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4. „Ich halte einen Wolf an den Ohren“ – Die entscheidende Senatssitzung nach dem Tod des Augustus

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Der Senat begann nun in einer denkwürdigen Debatte mit den Beratungen, wie nach dem Tod, der Bestattung und Konsekration des Augustus die Herrschaft weiter ausgeübt werden sollte. Staatsrechtlich besaß Tiberius mit der tribunicia potestas und dem imperium proconsulare maius die zentralen Kompetenzen, privatrechtlich hatte Augustus durch die Adoption und die Einsetzung als Haupterbe im Testament alle wesentlichen Voraussetzungen geschaffen, um einen reibungslosen ersten Herrscherwechsel zu garantieren – und dennoch ist uns bei Sueton die Aussage des Tiberius überliefert, „er halte einen Wolf an den Ohren“ (Suet. Tib. 25). Schenkt man dieser Aussage Glauben, so sah sich Tiberius im September 14 n. Chr. also einer kaum beherrschbaren Situation gegenüber. Eine Erklärung dafür mag in der Grundkonzeption des Prinzipats zu suchen sein. Diese verfassungsrechtlich so schwierige Stellung begründete sich nämlich gerade nicht nur in staatsrechtlich klar umrissenen Kompetenzen, sondern war aufs engste mit der auctoritas des Augustus verbunden. Der erste Prinzeps selbst hatte in seinen res gestae die zwei Säulen benannt, auf denen das von ihm geschaffene Herrschaftssystem beruhte: potestas und auctoritas.

Quelle

Die auctoritas des Augustus (Aug. res gestae 34)

In meinem sechsten und siebten Konsulat habe ich, nachdem ich die Flammen der Bürgerkriege gelöscht hatte und mit der einmütigen Zustimmung der gesamten Bevölkerung in den Besitz der staatlichen Allgewalt gelangt war, das Gemeinwesen aus meiner Machtbefugnis wieder der Ermessensfreiheit des Senats und des römischen Volkes überantwortet. […] Seit dieser Zeit überragte ich alle übrigen an auctoritas, an Amtsgewalt (potestas) aber besaß ich nicht mehr als die anderen, die auch ich im Amt zu Kollegen hatte.

(Übersetzung K. Bringmann/D. Wiegandt)

Die auctoritas des Prinzeps beschreibt seine über die staatsrechtlich fassbaren Kompetenzen der potestas hinausgehende legitimatorische Basis. Sie lässt sich nicht klar definieren, umfasst aber unter anderem den Augustus-Namen, seine Stellung als Vater des Vaterlandes (pater patriae), die Anhäufung sakraler Ämter (u.a. pontifex maximus), die göttliche Abstammung der julischen Familie (Venus und Mars), seine Gottessohnschaft (divi filius), die Verehrung augusteischer Abstraktionen (pax Augusta, genius Augusti) oder auch die propagierte enge Verbindung zu bestimmten Göttern wie Apoll.

Die Debatte, die sich nun im Senat nach der Verlesung des Testaments um die Frage der Nachfolge entspann, muss immer unter der Prämisse betrachtet werden, dass alle beteiligten Personen und Gruppen genau wussten, dass sie nur diese Chance hatten, die Rahmenbedingungen für die nächsten Jahre festzulegen und Fehlentwicklungen des augusteischen Prinzipats zu korrigieren. Viele Historiker beschreiben die Diskussion um die Nachfolge durch Tiberius als Scheindebatte, die lediglich den Zweck hatte, die Fassade einer nach außen hin wiederhergestellten Republik zu wahren. Denn – so die Argumentation – man konnte schlecht eine Herrschaft übertragen, deren wichtigste Bestandteile bereits an Tiberius verliehen worden waren. Diese Ansicht geht zurück auf Tacitus, die Hauptquelle dieser Ereignisse. Diese Erklärung ist aber zu einseitig und greift zu kurz.

Das Zögern des Tiberius

Sieht man sich die Debatte genauer an, ergibt sich folgendes Bild: Tiberius zögerte und ließ sich bitten. Er hatte bereits bei der Verlesung der augusteischen libelli aus physischen oder psychischen Gründen – die von den Autoren als vorgeschoben gegeißelt werden – abbrechen müssen und seinen Sohn Drusus gebeten weiterzulesen. Nun setzte er diese Strategie fort und erklärte auf die Bitten der Senatoren, „er sei zwar der Gesamtleitung des Staates nicht gewachsen, werde aber für jeden Teil, den man ihm übertrage, die Betreuung übernehmen“ (Tac. Ann. 1, 12, 1). Er lehnte also die Alleinherrschaft ab und beabsichtigte angeblich, die Herrschaft über das Reich zu teilen. Tacitus und Sueton werfen ihm reines Taktieren vor, da er ja bereits unmittelbar nach dem Tod des Augustus die Prätorianer und Legionen des Reiches auf sich eingeschworen hatte, die Amtsgewalten seit Jahren besaß und per Testament auch der Privaterbe des Augustus geworden war – kurz, de facto sei er bereits Alleinherrscher gewesen. Warum also spielte er dieses Schauspiel? Bösartigkeit und Heuchelei als Motiv lesen wir bei Tacitus. Angst und Furcht vor dem „Wolf, den er an den Ohren halte“, mischen sich bei Sueton und Cassius Dio in die Beschreibung, auch wenn sie die Charakterschwäche des Tiberius als Hauptgrund sehen. Bei Velleius wird das Zögern des Tiberius anders dargestellt: Zunächst schildert Velleius ausführlich die Stimmung nach dem Ableben des Augustus, die auf dem schmalen Grat zwischen Heil und Verderben stand. Man erwartete Auseinandersetzungen, ja den Zusammenbruch der Welt, aber es blieb – dank Tiberius – ruhig.

Quelle

Velleius Paterculus zur Senatssitzung (Vell. 2, 124, 2)

Nur einen Kampf – wenn man einmal so sagen will – gab es in der Bürgerschaft: Senat und Volk kämpften nämlich mit Tiberius Caesar, dass er die Stellung seines Vaters übernehme. Er aber kämpfte darum, eher die Rolle eines Bürgers unter Bürgern als die des herausragenden ersten Mannes spielen zu dürfen. Endlich wurde er, mehr durch Vernunftgründe als durch die ihm angetragene Ehrenstellung, besiegt: Er sah nämlich ein, dass alles untergehen werde, wenn er es nicht unter seinen Schutz nähme. (Übersetzung M. Giebel)

Der Zeitzeuge Velleius Paterculus scheint die Lage treffender zu beschreiben als Tacitus oder Sueton. Keinesfalls darf außer Acht gelassen werden, dass im September 14 n. Chr. zum ersten Mal eine Übertragung der Prinzipatsherrschaft vollzogen wurde. Der erste Prinzeps hatte mit seiner Person den Prinzipat verkörpert. Das Urteil des Tacitus, es sei dem Tiberius um eine völlige Unterwerfung des Senats gegangen, scheint übertrieben und der tiberiusfeindlichen Tradition entsprungen. Auch die Angst vor den meuternden Truppen oder dem Konkurrenten Germanicus scheint kein hinreichendes Motiv für das Handeln des Tiberius zu sein.

Gründe für Tiberius’ Handeln

Tiberius’ Zögern lässt sich dennoch rational erklären: Ihm musste daran gelegen sein, von den Senatoren ein klares Bekenntnis zu erhalten, dass sie seine von Augustus verliehenen Kompetenzen und Ehrungen anerkannten, dass sie auch seine auctoritas respektierten. Ähnlich dem Staatsakt vom Januar 27 v. Chr., als Augustus seine Sonderstellung vom Senat dekretiert wurde, musste es Tiberius darum gehen, vom wichtigsten politischen Organ Anerkennung für seine Position zu erhalten. Die Idee, dies ganz nach dem Muster des Augustus zu tun, der am 13. Januar 27 v. Chr. vorgab, die res publica in die Hände des Senats zurückzulegen, um dann von eben diesem Gremium quasi mit der Herrschaft beauftragt zu werden, war aber insofern unklug, als Tiberius’ Ausgangssituation eine gänzlich andere war. Das Ritual der Zurückweisung der Herrschaft (recusatio imperii) war von vornherein auf einer anderen Basis angesiedelt. Denn zum einen hätte Tiberius seine Kompetenzen (tribunicia potestas und imperium proconsulare) zurückgeben müssen, um sie dann erneut vom Senat übertragen zu bekommen – dies wäre ein heikles Spiel gewesen. Zum anderen war durch die testamentarische Verfügung des Augustus, sowohl Tiberius als auch Livia den Augustus-Namen zu übertragen, eine Wiederholung des Erhebungsrituals von 27 v. Chr. ausgeschlossen. Insofern war das Empfinden der Senatoren nicht unberechtigt. Konnte man den Staatsakt von 27 v. Chr. noch als tatsächlichen Machtübertragungsakt verstehen, war dies 14 n. Chr. beim besten Willen nicht möglich. „Andere Menschen täten, was sie versprochen hätten, spät, er selbst aber verspreche nur spät, was er bereits tue.“ (Suet. Tib. 24,1) So lautete der Vorwurf eines der Senatoren in der Senatssitzung. Die Senatoren fühlten sich zu Recht in ihrer Würde und in der Würde ihrer Institution verletzt und degradiert.

Kritik an der Inszenierung der Machtübertragung

Man kann argumentieren, es sei dem Tiberius tatsächlich auch darum gegangen, den Senat einzubinden und ihm zumindest einen Teil der Verantwortung an der Regierung wieder zu übertragen. Dafür sprechen erste Regierungsmaßnahmen des Tiberius, die die Magistratswahlen aus der Volksversammlung an den Senat übertrugen. Tiberius stand schon aufgrund seiner familiären Herkunft aus dem Haus der Claudier in einer stark republikanischen Tradition. In dieser Hinsicht unterschied er sich von Augustus, der diese Dinge als ursprünglich von außen kommender Aufsteiger sehr pragmatisch gehandhabt hatte. Was man dem Tiberius vorwerfen kann und muss, ist, dass er dabei übersah oder übersehen wollte, dass der Senat ihm aufgrund der würdelosen Inszenierung der Machtübertragung keinen Glauben schenken konnte. Er vergaß aber auch, dass er rechtlich, sozial und familiär eine Stellung besaß, die es keinem anderen Organ wirklich erlaubt hätte, neben ihm gleichberechtigt zu existieren und zu agieren. Jeder Akt des Entgegenkommens war ein willkürlicher, der jederzeit von Tiberius aufgrund seiner Vollmachten und Befehlsgewalten hätte widerrufen werden können. Ähnlich dem Philosophen Favorinus, der Kaiser Hadrian in einer Diskussion mit dem Argument nachgab, er erkenne denjenigen als Gelehrtesten an, der 30 Legionen befehlige (SHA Hadr. 15, 12–13), erkannten die Senatoren, dass dieses Angebot des Tiberius – selbst wenn er es ernst meinte – kein echtes Angebot zur Mitherrschaft sein konnte.

In dem Moment, in dem Tiberius nach dem Tod des Augustus die Prätorianer und die Legionen im Reich auf seinen Namen vereidigt hatte, in dem die Konsekration des Augustus vollzogen und er divi filius war, in dem er den Augustus-Namen und das Testament mit dem Erbe und den Legaten akzeptiert hatte, gab es kein Zurück mehr zu einer wie auch immer gearteten Mitoder Teilregentschaft des Senats. Sollte Tiberius das nicht erkannt haben? Er scheint in diesem Punkt einem republikanischen Trugschluss erlegen zu sein. Er wollte ein Senatskaiser sein und öffnete daher nach seinem Verständnis den goldenen Käfig, um den Senatoren die Freiheit zu schenken. Sie aber wollten und konnten nicht frei sein. Das verübelte er ihnen und agierte in der Folge in vielen Situationen wie ein Autokrat. Damit rechtfertigte er im Nachhinein die Reaktion der Senatoren auf sein Ansinnen, sie an der Macht zu beteiligen. Am 17. September 14 n. Chr. begann das problematische Verhältnis des Tiberius zum Senat.

Das Römische Reich von Tiberius bis Nero

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