Читать книгу Auch dunkle Wolken haben einen Silberstreif - B. G. Bernhard - Страница 8
6. Wo man sich niederlässt
Оглавление„Die Familie ist die älteste aller Gemeinschaften“
Jean-Jacques Rousseau
Auf dem Nachhauseweg nach der Arbeit durchquerte Thalheim mit dem Fahrrad meist den Großen Garten. Er fuhr die Hauptallee entlang, vorbei an Balestras Skulturengruppe Die Zeit entführt die Schönheit vor dem Palais, dann bog er am Palaisteich in die Querallee ein, überquerte die Schienen der Pioniereisenbahn und verweilte kurz am Carolasee.
Die vielen Vögel zogen seinen Blick an. Während er am Wasser Teichhühner, Schwäne, Brautenten ausmachte, hörte er etwas abseits Spechte hämmern. Finken und Zeisige flogen zwischen den Bäumen, auch Stare, die ihr Nest wahrscheinlich im Botanischen Garten hatten, entdeckte er. Sie schienen zeitig zurückgekehrt zu sein. Als er sich einige Minuten auf eine Bank am Seeufer setzte, dachte er auch an die Lerchen und Schwalben, die er vor einigen Tagen hinter Mockritz und Nöthnitz auf den Kleefeldern und um die Bauerngehöfte gesehen hatte. Die Lerchen schwirren in den kühlen Morgen hinein, nachdem sie ihre Melodie getrillert haben und lassen sich wie Steine bis dicht über den Erdboden fallen. Die Schwalben wiederum segeln hoch oben kreisförmig. Ihre schwarzen kreuzartigen Strukturen heben sich vom Blau des Himmels ab. Sie stürzen sich in die Straßenschneisen, richten sich auf, wenden und schnellen zurück.
Nachts schlafen sie im Schilf von Flussufern oder sumpfigen Teichen. Am Tage tragen sie feuchte Erde zusammen, sammeln Grashalme, Haare, schleppen sie in die Viehställe, an die Nischen und Mauerritzen der Scheunen und verkleben sie dort mit ihrem Speichel zu halbkugelförmigen Nestern. Zwischen ihren Sammel- und Bauaktionen sitzen sie auf Strom- oder Telefonleitungen, ruhen sich aus, zwitschern kurz ein Lied und fliegen wieder los.
Die Schwalben weckten immer wieder Erinnerungen in Thalheim wach. Als Kind, während Vater im Krieg und Mutter im Krankenhaus waren, lebte er beim Großvater auf dem Dorf. Jahr für Jahr nisteten einige Schwalbenpärchen im Kuhstall. Großvater hatte in die Tür ein Loch gesägt, gerade so groß, dass die Vögel ein- und ausfliegen konnten, ohne behindert zu werden. Im Winter, wenn die Schwalben auf Wanderschaft waren, wurde die Öffnung abgedeckt, um Kälte abzuschirmen. Wenn im Frühjahr die ersten Schwalben gesichtet wurden, musste schnell das Türloch wieder geöffnet werden.
Eines Sommers war Ulrich auf einer Leiter zum Nest der Tiere gestiegen, hatte die Eier in die Hand genommen und gezählt, laut eins, zwei, drei…und später sechs oder sieben nach Futter gierender Geschlüpfter betrachtet. Unschlüssig und ängstlich waren die Muttervögel mit den Würmern im Schnabel vor dem Zufluchtsort hin und her geflattert. Sie flogen aufgeregt durch den Stall, gaben Laute von sich. Sie trauten sich nicht, die Jungen zu füttern. Großvater bemerkte die Unruhe und das Gewirr der Vögel.
Langsam schleichend kam er zu Ulrich, holte ihn von der Leiter und gab ihm eine Ohrfeige. Es war das einzige Mal, dass Großvater ihm gegenüber handgreiflich wurde. Sonst war er ein lieber und fürsorglicher Opa.
Später, als Thalheim in der Fremde von einer Bleibe zur anderen zog, hatte er sich selber mit den ziehenden Vögeln verglichen.
Thalheim fuhr weiter nach Zschertnitz hinauf. Gerade, als er vom Rad abstieg, begegnete er einem ehemaligen Kommilitonen aus der Nachbarfakultät. Sie trafen sich immer in der Physikvorlesung. Wegen der Schattenspiele, die der Professor durch Projektion der Messinstrumente erzeugte, wurde der Hörsaal immer abgedunkelt und Thalheim schlief oft ein.
„Hallo, Kumpel“, hörte Thalheim neben sich. Er drehte sich zur Seite. Der andere: „Deinen Namen habe ich vergessen, wir kennen uns aus früheren Zeiten. Wohnst du hier?“
„Hey, tatsächlich, wir saßen bei den Schattenspielen nebeneinander. Ja, ich wohne hier seit einigen Jahren. Plattenbau.“
„Wartezeit?“
„Acht Jahre Wartezeit. Alles nach Punktsystem an der Uni.“
„Ich weiß, Ich nehme auch an diesem Verteil- und Bewertungssystem teil. Familiengröße, Dauer der Anstellung, Qualifikation, Auszeichnungen, gesellschaftliche Aktivitäten, Arbeitseinsätze, Eigenleistungen und so weiter, alles bringt Punkte.“
„Und irgendwann kommt man auf die Dringlichkeitsliste.“
„Ja, nicht mehr lange, dann steh ich drauf. Und wie wohnt man hier?“
„Ruhig, gute Luft, Wohnungen sind klein. Fünfundfünfzig Quadratmeter für drei Personen. Eben alles mini, Kinderzimmer schmaler Schlauch, acht Quadratmeter. Einkaufen gut, Straßenbahn dort vorn. Schnell im Grünen, nicht weit, im Tal, Mockritz, Nöthnitz.“
„Aber du fährst mit dem Rad?“
„Bei trockenem Wetter schon.“
„Nun gut, dir alles Gute.“
„Ja, dir auch, tschüss.“
Thalheim stellte sein Rad im Keller ab, eilte die Treppe hinauf. In der zweiten Etage schien es wieder Krautsuppe zu geben. Solche Gerüche zogen durch den großen Spalt zwischen Türrahmen und Außentüren in das Treppenhaus. Er hasste derartige Dunstschwaden, die ihn, vermischt mit Knoblauch-Dunstwolken, an die Suppen seiner Stiefmutter erinnerten.
Die Wohnung war noch leer, er war der Erste, der nach Hause kam. Ihm fiel dann ein, dass Sonja am Morgen von Elternabend sprach. Wenig später erschien Katja. Die Fünfzehnjährige schaute grimmig drein. Ihre langen brünetten Haare, die sie tagsüber in der Schule zu einem Pferdeschwanz zusammenband und nachmittags immer offen trug, streifte sie aus dem Gesicht. Er fragte, wen sie besucht habe.
„Ich war bei der Chris. Du weißt schon, die wohnt in einem Haus nach dem Wall.“
Als Wall wurde der während der Bauphase des Neubaugebietes aufgeschüttete, langgezogene Erdwall bezeichnet, auf dem sich ein Geh- und Radweg befand. Von dort konnte man auch in das ehemalige Atelier der Malerin Schulze-Knabe sehen. Nach dem Wall erstreckte sich ein Gebiet von Einfamilienhäusern, in denen vorrangig Bessergestellte wohnten.
„Nun, Katja, du schaust ja so mürrisch aus. Habt ihr euch gezankt?“
„Nein! Die haben alles so schön und bei uns sieht alles scheußlich, primitiv, ja billig aus.“
„Wie meinst du das?“
„Bei der Chris im Haus sind im Bad echte, schöne Fliesen, Spiegelschränkchen. Alles glitzert, viel Chrom. Bei uns statt Fliesen eine mit dunkelbraunem Kunstleder überzogene Hartfaserplatte an der Badewanne, gelbe Plastikschränke, alles so ärmlich, niveaulos, überhaupt nicht schön, einfach beschissen. Du wirst gleich sagen, aber praktisch.“
„Katja, im Baumarkt gibt es keine Fliesen. Wir haben keine Westverwandtschaft, die uns Westgeld gibt, womit wir im Intershop Fliesen, verchromte Armaturen, eben lauter schöne, glänzende Sachen kaufen könnten.“
„Und wie die wohnen, einfach super, großes Haus, viele Zimmer, das Kinderzimmer ist mehr als doppelt so groß wie meins. Außer Bett, noch kleiner Tisch, Liegesofa, viele Schränke aus echtem Holz, eben chic, keine Presspappe mit Folie.“
„Papa, du würdest sagen, die wohnen bürgerlich. Aber Chris meint, man solle erst mal in die Villen auf dem Weißen Hirsch schauen – das wäre dann wohl großbürgerlich.“
„Ja Katja, mit der Verfügbarkeit materieller Güter in unserem Land ist das eben so ein Problem. Klappt seit Jahrzehnten nicht. Baustoffe, Ersatzteile fürs Auto, schöne Möbel, elegante Kleidung, alles ein Engpass.“
Da klickte die Wohnungstür. Sonja kam vom Elternabend zurück. Ihr Gesicht sah nicht gerade glatt aus, etwas finster blickte sie drein. Da sie ihre schwarzen Haare zu einem Dutt zusammengesteckt hatte, fiel ihr Mienenspiel besonders auf. Noch im Stehen begann sie sofort zu klagen:
„Also ein Bericht in Kurzform. Der sogenannte Abend war kein Erlebnis. Meist nur Kritik an den Eltern.“
„Lass dich zuerst umarmen.“
Ulrich gab ihr ein Begrüßungsküsschen, dabei registrierte er wohlwollend einen Hauch Parfüm. Dieser Riechstoff kam nicht aus Frankreich. Die chemischen Werke in Miltitz bei Leipzig verstanden, die Düfte der weiten Welt nachzuahmen, soweit sie die Rohstoffe hatten. Wenn die Flakons in den Geschäften auch später als im internationalen Trend angeboten wurden, die Ostfrauen waren meist zufrieden.
Sonja war Mitte vierzig. Sie hatte eine helle Bluse mit großflächig aufgedruckten Blumen angezogen, die im Kontrast zu ihrem dunklen Rock stand.
„Hallo.“
Sie begaben sich in den Mehrzweckraum, wie er in der Familie Thalheim genannt wurde – ein Zimmer, in dem gearbeitete, gespeist, geschlafen wurde.
Während an einer Wand hintereinander längs die Betten mit selbstgezimmerten Bettgestellen und aufgelegten Schaumgummimatratzen standen, füllten Schrankwände den Raum der anderen Wände bis unter die Decke aus. Eine eingebaute Schreibtischplatte, einmontierte Kleiderschränke und offene Regalfächer lockerten die kompakten Holzkörper auf. Die freien Flächen der Wände waren mit dicken Tapeten beklebt, denen großformatige stilisierte Blumen und Pflanzen und schmale Goldstreifen als Muster aufgedruckt waren. Im Motiv dazu passend, waren die Matratzen mit eigenhändig genähtem dickem Stoff überzogen. Über dem Esstisch hing eine große Kugelleuchte aus dünnem durchscheinendem Papier. Für die Fenster hatte Sonja einfarbige Vorhänge und dünne Stores genäht. Ulrich hatte die Gardinenleiste mit T-Laufschiene gebastelt.
Noch während des Tischdeckens mit dem Weinlaubgeschirr begann Sonja über den Elternabend zu berichten:
Die Eltern würden ungenügend auf ihre Sprösslinge einwirken. In der Kaufhalle hätten vier Mädchen Waren entwendet und sie ohne zu zahlen an der Kasse vorbei manipuliert. Sie seien geschnappt worden.
Sie fragte, ob Katja auch dabei gewesen sei.
Kleinlaut antwortete sie, es sei eine Mutprobe gewesen. Sie habe es versucht, dann aber schnell die Sachen wieder in einem Regal abgelegt.
„Die Lehrerin forderte von mir, auf dich, Katja, besser staatsbürgerlich einzuwirken. Du würdest während der Pausen West-Parfüm verteilen und andere Mädchen mit West-Lippenstift anmalen. Woher hast du das Zeug?“
„Die Chris hat es mir gegeben. Bei uns gibt es nichts Modernes. Alle Mädchen wollten was abhaben.“
Im Park habe die Streife einige Mädchen und Jungen beim Rauchen ertappt, fuhr Sonja in ihrer Berichterstattung streng fort. Andere seien nach zehn Uhr abends im Kino gewesen. Lauter solche Beschwerden. Das nächste Mal solle sich Ulrich dies anhören.
Nach einiger Zeit hatte sich Sonja beruhigt. Ihre braunen Augen leuchteten wieder. Ihre Gesichtszüge glätteten sich, ein schmales Lächeln um ihren Mund kehrte zurück. Ihr markantes gewinnendes Lächeln wirkte stets Vertrauen erweckend. Ulrich liebte diesen Gesichtsausdruck, er fand ihn bezaubernd.
„Katja meinte vorhin, wir wohnten jämmerlich bescheiden, armselig, einfallslos und primitiv“, sagte nun Ulrich.
„Naja, ich war bei der Chris, da ist alles nobel, glänzend, funkelnd“, sagte Katja.
„Ja, Katja, die Artikel in unseren Geschäften sind zuerst praktisch und glänzen meist nicht“, sagte Sonja.
„Ihr versteht mich nicht, bei uns ist alles uniformiert. Wenn ich zu den anderen Mädchen im Plattenbau komme, stehen überall Sofa, Fernseher, Schrankwand und so weiter nicht nur an der gleichen Stelle, die sehen auch alle ähnlich aus, gleiche Form, gleiche Herstellungsart, meist mit Folie…eben eintönig, stinklangweilig, öde, billig. Auch so gleichförmig, eben wie es überall in der Gesellschaft ist. Gern schaue ich mir die West-Journale von der Grit oder der Chris an, da sieht man gute Einrichtungsbeispiele, eben Innenarchitektur.“
„Ja, bei uns müssen Grundbedürfnisse zum Wohnen befriedigt werden“, sagte Ulrich.
„Zusätzliche Forderungen wie abwechslungsreiches Material, ansprechende Farbgebung, gekonnte Gestaltung, gutes Design und Schönheit sind nicht im Plan der Industrie, aber etwas bunter könnte es bei uns schon sein“, wandte Sonja etwas aufgebracht ein.
Nun verkündete Ulrich, dass in wenigen Wochen ein Betriebsfest im Kulturpalast geplant sei.
Sonja sinnierte, zu solchen feierlichen Veranstaltungen möchte sie etwas Neues, Besonderes, Modisch-Elegantes tragen.
Sie sprang auf, eilte zum Kleiderschrank gegenüber, öffnete, zog verschiedene Kleider vom Bügel, das Getupfte, die beiden Gestreiften, das Gelbe, Grüne und weitere:
„Ach, was zieh ich dann an? Alle Sachen schon mal vorgeführt“, dabei hielt sie die Kleider an den Körper und drehte sich zur Raummitte.
Ulrich Thalheim ging es durch den Kopf, nach Umfragen sollen die meisten Männer am gewohnten Kleidungsstück hängen, viele zögen es vor, einen ganz bestimmten Anzug wieder anzuziehen. Anders die Frauen, sie liebten die Abwechslung, die wechselnden Farben, die wechselnde Art der Kleidung. Immer möchten sie etwas Neues, chic soll es sein und im Trend liegen. Als er seine Frau hantierend am Schrank betrachtete, philosophierte er in Gedanken, ob es ein Evolutionseinfluss oder die Einwirkung der Gesellschaft war, dass sich die Frauen immer etwas auffallend, farbenfreudig, abwechslungsreich, eben stärker modisch anzögen als die männlichen Teile der Gesellschaft. Im Tierreich gäbe es doch so viele Beispiele, bei denen die Männchen die schönsten buntesten Kleider hätten und die Weibchen die Grauen seien. Ob es wohl zu Beginn des 20. Jahrhundert einfacher war, als sich namhafte Künstler um ein weitestgehend zeitloses Reformkleid bemühten? ... Aber wir wüssten ja, dass sich solche Bestrebungen nicht durchsetzten - die Mode, der Zeitgeschmack, die Gepflogenheiten änderten sich stetig und hätten ihren Einfluss auf die Kleidung.
„Gleich morgen suche ich in den Geschäften nach einem aparten Kleidchen, so gewisse Vorstellungen habe ich schon. Katja, du hast morgen zeitig Schulschluss, ich würde mich freuen, wenn du mit kämest. Du hast so einen besonderen Blick fürs Schöne, du könntest mich beraten.“
Am folgenden Tag durchsuchten Sonja und Katja mehrere Konfektionsgeschäfte in der Altstadt und Neustadt nach einem schicken Kleid. Selbst das Exquisit-Geschäft Chic konnte seinem Namen nicht gerecht werden, nichts mit chic – überall nur langweilige, uniforme Konsum-Ware.
„Stets die gleichen Farben, der gleiche Universal-Schnitt – sicherlich wird bald ganz Dresden in den gleichen Klamotten ´rumlaufen – an jeder Ecke wird man glauben, sein Ebenbild zu sehen”, sprudelte es aus Katja heraus, als beide zuhause berichteten.
„Ihr habt doch prall gefüllte Einkaufsbeutel in der Hand”, sagte Ulrich.
„Ja, wenn schon kein Kleid, dann wenigsten Wurstwaren aus dem Delikat. Auserlesen fein, lecker, eben delikat”, sagte Sonja.
„Bei uns muss keiner hungern und frieren”, spöttelte Ulrich.
Es klingelte an der Wohnungstür. Ulrich öffnete:
„Ach, die Frau Nachbarin. Gundula komm‘ herein. Wir debattieren gerade über Mode und Kleidung bei uns im Land.“
„Und wie seid ihr auf das Problem gekommen“, fragte Gundula.
„Sonja sucht ein neues, modisches Kleid, das man nicht zigfach auf der Straße wieder sieht.“
„Es sollte 'was Individuelles sein, ich habe die Geschäfte abgeklappert. Kleider aus synthetischem Präsent 20 haben sie mir gezeigt. Alles gleicher Schnitt, unterschiedslos, nichts zum Ausgehen. Ja schön bunt, aber dieses Chemiefaser-Gewirk lädt sich auf, haftet dann an den Beinen und…man schwitzt darin.“
„Ja, ja, ich weiß schon, Menge und Planvorgaben stehen im Vordergrund, Kleidung wird als Gebrauchsgegenstand gesehen, Ästhetik wird kaum beachtet“, sagte Gundula.
Die großen Betriebe produzierten nur uniformierte Kleider. Alles sei langweilig, eintönig, eben Einheitslook, alles nach einer Vorlage, da brauchten sie wenige Entwürfe, so würde es billig, empörte sich Sonja.
„Für die konsumbedürftige Bevölkerung wird es reichen. Unsere werktätigen Frauen sollen sich auf Arbeit und daheim zweckmäßig kleiden und nicht elitär, nicht herausgehoben“, sagte ketzerisch Ulrich.
„Also nicht modisch?“, fragte Sonja.
„Schon der große Führer Mao wollte in China Missgunst zwischen den Menschen unterbinden“, setzte Ulrich dozierend fort.
Ulrich bot allen Wasser an, trank einige Schlucke und setzte spitz fort.
„Nun, Mode hat mit Auserlesenem zu tun – das widerspricht aber dem Konformismus im Lande, alle sollen ein angepasstes Verhalten in der Gesellschaft zeigen“, setzte spitz Ulrich fort.
„Aber Ulrich, du lockst ja heute den bissigen Stachel“, sagte Gundula.
„Ich verteidige meine Meinung, Kleidung soll nicht nur den Körper bedecken und vor Außenwelteinflüssen schützen. Mit der Kleidung wollen wir Frauen auch eine ästhetische Aussage treffen,...ein Lebensgefühl ausdrücken…eine Stimmung vermitteln“, sagte Sonja energisch.
„Genau, nachvollziehbar. Als Frau will man sich von anderen unterscheiden, man will sich von anderen absetzen“, sagte Gundula.
„Ihr Frauen wollt euch von der Masse abheben, ihr möchtet euch abgrenzen - individuelle, seltene Sachen tragen?“, bohrte Ulrich mit einem Unterton.
„Genau, ich will mit einem modischen Kleid meine Persönlichkeit unterstreichen. Verlange ich da zu viel?“, erregte sich Sonja.
„Aber der Haken ist doch – so etwas geht nicht in die Köpfe der überalterten Obrigkeit rein“, stellte Gundula fest, „das passt nicht in das begrenzte Weltbild dieser Obrigkeit. Das ist nicht mit dem Kollektivismus zu vereinbaren. Individuelle Interessen werden als bürgerlich abgetan und gelten als egoistisch.“
„Hat es nun Mao in China mit der Einheitskleidung richtig gemacht? Westliche Anzüge und moderne Frauenkleider wurden als bürgerlich gebrandmarkt. So kam es zum normierten blauen Mao-Anzug für die Männer. Das ist wohl auch nicht erstrebenswert?“, fragte rhetorisch Ulrich.
„Bei unseren sogenannten Freunden in der Sojus tragen die Schüler Schuluniformen”, sagte Gundula.
„In der von privatem Unternehmertum befreiten Gesellschaft soll es also keinen Neid geben, damit niemand den anderen ausstechen kann“, sagte Ulrich etwas spöttisch.
„Und der Einzelne mit seinen persönlichen Interessen soll sich den gesellschaftlichen Verhältnissen unterordnen und in diesen entwickeln? Hab ich richtig interpretiert?“, fragte Gundula.
„Wo bleibt da die Individualität?“, stellte Sonja die Frage.
„Aber in der Modezeitschrift Sibylle sieht man doch so schöne Kleider“, mischte sich Katja ein.
„Das mag schon sein, aber diese Kleider gibt es nicht zu kaufen, sie werden nicht produziert“, erwiderte Ulrich.
„Ich werde mir meine Kleider selbst nähen, da kann ich selbst modisch gestalten, Schnittmuster kann man kaufen“, meinte Katja.
„Eigentlich gibt es in unserer verkrusteten Textilindustrie keine Mode, es mangelt an Stoffen, an Ideen,…internationale Trends werden nicht umgesetzt“, stellte Ulrich fest, „und ich habe gehört, jeder Modevorschlag muss in der Frauenkommission der obersten Leitung begutachtet werden.“
„Es macht Spaß, mit euch zu debattieren“, stellte Gundula fest, „aber nun will ich meinen Kuchen backen. Könnt ihr mir mit drei Eiern aushelfen?“
„Aber natürlich“, und Sonja ging zum Kühlschrank.
Alle verabschiedeten sich.
Sonja ging es durch den Kopf, wie sie zu einem modischen Kleid käme?