und wie sie auf die Produktionsweise wirken. Dann könne man im Gruppenverband darüber diskutieren.
Thalheim unterbrach an dieser Stelle seine Erzählung. Nun begänne das Kapitel über sein Studium. Wenn es Frau Mehnert interessiere, könne die Lesung an den folgenden Wochenenden fortgesetzt werden. Nach einem Imbiss und weiterem Plausch verabschiedete sich die Gäste, Frau Mhnert mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck. Vieles Gehörte kam ihr zu wissenschaftlich vor.