Читать книгу Das Römische Reich von Tiberius bis Nero - Babett Edelmann-Singer - Страница 10
I. Einleitung
ОглавлениеEin heuchlerischer Tyrann, ein irrwitziger Jüngling mit Hang zu sadistischem Humor, ein physisch beeinträchtigter Wirrkopf, fremdgesteuert von raffgierigen ehemaligen Sklaven und nymphomanen Ehefrauen, am Ende ein Pseudokünstler mit Hang zur Megalomanie – so werden die Nachfolger des Augustus in unseren wichtigsten literarischen Quellen dargestellt. Tacitus, Sueton und Cassius Dio verfolgen zwar unterschiedliche Intentionen in ihren Werken, Einigkeit herrscht allerdings darin, dass diese vier Herrscher letztlich in den entscheidenden Herrscherqualitäten versagten. Zwar werden zumindest Tiberius und Claudius an der einen oder anderen Stelle positive Entwicklungsschübe für das Reich bescheinigt, auch den Anfängen des Caligula und des Nero konzedieren die genannten Autoren durchaus hoffnungsvolle Tendenzen, aus der Sicht der senatorisch geprägten Geschichtsschreibung und der antiken Biographie wurden aber letztlich doch alle vier Kaiser als Fehlgriffe verstanden. Das Versagen ist dabei immer ein persönliches, und der Maßstab richtiger Herrschaft liegt stets in einer imaginierten Vergangenheit, in der der mos maiorum (die Sitte der Vorfahren) die Geschicke Roms lenkte.
Betrachtet man aber das Reich und seine Entwicklung im Ganzen, erweist sich die Zeit zwischen 14 und 68 n. Chr. als eine der stabilsten und sichersten in der römischen Geschichte bis dahin. Wir sehen eine florierende und expandierende Wirtschaft, Innovationen, beispielsweise in Architektur, Baupolitik oder Schifffahrtstechnik. Wir sehen Wohlstand auch an den Rändern des Imperiums. Wir sehen Provinzen, die sich die römische Kultur zu eigen machen, ohne die eigene aufzugeben, wir sehen eine Elite, die sich am Exemplum der Kaiser und ihrer Familienmitglieder ausrichtet. Betrachtet man zugleich das Bild der Herrscher in jenen Quellen, die neben der Geschichtsschreibung und der Biographie auf uns gekommen sind, dann sehen wir vier Herrscher, die in relativ ähnlicher Weise von der Bevölkerung des gesamten Reiches verehrt wurden, deren Konterfei nicht nur die Reichsmünzen, sondern auch die lokale Münzprägung zierte, die selbst genauso wie ihre Familien mit zahllosen Statuen geehrt und in Inschriften gepriesen wurden.
Wie aber fügt man diese so unterschiedlichen Bilder zusammen? Lange hat auch die Forschung die Kaiser der julisch-claudischen Dynastie in den Schatten des Augustus gestellt und als mehr oder weniger erfolglose Epigonen wahrgenommen, die letztlich durch politisches oder persönliches Versagen den Fußspuren, die der Dynastiegründer hinterlassen hatte, nicht gerecht werden konnten. Jene vier Kaiser aus dem Haus der Julier und Claudier, die dem Augustus nachfolgten, wurden in der althistorischen Literatur unter Überschriften wie „Die Nachfolger des Augustus – Tiberius bis Nero“ oder „The Augustan Empire BC 43–AD 69“ abgehandelt. Sie alle erlitten das unglückliche Schicksal, nicht Augustus zu sein. Dabei stand eine oft dezidiert biographisch-psychologische Sichtweise im Vordergrund, die strukturelle Gegebenheiten des Reiches vernachlässigte und entsprechend die Erfolge der julisch-claudischen Kaiser zu wenig zur Kenntnis nahm. Der an den literarischen Quellen ausgerichtete Blick auf die Persönlichkeiten der Kaiser führte allzu leicht dazu, ihr vermeintliches Versagen als historische Wahrheit weiterzuschreiben.
Worin aber liegt ihr Versagen und ist es überhaupt eines, das den Protagonisten angelastet werden kann? Völlig zu Recht hat Karl Christ in seiner „Geschichte der römischen Kaiserzeit“ die Zeit des Tiberius als „Konsolidierung des Prinzipats“ beschrieben. Denn so schwierig es war, an die Stelle der faktisch in den Bürgerkriegen untergegangenen Republik ein neues politisches System zu setzen, um wie viel schwieriger musste es sein, dieses System nun zu stabilisieren? Augustus’ Regentschaft, die bald ein halbes Jahrhundert währte, war für die Nachfolger Segen und Fluch zugleich. Seine politischen Weichenstellungen und die Zugehörigkeit zu seiner Familie waren einerseits die Garantie ihrer Herrschaft. Auf der anderen Seite hatte Augustus mit dem Prinzipat ein ganz auf seine Person zugeschnittenes politisches und gesellschaftliches Gebilde geschaffen, das politisch-konzeptionell allerdings auf der Basis der römischen Republik aufbaute und seine Wertvorstellungen aus republikanischer Tradition speiste. Dementsprechend war die Zeit des frühen Prinzipats von der Paradoxie einer Gleichzeitigkeit traditioneller aristokratischer Verhaltenserwartungen und einer faktisch existierenden Monarchie geprägt. Augustus selbst hatte in seinem Tatenbericht geschrieben, der neue Staat beruhe zu einem großen Teil auf seiner auctoritas, der persönlichen Autorität. Damit führte er einen Parameter in den politischen Legitimationsdiskurs ein, der den Prinzipat aus der Summe rechtlicher Kompetenzen heraushob, die er vorgeblich war. Für die Nachfolger musste dieser Parameter persönlicher auctoritas das Maß ihrer Erfolge oder das Urteilskriterium ihrer Misserfolge werden.
Man würde Tiberius, Caligula, Claudius und Nero und der Zeit, die sie prägten, nicht gerecht, stellte man sie nur in den Schatten des ersten Prinzeps. Die lange akzeptierte, heute aber zunehmend in Frage gestellte kritische Meinung über die Epoche zwischen 14 und 68 n. Chr. geht in erster Linie auf jene Informationen zurück, die antike Geschichtsschreiber, Biographen und Literaten liefern. Sie sind es, die das Bild eines Niedergangs prägten. Aber gerade diese Autoren sind es auch, die aus verschiedensten Gründen ein vitales Interesse daran hatten, die julisch-claudischen Herrscher in ein schlechtes Licht zu rücken. Bevor man sich also den Ereignissen und ihrer Beurteilung zuwenden kann, muss man nach den Quellen und den Motiven jener antiken Autoren fragen, auf denen diese Informationen beruhen. Gleichzeitig muss man danach fragen, welche Quellen helfen können, dieses Bild zu relativieren.